Von der Überlebenskunst zur Anthropotechnik

Zwischen Himmel und Höhle1

Die Bescheidenheit ist eine erfahrne Beherrscherin der Zeit [temporum magistra] / weil sie recht weiss in alle Zeit sich mit Ruhm gebührlich zuschicken / & alles zu gelegener Zeit ohn Verdruss & Verweiss fein an­zubringen. Die Bescheidenheit strekt sich nach ihrer Decken / nimt gar kein höheres vor / als sie ver­mag / & erlaubt ihr selbst ein mehreres nicht / als was durch Geheiss der Tugend erlaubt sein kan. (Justus G. Schottelius)2

Es ist furchtbar, wenn Philosophen so zu schreiben versuchen, dass sie auf den Seiten ihres eigenen Textes nicht anwesend sind. (John McDowell)

1. Vorgaben

Lebenstechnik heisst bei den Griechen téchnê tôu bíou, bei den Römern und im Mittelalter ars vivendi, bei den französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts l'art de vivre. Die Tradition der Lebenstechniken hat viel techno-theoretisches und praktisches Wissen angehäuft. Es ist immer auch ein Wissen um den Menschen als Techniker und mündet heute in die Aporien und Rechtfertigungsengpässe der Biotechnik und der Geno­mik (Erbgutanalyse). Im folgenden versuche ich, das Erfahrungswissen des homo technicus als interdiskursives Material zu sichten, zu analysie­ren und es als Beweismittel in eine geschichtsgesättigte Ethikargumen­ta­tion einzubringen. Was das für die spezifischen Probleme rund um die Anthropotechnik bringt, bleibt offen und ist Gegenstand der Diskussion.

Dazu sogleich ein systematisches Einsprengsel. Aristoteles hat die Unterscheidung gemacht zwischen poieîn, facere: machen, herstellen, konstruieren, gestalten, formen, erarbeiten, modellieren, basteln, erfinden – und ágein, agere: handeln, erzeugen, sich verhalten, entscheiden, besorgen. Dem Herstellen ist die téchnê zugeordnet, dem Handeln hin­ge­gen die Moral. Techne, verstanden als Objekt, als das Hergestellte, wird definiert als die in einem Werdenden waltende Form eines anderen. Ein Hergestelltes ist dem Herstellenden stets äusserlich, fremd. Das Fremde am Technischen ist dadurch entstanden, dass es die Form des anderen ,hat'. Nicht so das Handeln: Handeln ist ein energetisches Plus, worin der Handelnde zu sich selbst kommt und sich handelnd vervollkommnet (oder verdirbt). Erst als Handelnder werde ich mir meiner eigenen Form gewahr. Von einem Designprodukt aus kann ich rückwärts auf den Her­steller schliessen. Von einer Handlung oder deren Folgen und Spuren aus schliesst z.B. der Richter zurück auf den Urheber. Das technische Produkt verweist auf die Form des anderen, eine Handlung hingegen zeigt den Handelnden und seine moralische ,Form' an.

Diese Unterscheidung wird von traditionsverpflichteten Philosophen als noch immer gültig übernommen. Sie gilt ihnen als die Bedingung der Möglichkeit für Texte über Technik und Moral überhaupt. Wichtiger Vertreter dieser Denkrichtung ist Robert Spaemann. Am anderen Pol ist etwa Michel Foucault angesiedelt. Er setzt sich über diese Unterschei­dung hinweg und versteht unter Handeln die Herstellung einer Lebens­form. Foucault hat für seine Moral des Subjekts die Interpretation der antiken Lebenskunst, von Pierre Hadot erstmals vorgelegt, übernommen: Leben ist sorgfältiger Umgang mit den Lüsten, dieser aber der hergestellte Lebensstil. Die beiden Positionen sind unvereinbar, obschon sie vom gleichen sprechen. Meine Position: Die Unterscheidung von Ari­stoteles ist zwar tadellos und sie leuchtet spontan ein. Doch kultur­histo­risch und psychohistorisch betrachtet, greifen die beiden Bereiche stets ineinander. Die Technik unterwandert die Moral, die Moral schwappt in die Technik über. Es ging schon immer darum, den Handelnden zu diri­gieren, zu korrigieren, die Schwächlinge zu stärken, die Lüstlinge zu bän­di­gen, die Erfolgreichen zu belohnen. Spätestens seit den Texten des Begründers der Techniken am Menschen, dem heiligen Paulus, gilt die Parole vom ,Neuen Menschen', dem der ,Alte Mensch' weichen muss. Entscheidend dabei ist, dass dieser neue Mensch, der in je anderen Epo­chen je anders ,neu' werden musste, mit Moral allein nicht erneuert wer­den konnte. Die Techniken am Menschen mussten her und wurden zu ,medialen Organen' von Kopf, Hand und Fuss. Ganz ohne ideologische Konnotation kann nun von Anthropotechnik gesprochen werden. Unter dem Druck des aus der Rhetorik, diesem ältesten Bestand der Anthro­po­technik3, übernommenen Designs ist uns das Humandesign4 durchaus geläufig.

