Ein Jahr am Südhang der Geschichte oder doch nur im Zeichen der Unglückszahl?

„Das Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten“. Waren die Herausgeber Visionäre, als sie dieses Schiller-Zitat aus dem Wilhelm Tell für ihren „Drogisten-Taschen-Kalenders 1913“ auswählten? Die Angst, dass sich dieses Jahr gar als Unglücksjahr erweisen sollte, sitzt jedenfalls einigen Zeitgenossen mächtig im Nacken. „Gabriele D'Annunzio schenkt einem Freund sein 'Martyrium des Heiligen Sebastian' und datiert es in der Widmung lieber vorsorglich als '1912 + 1'.“, findet Florian Illies heraus. Für Arnold Schönberg, der nicht ohne Grund die „Zwölf-Ton-Musik“ erfand, ist es gar ein Martyrium. In seinen Stücken wird man die Zahl 13 vermissen. Sie kommt nicht als Takt vor und auch kaum in den Seitenzahlen. Als er voller Entsetzen bemerkt, dass der Titel seiner Oper „Moses und Aaron“ 13 Buchstaben haben würde, strich er dem älteren der beiden Brüder einfach ein „a“ aus seinem Namen. Seitdem heißt sie halt „Moses und Aron“. Eines konnte Schönberg allerdings nicht zu seinen Gunsten beeinflussen. War er schon an einem 13. September geboren, so trieb ihn die panische Angst um, an einem Freitag, dem 13. zu sterben. „Aber es half alles nichts. Arnold Schönberg starb an einem Freitag, dem 13. (allerdings erst 1913 + 38, also 1951). Doch auch 1913 wird für ihn noch eine schöne Überraschung bereithalten. Er wird öffentlich geohrfeigt.“, stellt Illies lakonisch fest.
Monatsweise entfaltet der ehemalige Ressortleiter der „Zeit“, Mitbegründer und Herausgeber der Kunstzeitschrift „Monopol“ und heutiger Partner des Berliner Auktionshauses „Villa Griesebach“ ein virtuoses Panorama dieses wohl unvergleichlichen Jahres, in welchem nicht nur Da Vincis aus dem Louvre gestohlene Mona Lisa wiedergefunden wird, sondern auch zwei Nationalmythen begründet werden: In New York erscheint die erste Ausgabe der „Vanity Fair“. In Essen eröffnet die Mutter von Karl und Theo Albrecht den Prototyp des ersten Aldi-Supermarkts. Wenn das nicht aufhorchen lässt! Mit Witz, Charme, interessantem Hintergrundwissen, Kenntnis und Virtuosität gelingt Illies ein faszinierender Rundblick, so dass man sich beinahe physisch in die Zeit vor bald 100 Jahren zurückversetzt erlebt. Als Vergleich dürfen hier vielleicht die monumentalen 360-Grad-Panoramen des alten Roms oder Dresdens im Jahr 1756 des Künstlers Yadegar Asisi herangezogen werden, die er in den ehemaligen Gaspanometern in Leipzig und Dresden zur Schau stellt(e).

