Grenzüberschreitungen oder Die Zeitund die Ewigkeit

Wie fühlt es sich an, „wenn das Hörbare und das Unhörbare, das Ferne und das Nahe, das Innere und das Äußere, das Tote und das Lebendige gleichzeitig da wären, keines wäre über dem anderen, und dieser Augenblick, in dem alles gleichzeitig da wäre, würde ewig dauern.“ Dann wäre wahrscheinlich „Aller Tage Abend“, so wie es der Titel von Jenny Erpenbecks neuem Roman verkündet. Die Berliner Autorin hat nach ihrem 2009 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Roman „Heimsuchung“ erneut ein literarisches Achtungszeichen gesetzt. Dieses Mal untersucht sie die unzähligen Möglichkeiten eines Lebens. Momente und Verzweigungen, in denen es sich in diese oder aber in eine ganz andere Richtung entwickeln kann. Zufälle bestimmen dabei den Fortgang der Entwicklung. Am Ende steht jedoch immer der Tod. Oder vielleicht doch nicht…?
In fünf Kapiteln, die durch sogenannte Intermezzi getrennt sind und auch in ihrer literarischen Erzählform völlig eigenständig agieren, verlängert Erpenbeck das Schicksal eines Mädchens fünf Mal jeweils um einige Jahre. 90 werden es letztendlich sein, die sie von 1902 bis ins Nachwendejahr 1992 vor dem Leser aufrollt. So wird aus dem plötzlichen verstorbenen kleinen Mädchen, doch noch ein hübscher Teenager im kargen Nachkriegs-Wien. Und auch dessen Selbstmord entspringt nur einer literarischen Fiktion, so dass die junge Frau ihre politischen Aktivitäten ins bolschewistische Russland verlagern kann. Doch dort kann schon mal das sibirische Straflager folgen. Aber vielleicht kommt alles ganz anders und sie zu schriftstellerischen Ehren in der DDR. Oder… Vielleicht…
„Kehrt die Zeit, wenn sie den Weg nach vorn verfehlt hat, einfach um und geht wieder rückwärts?“ Oder ist sie tatsächlich „wie ein Dornenstrauch, der sich in Wolle verfangen hat, den man mit aller Gewalt herausreißt und hinter sich wirft.“ Eines wird bei Jenny Erpenbeckjedenfalls klar: „Am Abend eines Tages, an dem gestorben wurde, ist längst noch nicht aller Tage Abend.“ Denn ihre Personen „sind zum Zurückbleiben bestimmt, manche zum Gehen, zum Ankommen die dritten.“ Die Autorin spielt erneut faszinierend mit Unsichtbarkeiten und Grenzüberschreitungen. Zeit ist bei ihr relativ. Lebensgrenzen werden beweglich, verschieben sich unmerklich. Alles hängt mit allem zusammen. Wie Stege baut sie dabei die Sitten der Menschen zum Teil ins Unmenschliche hinein. Ihre Protagonisten brauchen zuweilen nur kurze Zeit um sich ihr Alltagsgewand über- oder abzustreifen, „um irgendetwas aus einem anderen Leben (…) zu Ende zu bringen“ und hernach bald schon wieder „dahin zurückkehren, woher sie kamen“. Dass sie den abgelebten Alltag mitunter noch einmal einstürzen sehen, ist unkalkulierbares Risiko.
„Aller Tage Abend“ entpuppt sich als anspruchsvoller Text, der viele Fragen aufwirft. „Zeugt es von Feigheit, wenn man sein eigenes Leben verlässt, oder von Charakter, wenn man die Kraft hat, neu zu beginnen?“ „Wie viele (…) Fronten gab es in einem Leben, die einem das Leben kosten konnten?“ Gibt es Momente, in denen man mit sich selbst vergleichbar ist? „Bildet vielleicht die Summe all dessen, was irgendwann einmal irgendwo auf der Welt gesagt wurde und wird, ein lebendiges Ganzes, das nur manchmal nach dieser, manchmal nach der anderen Seite Auswüchse hat, am Ende aber sich wieder ausgleicht?“ Und ist vielleicht mitten unter den Menschen das Rätsel des Lebens versteckt?
Erpenbecks „Aufenthaltsraum voll unerzählter Geschichten“ erzeugt eine permanente Sogwirkung, eine starke innere Spannung, der sich zu entziehen kaum möglich ist. Nur angedeutet und hingetupft, verdichtet sie ihren Stoff zu fast tiefenpsychologischer Dramatik. Ihre Einzelschicksale stapelt sie neben- und übereinander, verknüpft, dröselt auf und webt wieder zusammen. So lässt sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beinahe gleichzeitig existieren. Nur der Wechsel der Sprach- und Stilebenen markiert das Vergehen der Zeit. Der Text der Autorin entspringt als ein Versuch, Grenzen sichtbar zu machen, „an der Worte aus Luft und Worte aus Tinte sich in etwas Wirkliches verwandeln, ebenso wirklich werden wie eine Tüte Mehl…“ Jenny Erpenbeck lotet Entwicklungen von Menschen der verschiedensten Art aus. Die erfolgreiche sozialistische Schriftstellerin, die sie in einem ihrer Kapitel „porträtiert“, fasst den Tenor des Buches treffend in Worte: „Vielleicht gelingt es ihr, sich mit dem Schreiben eine Rettung zu schreiben, und den Lauf ihres Lebens, durch ein paar Buchstaben mehr oder weniger, zu verlängern oder wenigstens zu erleichtern, auf nichts anderes kann sie hoffen, als darauf, sich durchs Schreiben ins Leben zurückzuschreiben. Aber was sind die richtigen Worte?“ Vielleicht sind es die von Jenny Erpenbeck. Ihr Roman wurde auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2012 gesetzt.

„Ich habe geträumt, dass ich geträumt habe.
Und auf einmal war es kein Traum mehr.“

Jenny Erpenbeck
Aller Tage Abend
Knaus-Verlag, München (2012)
288 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3813503690
ISBN-13: 978- 3813503692
Preis: 19,99 EURO

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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