Die von den technisch gesteuerten Wissenschaften geschaffenen Ver­hältnisse zwingen dazu, zurückzublicken, sich auf die Tradition der An­thropotechniken zu besinnen, die Rückwärtsorientierung einzuschal­ten. Die Verhältnisse sind doch die, dass die Grenzen zwischen Human­medi­zin, Naturwissenschaften und Ingenieurwissenschaften fliessend sind. Die drei ,Künste' greifen immer mehr ineinander. Die ärztliche Kunst, die nicht nur gesund ,macht', sondern den Krankheitsverlauf auch als „sozialen Tatbestand“ kennt und steuert, die objektivierende, metho­den­gestützte Herstellungskunst des Biologen, „die mehr und mehr die panikhafte Form einer Flucht vor der Freiheit annimmt“5, die ingeniöse und kalkulatorische Kunst des Ingenieurs, die die Automatisierung und Verdinglichung der Lebensvollzüge vorantreibt. In eben dem Masse, wie dieses Können wächst, schwindet die dem Können zugeordnete Urteils­kraft. Wenn die Vernunft einmal dem Absolutismus ihrer Ansprüche erle­gen sein wird, kann der konjekturale Vernunftgebrauch, die rhetorische Technik, weiterhelfen.

Die drei genannten Techniken mit ihren legitimen Geltungsansprüchen angemessen ins Spiel zu bringen, zu verhindern suchen, dass eine dieser drei Instanzen sich autonom gebärdet, ist meines Erachtens Aufgabe einer mit anthropologischem Wissen und historischer Erfahrung gesättigten Ethik. Ihr entspricht eine Moral der Diskontinuität und der Brüche: ein Durchstehen, das zugleich die Möglichkeit des Nachgebens voraussieht (Epideixis: Aristoteles, thomistische Moralisten), ein Verhalten, das sich vor jeder neu entstehenden Situation zurücknimmt. Verhalten (habitus) ist Ethos und meint die inständige Wachsamkeit für unverhoffte Chancen, gefährliche Situationen. Wachsamkeit also für den Moment, wo die Be­glückung, etwas gefunden zu haben, in Enttäuschung über den gleichzei­tig drohenden Verlust umschlagen kann; für jenen Augenblick auch, wo Genuss im Gebrauch der Technik (z.B. des Verbrennungsmotors) sich in Ratlosigkeit des Subjekts eben diesem Produkt und dessen Schadens­fol­gen gegenüber kehrt. Nachhaltig gelebtes Leben lebt stets im Abstand zu den Erwartungen, die wir in unsere Vorkehrungen setzen, um Glück herzustellen, Zerfall zu verzögern, Mangel, Beraubung und Verluste zu kompensieren. Das Leben, die Grundschule der Verluste.

2. Die Kasuistik technisch hergestellter Nachkommen

Der Bereich, woraus eine anthropologie- und erfahrungsgesättigte Ethik Konturen und Inhalte schöpfen kann, ist die Sprache: Der Gebrauch von Begriffen, deren Umsetzung in Anschauung und die Vergegenwärtigung des flüchtig Gesprochenen in der Textur der Schrift – Präsenz immer ,nur' im Zeichen. Die Sprache bringt es nicht fertig, die spezifisch sym­bo­lisch-zeichenhafte Darstellung von Welt mit unserer Weltwahrneh­mung und Selbsterfahrung voll zur Deckung zu bringen. So macht sie denn auch den Bruch zwischen Ethik und Technik offenbar. Meine Ver­mutung geht dahin, dass es wenig begründbare Hoffnung gibt, dass sich Ethik und Technik je finden werden. Gleichwohl ist daran zu arbeiten, dass der Graben nicht ständig wächst.

Das Wort Technik verweist auf das griechische téchnê, definiert als „Form des Werdenden in einem anderen6. Das Technische an einem Ge­rät ist die in ihm und mit ihm verträglich gemachte Form eines anderen. Diese Fremdbestimmung erfordert hohes theoretisches Können samt Applikation auf den Fall: Entwerfen, Probieren, Vermuten – konjektura­ler Vernunftgebrauch eben. Er gehört zur schwachen Rationalität (pensiero debole, Gianni Vattimo), die sich an trial and error hält. Aber nicht im Sinne blinden Herumstocherns, sondern des theoretisch und erfahrungsmässig abgestützten Sich-Verstehens auf einen Sachverhalt, der immer auch anders sein kann.