Es ist fürwahr ein völlig überdrehtes Jahr. Es wimmelt nur so vor expressionistischer Kunst und Künstlern. So fühlt man in der Berliner Humboldtstraße 13 mit der liebessüchtigen, aber lebensuntüchtigen Else Lasker-Schüler als sie dem Pathologen Gottfried Benn verfällt und aus dieser kurzen Liason einige der schönsten Zeilen dieser beiden Lyriker entstehen lässt. Oder man ist auf dem Eis dabei, als der österreichische Alois Lutz sich so gekonnt in der Luft dreht, dass dieser Sprung bis heute seinen Namen trägt. Stalin verweilt gerade in Wien und vielleicht hat er bei seinem Spaziergang durch den Park von Schloss Schönbrunn auch den 23 Jahre alten gescheiterten Maler getroffen, dem die Akademie die Aufnahme verweigerte und der nun die Zeit mit Postkartenmalerei im Männerwohnheim in der Meldemannstraße totschlägt und wie der Russe auf seine große Chance wartet. Seinen Namen kann man heute nur noch voller Widerwillen aussprechen: Adolf H.
Ein Jahr, aber was für eins: Kokoschka und Alma Mahler lieben sich. Gustav Klimt, Egon Schiele und Marcel Duchamp malen Akte. Freud liest derweil in entblößten Seelen. Heinrich und Thomas Mann enthüllen sich literarisch in ihren neuen Werken. Rilke leidet. Kafka zögert. Coco Chanel expandiert. Picasso fällt im Frühjahr in seine größte seelische Krise. Brecht wiederum langweilt sich in der Schule, kränkelt und fängt daher an zu dichten.
München ist damals mit 600 000 Einwohnern den 2,1 Millionen in Wien deutlich unterlegen. Dafür wurde letzteres wohl mit schlechtem Wetter belegt. Im August herrschte hier nur eine Durchschnittstemperatur von 16 Grad. Da half nur eines: eine Reise zum Mittelpunkt der Erde. Gleich zwei davon finden 1913 statt. „Piero Ginori Conti gelingt es in Lardello in der Toskana, Wasser aus dem Erdinneren für die Stromerzeugung zu nutzen. Die Geothermie ist entdeckt. Gleichzeitig schreibt Marshall B Garner sein Buch, in dem er belegt, dass im Innern der Erde noch immer Mammuts leben. Sie seien mitnichten ausgestorben, hätten sich nur in wärmere Regionen zurückgezogen.“, liest man bei Illies.

„Jedenfalls 1913 ist ziemlich harmlos verlaufen, nicht tot und schläfrig, ziemlich viel inneres Leben.“, wie die vom Leben mit ihrem Mann und unschlüssig, in welche Richtung ihre Kunst gehen soll ermüdete und in der Silvesternacht bilanzierende Käthe Kollwitz feststellt. Ganz so harmlos dann vielleicht doch nicht. Genau: Ziemlich viel inneres Leben! „Und etwas stand offen: es war wohl die Zukunft…“ Das schreibt wiederum Robert Musil in seinen Notizen, aus denen sehr viel später sein Roman: „Der Mann ohne Eigenschaften“ erwachsen wird.
Oswald Spengler, der dreiunddreißigjährige Misanthrop, Soziopath und Mathematiklehrer außer Dienst erkennt vielleicht als einer der Wenigen die dunkle Zukunft. Täglich neu notiert er: Es geht eine große Zeit zu Ende, merkt es denn keiner? „Kultur – noch letztes Aufatmen vor dem Erlöschen.“ Ach nein, da ist noch jemand. Marcel Proust sitzt in seinem Arbeitszimmer am Boulevard Haussmann 102 in Paris, baut sich seinen eigenen Käfig – eine Art Schallschutzkammer – und notiert im gerade begonnenen ersten Teil seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ folgendes: „Die Wirklichkeit, die ich einst kannte, existiert nicht mehr. Die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und Hauser, Straßen, Avenuen sich flüchtig, ach! die Jahre.“

Florian Illies berichtet von Bekanntem und Bekenntnissen, von Populärem und weniger Eingängigem. Er streift politische Gegebenheiten, findet aber immer wieder in die Kunst zurück. Mit unglaublich viel Verve und Esprit verführt er den Leser zu einer Lektüre, wie man sie sich jedem Geschichts- oder Gesellschaftsunterricht nur wünschen würde. Spannend, witzig, mitreißend und trotzdem auf hohem Niveau. Ein großartiges Kompendium, dem gern noch einige Jahresrückblicke mehr folgen dürfen.

Florian Illies
1913
Der Sommer des Jahrhunderts
S. Fischer Verlag, (Oktober 2012)
319 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100368010
ISBN-13: 978-3100368010
Preis: 19,99 EURO

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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