In dieser formalen Beschreibung von Techne kann sich – so meine Annahme – sowohl der Humanmediziner als auch der Biologe und nicht minder der Ingenieurwissenschaftler wiedererkennen. Zugegeben: Den drei Instanzen sind auch die gegenteiligen epistemischen Merkmale eigen, nämlich methodisch erzeugte Objektivität und unbestreitbare Ge­wissheitsmomente, methodisch erzwungene und im Experiment verifizier­bare Gesetzmässigkeiten. Aber Technik bleibt unverstanden, solange nicht die Lektüre der Techne-Tradition hinzukommt. Diese ist ein Archiv an reichem interdiskursivem Material, so etwas wie ein riesiges Lagerhaus (warehouse) mit vorkonstruierten und querlaufenden Eintragungen. Sie verweisen unmissverständlich auf die anthropologische Seite der Tech­nik­wissenschaften, mithin auf den homo industrialis in seinem rationalen wie affektiven Selbstverhalten. Jedes her-ge-stellte (Heideggers Gestell) Gerät wird durch die ihm eingebaute Bestimmung – eîdos wird télos – ein Teil des Menschen, sein Objekt. Michel Serres unterscheidet schön zwi­schen objet-monde und objet-société: ein und dieselbe ,tragische' Träger­rakete Challenger, am 28.1.1986 explodiert, ist Teil des technischen Arsenals, zugleich Trägerin menschlichen Verhaltens zu eben diesem Megagerät, dann zur Stratosphäre und zur Militärmacht USA. Die Verbrannten ,machen' die Rakete tragisch.7

Damit wird überzeugend deutlich, dass zu jedem Begriff die projek­ti­ven Vorstellungen gehören. Durch sie fungiert dann Technik als Medium von Welt- und Selbstverständnis, als Trägerin von elementaren Affekten wie Schreck oder Begehren. Projektionen als wissenschaftsfremd abtun heisst, Technik missverstehen, die Welt als Aufenthalt verkennen. Just die exakten Wissenschaften sind „legendenschwanger“, wie die Wissen­schaftsgeschichte immer von neuem aufdeckt.

Von Belang ist folgende Beobachtung. Menschliche Rationalität ist im Widerstreit von Gewissheit und Ungewissheit konstituiert. Reflektierte Vernunft ist Bewusstsein davon, dass entscheidungsabhängig Seiendes immer auch anders sein kann. Das Möglichsein durchsetzt die mensch­li­che Existenz von innen her. Metaphysisch gesagt, das Gesetz der Diskon­tinuität und Brüchigkeit bestimmt von Grund auf unsere Lebensvollzüge. Wir erfahren Diskontinuität als Beraubung (stérêsis, privatio) – ein durch und durch unangenehmes, ja kränkendes Gefühl: Es fehlt mir etwas, was mir ,eigentlich' zukommt. Die kompensatorische Reaktion bleibt nicht aus: Es ist der menschheitsgeschichtliche Versuch, in immer neuen Ansätzen diese Beraubung argumentativ möglichst klein zu halten, sie tendenziell bis zu dem Punkt herabzustimmen, wo sie schliesslich ausge­schaltet wird. Mangelbeseitigung ist das Programm aller Anthropo­technik. Die Existenzerfahrung sagt fortwährend, der Mensch sei seiner Vollkommenheit zu Unrecht beraubt, also könne er sie entweder bei ei­ner ,höheren' Instanz einklagen oder aber die Beseitigung der Berau­bung in eigener Regie herbeiführen. Das ist das Apriori der Anthropotech­ni­ken. Wird nach ,oben' geklagt, etwa ein Schöpfergott dafür verant­wort­lich gemacht, dass er den Menschen falsch programmiert hat, obschon er es anders hätte können, dann tritt die Theodizee als Rechtfertigung Gottes auf den Plan. Kehrt sich die Anklage gegen den Menschen, dann sind wir bei der ,Erbsünde', beim Mythos vom Apfel und der Schlange. Die Rechtfertigung des Menschen wird dann fällig (Anthropodizee).

Jüngstes Beispiel für effiziente Beraubungsbeseitigung ist die für die Stimmbürgerinnen und -bürger abstimmungsreif gemachte und entweder als nichtakzeptabel oder akzeptabel vorgestellte In-Vitro-Fertilisation (IVF) und die heterologe Insemination.8 Unfruchtbarkeit nennt die bio­lo­gisch-physiologische Beraubung dessen, was einem Menschenpaar ,gehört', nämlich Fruchtbarkeit als Akt der Kontinuitätssicherung, sprich erfolg­reiche Nachkommenszeugung. Die Beraubung dieses Gutes zieht manifest Diskontinuität der Generation und des Familiennamens nach sich. Sie wird nun aber durch einen noch diskontinuierlicheren Akt, näm­lich durch Fremdherstellung von Kontinuität ausgeschaltet. Zur Volksab­stimmung gelangte die Frage: Soll eben diese Technik verboten werden oder erlaubt sein. Die Argumentation etwa von Klaus-Peter Rippe9, Ethik-Zentrum Zürich, stützt sich nicht etwa auf die Gentechnologie als solche, um ein Verbot der IVF als zivilisationsunverträglich, dem heutigen mora­lischen Gefühl unzumutbar und dem politischen Konsens entgegengesetzt zu bestimmen. Wie einst Platon die Musiktechnik, so unterstellt jetzt Rippe die Biotechnik der Politik. Der Mittelbegriff seiner Argumentation ist nämlich die menschliche Entscheidungsfreiheit, die sich nicht verträgt mit staatlichem Verbot. Ein Recht auf Nachwuchs könne zwar nicht gel­tend gemacht (warum nicht?), die Erfüllung des elterlichen Kinderwun­sches wiederum staatlich nicht verhindert werden. Ob IVF mit dem Wert ,Mensch', der doch noch etwas mehr ist als ein liberaler, kapitalistisch programmierter Bürger, kompatibel sei oder nicht, wird gar nicht gefragt. Ist aber Rippes Argumentation nicht eine wiederum höchst diskon­ti­nuier­liche Argumentationsart? Die Freiheit des Einzelnen wird gegen die staat­liche Instanz ins Feld geführt – sei's drum. Aber es muss gesagt sein, was das bedeutet, nämlich dies: IVF löst die Liebeskunst (ars amandi) fall­weise vom Zeugungsakt ab. Der Zeugungsakt wird ingeniös ausgelagert, das Zeugungsdefizit behoben. Das besagte Verfahren garantiert die Kon­tinuität der Generation per artifizielle Kinderherstellung. Genau dies darf der Staat nicht verbieten, weil Kinderwunscherfüllung nicht verboten werden darf. Angenommen, die Menschheit im Ganzen würde unfrucht­bar, gälte dann nicht, der Staat müsse den Wunsch zur Kontinuität der Gattung und ihres Überlebens technisch sichern? Vermutlich wird sich diese Schicksalsfrage anders als rhetorisch nie stellen… Vielleicht aber gibt sie zu denken. Was machen, wenn ein Blindgeborener seine Blind­heit als Lebensvorzug einschätzt und wünscht, durch Eingriff in das Erbgut soll ihm der Gentechniker ein blindes Kind herstellen? (Diese spekulative These wird von Juristen in den USA ernsthaft debattiert.) Gibt es hierfür, braucht es hierfür überhaupt noch eine Ethik, wenn Ethik gleich Wunscherfüllungstechnik?10 In die gleiche ethische ,Logik' gehört auch der Satz, die Ethik habe der Wissenschaft keine Empfehlungen mitzugeben. Ethik wird so ihrer ureigenen Funktion beraubt, nämlich ratend oder abratend den Menschen, und wären es Wissenschaftler, dienlich zu sein.

Auch aus der heterologen Insemination ergeben sich bedenkenswerte Folgen. Der argumentative Mittelbegriff der Entscheidungsfreiheit besagt nämlich, dass der unfruchtbare, zu dieser Technik entschlossene Mann entschei­den muss, sich von seinem biologischen Vatersein zu trennen und es an einen fremden Mann zu delegieren. Im Ergebnis versetzt der Argu­mentationsmittelbegriff das zu erwartende und technisch hergestellte Pro­dukt, Mädchen oder Bub, in die Zwangslage, nicht etwa nur zu akzep­tie­ren, dass es in die Welt gesetzt wurde – woran wir alle kranken -, son­dern darüberhinaus eine fremdinstanzliche Zumutung als unausweichli­che, persönlich-biologische Tatsache zu akzeptieren. Will es seine Her­kunfts­identität erkunden, muss es diese bei zwei Vätern abrufen. Die für die Lebenszeit eines so hergestellten IVF-Menschenkindes voraussehbaren, einst metaphysisch gegebenen Diskontinuitäten kann es dereinst dem biologischen Vater als Fehl anlasten oder dem sozialen Vater als Verdienst zurechnen. Hilft ihm die Moral?

3. Vertreibt Technik die Menschen aus ihrem Haus?

Kehren wir zur Gesprächsanordnung zurück. Es geht um die Entgrenzung des Humanen, um die Austreibung aus der ,Natur' durch Techniken. Es geht immer auch um die spezifischen, mit Vorstellungen verbundenen Besonderheiten der je verschiedenen Techniken. Am Beispiel.

In der Redetechnik geht es um Sätze, deren pragmatische Wirkung das an ihnen technisch Hergestellte ist. Mit rhetorischen, in der Sprache selbst liegenden Mitteln (Friedrich Nietzsche) wird Wirkung auf die theore­ti­schen Einsichten des Angesprochenen erzielt und zugleich auf die Affekt­lage des Wissenden Einfluss genommen. So erlangen Werturteile Geltung. Rhetorische Techne macht die Einflussnahme auf das Wählen und Entscheiden, Handeln oder Unterlassen des Gesprächspartners möglich. Sie bestimmt mithin Stil und Inhalt zwischenmenschlicher Beziehungen. Dem Redestil entspricht, im Erfolgsfall, der Lebensstil als sein Inhalt. Formal ausgedrückt: Theorien, die gefallen, werden sich eher durchsetzen als abschreckende Konstrukte.

In der Biotechnik und der Genomik11 geht es um die experi­ment­ge­stützte, dank Ingenieurkönnen vorteilserzeugende Einflussnahme auf die Erbanlage12. Ähnlich nimmt die Rhetorik optimierenden Einfluss auf Stil und Inhalt der zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie beruhen aner­kanntermassen auch auf körperlichen (Schönheits- oder Potenz)Merk­ma­len, die designfreundlich sind. Vorteile kommen auch dank technologisch ausgemerzter Defizite zustande: Fitness, Gesundheit, körperliche Integri­tät. Sie bieten beste Chancen zum Erfolg.13 Ausgedeutscht heisst das, die Technik ist die Vollstreckerin eines metaphysischen Gesetzes, das zwingt, vom Weniger auf ein immer Mehr und schliesslich auf ein Meist zu argumentieren. Darauf beruht aller technischer Fortschritt. Schottelius entlarvt dieses metaphysisch fundierte Aufstiegsbegehren als Illusion und klärt es auf mit Bezug auf Bescheidenheit. Sie ist Garantin für den Fortschritt in der Lebenskunst. Wäre Tugendmoral doch schliesslich die wirksa­mere Therapie, um Kränkungen beizukommen? Das allerdings war schon immer der tiefste Impuls der Tugendlehre. Sie ist Lifestyle avant la lettre. Hat sie unter den Bedingungen technischer Mangelbeseitigung etwa ausgedient? Hat man im erwähnten Abstimmungskampf je etwas von der Tugend der Selbstbeschränkung gehört? Geht unter Ethikern die Furcht um, sie könnten sich mit Tugendmoral lächerlich machen?

Rhetorik gehört noch immer zum Tresor des Grundlagenwissens bei personalen und intersubjektiven Lebensvorgängen, deren Vorzügen und Brüchen. Es geht beim Reden um die Beeinflussung der Seele, wie man früher, als man es halt noch nicht besser wusste, zu sagen pflegte. In der Regula pastoralis hat Gregor der Grosse (gest. 604) die Formel geprägt: Ars artium regimen animarum, Kunst aller Künste ist die Herrschaft über die Seelen. Rhetorik ist Techne/Ars, ist Macht und Herrschaft als Formgebung im anderen. Gregors hochdifferenzierter Traktat ist eine Untersuchung über vernunftgestützten, moderaten Umgang mit der Technik der (,geistlichen') Herrschaftsausübung. Das über Jahrhunderte hinweg geschichtswirksame Werk ist eine Ethik der Diskontinuitäten, sofern Macht über Menschen wie nichts sonst, was die Freiheit des Men­schen auch noch betreffen mag, der Kontinuität entbehrt, aber wenigstens über Lebenskunst wiederhergestellt werden soll. Jeder freie Willens­ent­scheid bricht mit der Kontinuität, entwindet er sich doch den Nötigungen rational-logischer Nezessität. Die ,Seelenführung' hatte nichts anderes im Sinn, als rhetorisch-argumentativ die Kontinuität mit dem Guten herzu­stellen, den Menschen so herzurichten, dass er in den Genuss des zu erwar­tenden Glücks käme, vorausgesetzt, seine Lebensführung stimme mit der ei­nen Wahrheit harmonisch überein. Das gelingt -wenn überhaupt- nicht mit deduktiver Rationalität, sondern mit der Kunst des konjek­tu­ra­len Vernunftgebrauchs.

Auch in der Biotechnik geht es um die entdeckungs- und erfindungs­reiche Formgebung im anderen. Beabsichtigt sind-nebst finanziellem Gewinn aus der Anthropoindustrie-positive Folgewirkungen etwa auf das künftige Lebensprogramm des technisch hergestellten Produkts, des Kindes – eine Vorwegnahme also seiner Lebenszeit. Dieses Präjudiz er­folgt freilich unter Umgehung, Korrektur oder gar Ausschaltung der naturbedingten Weltzeit, der kosmisch geregelten Kontinuität. Die Macht der Technik über den Bios besteht darin, den Menschen aus der kosmi­schen Kontinuität herauszulösen und ihn der technisch garantierten Kontinuität zu überantworten. Vertreibt Technik den Menschen aus der Natur, von dort also, „wo wir zu Hause sind“?14 Ganz und gar nicht wohlfeil sagen wir noch immer: Ein Mensch ,kommt zur Welt', platonisch richtiger: ,Er erblickt das Licht der Welt.' Hat man die Wahr­heit dieser urkundlichen Feststellung, dieses Intertextes, je gründlich be­dacht? Ihn nicht zu lesen oder ihn, krass szientistisch, auf die Einbahn ei­ner definitorisch festgelegten Philosophie zu zwängen, wie das Gereon Wolters in diesem Heft exemplarisch vorführt, ist auch eine Art des Phi­losophierens. Ob sie zur adäquaten Erörterung der anthropologischen Dimension von Technik taugt?

Die Geburtsanzeige nennt eine Welt-Zeit-Konstellation. Sie könnte ih­re Herkunft in der Tradition haben, macht damit einen Rückblick auf die Spätantike wünschenswert. Sie erweist sich als verbindlicher Intertext. Vorerst aber eine Klärung geläufiger Grundbegriffe und des in ihnen Mit­gedachten.

Bíos, Leben, bedeutete in der klassischen Antike die Ausstattung der stofflichen Grundlage (hýlê, materia) mit einer Seele (psychê) als dem Lebensprinzip; to zên, das Lebendige, ein Neutrum (ein ,Es'), nennt nicht lokalisierbares Seiendes, das aber dennoch überall präsent sein kann. Vita, Leben, ist im christlichen Umfeld definitiv mit dem Zeitfaktor verknüpft: Die vita brevis, das kurze Leben, die Frist, die Weile, galt (und gilt) unwiderruflich als kurz vor allem deshalb, weil die Relation zur vita aeterna, zum ewigen Leben, zwingend mitgedacht werden muss. Wer die­se Projektionen vernachlässigt oder abtut, verpasst das Verstehen dieser Lebensform, kann weder an die Tradition anknüpfen noch das heutige Lebensverständnis richtig abschätzen. Denn Lebenskunst geht zeitgleich mit Todesverständnis einher, wie hinlänglich bekannt sein dürfte. Im Tode geht, so die Lehre, die radikal diskontinuierliche Endlichkeit in die Kontinuität Gottes und in den „vollständigen und vollendeten Besitz endlosen Lebens“15 ein. Oder aber, so die andere Lehre, es ist mit allem Nichts. Dann ist Kontinuität auch total, aber leer.

Frage: Was hat das heutige naturwissenschaftliche Verständnis von Bios noch zu tun mit dem traditionellen Verständnis von Leben und Tod? Überraschend viel, denn die Diskontinuitäten Leben und Tod – „alte Ge­genstände philosophischen Nachdenkens“-erhalten „in biologischer, spe­ziell evolutionstheoretischer Sicht eine eigentümliche Beleuchtung … Ohne Tod hätte es eine Evolution bis hin zum Menschen nicht gege­ben.“16 Erst der Tod als endgültiger Kontinuitätsbruch hat das Konti­nui­tätsherstellungsprinzip Sexualität hervorgebracht, wie der französische Biologe François Jacob als einer der ersten nachgewiesen hat.17

Anschlussfrage 1: Wieviel von der begrifflich-konnotativen Charge geht vom Wortgebrauch von damals in den Wortgebrauch von heute über? Oder: Kann vom Bios heute gesprochen werden, als ob es den bíos und die vita nie gegeben hätte? Ist die alte Lebenskunst dank Biotechnik obsolet geworden? Was wäre, wenn Klaus-Peter Rippe in Sachen IVF und heterologer Fertilisation statt den moralischen Mittelbegriff ,Ent­scheidungs- und Wahlfreiheit der Bürger' einzusetzen, auf Schottelius' Lebenstechnik Bescheidenheit gesetzt hätte? Weshalb überhaupt diese Abdankung der Moral vor dem Nutzeffekt der Technik? Ist ethisch do­sierte Machtausübung etwa menschenunverträglicher als die (fast) allen Nicht-Forschern undurchschaubare Machtfülle der Genomik?

Anschlussfrage 2: De posse ad esse non valet argumentum, vom Können zum Sein zu schliessen gilt nicht. So sagten die Scholastiker. Heute sagt man anders: Was machbar ist, wird auch gemacht. Wenn das nicht sein darf, welches sind die Gründe, die den Weg vom Machenkönnen zum Machen versperren?

4. Mythische Herkunft – theologische Rationalisierungen

In der Lyrik des Weihnachtshymnus heisst der Schöpfergott conditor alme siderum, liebreicher Gründer der Gestirne. Das ist unüberbietbar schön und sprachtechnisch gekonnt. Die Annahme, am Ursprung des (mensch­li­chen) Lebens sei ein Artifex herstellend beteiligt gewesen, ist ihrerseits ein Produkt menschlichen Könnens. Es widersteht dem ,Zwang', die Ver­nunft müsse vor der Faktizität und Zufälligkeit des Da unseres Daseins kapitulieren. Also muss eine Erklärung her. Das Faktum, dass es etwas (mich und dich z.B.) gibt – obendrein mit dem Prinzip des Werdens, Be­wegens, Mehrens, Wachsens, Abnehmens und Vergehens ausgestattet -, wird mit der rein spekulativen Entlastungsformel vom Schöpfer gerade­wegs wegerklärt und in die Ästhetik ausgelagert. Ein Rätsel weniger, erst noch hymnisch akzeptabel gemacht; ein dem Willen zum Wissen trot­zen­des Faktum weniger, hochgemut dem Herstellungsgott zur gefälligen Lösung überantwortet. Worin genau liegt der Unterschied zwischen dem Menschen, der sich kreatürlich, als Produkt und letztlich als Eigentum des liebreichen Schöpfers, also als ,fremdproduziert' versteht, und dem Men­schen, der von sich behauptet, er gehöre ungeschmälert sich selbst und könne als Individuum das Recht an sich selbst auch dann einfordern, wenn er von einem Genomingenieur produziert worden sei? Ich empfinde bei dieser Frage nur geringe Spuren an ästhetischer Entlastung. Aber vielleicht ist mir der liebreiche Glanz der Technik noch fremd.

Alles Herstellen geht einher mit dem Gefahrenmoment und dem Erfolgsfaktor. Wenn das für Theorien gilt, um wievielmehr dann für die unendliche und methodisch gesicherte Wiederholbarkeit wissenschaft­li­cher Experimente. Sie entlasten (verlässlicher [?] als das Schöpfungs­konstrukt), verbessern Fehler, verschönern Hässlichkeiten, befreien von Krank­heit, wehren verzögernd dem finalen Zerfall. Idealiter wird Ver­gänglichkeit nicht nur aufgehalten, sondern aufgehoben. Der Traum vom ,ewigen Leben', schon immer das antinomische Pendant zur Angst vor dem Tode, ist eine anthropologische Konstante par excellence. Die Wi­der­sprüchlichkeit dieser Wesenskonstellation des Menschen fand in der Geschichte einmal Lösungen in Richtung Unsterblichkeit, dann wieder Lösungsangebote in Richtung gelingender Sterbekunst, heute in der Intensivstation und in der Sterbehilfe. Immer wieder gewannen und ver­lo­ren diese Angebote an überzeugungswirksamer Plausibilität, immer wie­der tritt das eine Angebot in die Lücke des anderen. Die untilgbare Ah­nung einer den Menschen übersteigenden ,Lösung' ist es, die im Men­schen die Bereitschaft gründet, auf ein ,Mehr' gefasst zu sein, auf ein Dauer-Jetzt zu zählen und sich eben auf eine Ewigkeit (sei es im Tode, sei es im Ewigen Leben, sei es im Nirgendwo) hin einzurichten (Hans Blumenberg).

Folgerungen. Die Anthropotechniken (Claude Lévi-Strauss hält dagegen: die Entropotechniken!) gehören ihrer Anlage nach zu den suggestiven Er­folgsfaktoren. Einen Anfang machte die Rhetorik – das (vor)letzte Glied dieser Emendations-, Fortschritts- und Reproduktionsstrategien ist die Gen- und Biotechnologie. Die gegenwärtigen Debatten in der Öffentlich­keit setzen Widersprüche frei, die der Anthropotechnik inhärent sind. Die bisherigen Ausführungen sollten gezeigt haben, dass es ausserhalb der menschheitsgeschichtlichen Dimensionen der Technik kein angemessenes Verständnis von Anthropotechniken gibt und geben kann. Ich schlage vor, dass wir uns nun der Anthropotechnik über die Spitze der praktischen Vernunft, die Überlebenskunst, nähern.

5. Überleben wofür?

Wozu all diese téchnai, wozu die imposanten, nicht selten furchterregen­den Vorkehrungen – angefangen bei der einschmeichelnden Überredung, bei der wirkungsorientierten, affektorientierten Argumentation über den moralischen Druck, über das Klonen bis zu den Foltertechniken (die das Überleben der ,Wahrheit' mit der Qual des Gefolterten erkaufen) – wozu das alles? Als Antwort darauf gibt es eine konstante, von jedem System neu zu prüfende Formel. Sie lautet: Die Anthropotechniken dienten durchweg dem Überleben. Aber überleben kann nur der jeweils herge­stellte Neue Mensch (homo novus), der den Alten Menschen (homo vetus) abzulösen hat. Der antiquierte Mensch ist nicht in der Lage, unter neuen Lebensbedingungen zu bestehen. Auch die anthropologische Halb­wert­zeit des Menschen schmilzt. Also muss der Neue Mensch den Alten Men­schen ablösen.

Es ist plausibel, dass es sich hier um die Grundformel der sich von Epoche zu Epoche ablösenden, rasant erneuernden Überlebens­pro­gram­me handelt. Die Formel ist seit je pragmatisch gemeint und wird entspre­chend appliziert: Den alten Menschen ausmerzen, damit der neue Mensch entstehe und weiter komme, das ist Anthropotechnik. Das war auch schon der ganze Inhalt des Humanismus. Martin Heidegger hat sich diesen Hu­ma­nismus in seinem Brief an Jean Beaufret im Jahre 1946 vorgenom­men.18 Er stand unter dem Eindruck der von Menschen geplanten und an Menschen industriell exekutierten Massenvernichtung. Er verschwieg feige sein Wissen, attackierte aber den Humanismus als den rechtmässigen Anteilhaber an dieser millionenfachen Ermordung. Diese Interpretation des „Humanismusbriefes“ als Humanismusattacke wurde jüngst von Peter Sloterdijk vorgeschlagen. Der Humanismus zielte tatsächlich auf die Herstellung des immer vollkommeneren Menschen. Sollte diese Technik schliesslich in der industriell selektionierenden und vergasenden Technik geendet haben, ist Humanismus Verrat am Menschen, den wiederum der Humanimus selbst herangezüchtet hat. Für die Plausibilität dieser Auffassung sprechen unter anderem historische Konstellationen. Einige davon seien hier vorgestellt.

Sobald nämlich der homo vetus nicht bereit war, sich dem Huma­nis­musprogramm des Neuen Menschen zu fügen, und sich widerspenstig zeigte, blieb ihm entweder die Selbsttechnik als Mittel zur Erneuerung, oder aber es sorgte eine Fremdinstanz mit ihrer Herstellungskompetenz dafür, dass der Wandel kam. Staatlich verordnete Zucht (paideía) bei Platon; Zwangsregime der Wahrhaftigkeit (veracitas) bei den Kirchenvä­tern; Extremverausgabung zwecks Ichfindung im Akt des Hungerns bei den Wüstenvätern19; Ausbildung von Personen, die fähig waren, die Kunst aller Künste, die Herrschaft über die Seelen, auszuüben, und „die wir heute ,Professionelle' oder gar ,Technokraten' nennen würden“20; ,brüderliche Hilfe' aus den Reihen des römischen Militärs, angefragt von Augustinus zwecks Ausrottung der Donatisten21; geregelter Tages- und Nachtablauf mit Sonnenuhr und hydrokleptischer Nachtuhr in den Klö­stern; pietistische Endzeitdrohungen über die gesamte menschliche Exi­stenz hinweg; schliesslich die Lebensmaxime der rechtmässigen, kapi­ta­li­sti­schen Erben dieses Humanismus: ,Freie Bahn dem Tüchtigen'. Auch der Tüchtige wird hergestellt, der Lebensuntüchtige unter der Rubrik ,selbstverschuldete Armut' abgebucht.

6. Die Erbsündenlehre, ein biotheologischer Kraftakt

Es kann ruhig gefolgert werden, dass die Anthropotechniken schon immer zu den Lieblingsbeschäftigungen der westlichen definitionsmächtigen Kulturträger gehörten. Ich lese die Tüchtigkeits-, die Kultur- Sozial­ge­schichte des Abendlandes als anthropologisch-biotechnischen Herstel­lungs­pro­zess des westeuropäischen Menschenschlags. Im Verlauf dieses Prozesses muss es eine Art Initialzündung samt einer überwältigenden Wirkungsgeschichte gegeben haben. Meines Erachtens ist die Kontro­ver­se zwischen Pelagius (als Häretiker verurteilt) und Augustinus (als Kirchen­vater installiert) die dafür hochplausible Erklärungskonstellation. Auf der einen Seite der assyrische Theologe Pelagius (um 360-429), Verkünder einer Anthropologie der Willensfreiheit, der moralischen Integrität, der Disziplin und selbsttätigen Anstrengung, durch welche die Gottwohlgefälligkeit hergestellt wird – auf der anderen Seite der afrika­ni­sche Redner, Bischof und antisexuelle Scharfmacher Augustinus (354-430), Konstrukteur der Anthropologie der naturhaften Korruptheit, Erfin­der des gattungsbezogenen, dem Zeugungsakt eingeschriebenen adamiti­schen Verschuldens, genannt Erbsünde (peccatum originale). Die Erb­sünde, ein zum Menschenverständnis und zur Rekonstruktion von Gottes Heilsökonomie erfundenes Argumentationsmittel, ein der Natur des Menschen inhärenter, im Geschlechtsakt von Generation zu Generation tradierter, die Menschen an der Wurzel schwächender Makel-eine Beraubung in Potenz, nämlich der Verlust der Ewigkeitsbestimmung (Unsterblichkeit); entsprechend hat die Sterblichkeit die Bestrafung mit Arbeit und Krankheit, Sexualität und Gottverlassenheit zur Folge.

Die Erbsündenlehre ist, sieht man einmal von theologischen Spekula­tionen ab, keineswegs ein wissenshistorisches Monstrum. Sie ist vielmehr eine bis heute massgebliche anthropologische Erklärungskonstante, selbst­verständlich im Laufe der Geschichte semantisch ständig umbesetzt. Heuti­ge Geltung kann sie beanspruchen, sofern sie jeder konservativen An­thro­po­logie auf den Leib zugeschnitten ist. Diese einzig wirklich erfolg­reiche Menschenbildpraxis gibt sich freilich aufgeklärt, blendet die „Logik des Schreckens“ – Erwählung und Verdammung – gelassen aus. Sie schwenkt auch nicht in die Gottes Endgericht blutig vorwegnehmende Vernichtungskampagne von Gegnern ein. These: Der Mensch ist nicht gut, er ist zwar für das Glück geschaffen, verdirbt es sich aber laufend selbst. Wo immer dieser seinsmässige Vorbehalt gelöscht wird und an seine Stelle der Versuch tritt, das Paradies wiederherzustellen, tut sich die vom Menschen dem Menschen zubereitete Hölle auf. Es ist manifest auch nichts mit der Happiness-Moderne, versprochen von der Wirtschafts­glo­bali­sierung plus Kosmopolitismus, vom Freihandel und dem Universal­hu­manismus. Gerade die unerbittliche Disziplinierung vor allem der Heere aller Armen durch den Markt, der eben ,Opfer verlangt', endet im schlechten Gewissen der Reichen und in der Revolte der Benachteiligten. Revolutionäre oder fortschrittstrunkene Anthropologien zerschellen am Menschen selbst. Dennoch ist es just die konservative Anthropologie, die vom Herstellen des homo novus nicht ablässt. Sie ist ein von theolo­gi­schen Konsequenzen gereinigter Pelagianismus.

Diese Anthropopraxis der unablässigen Korrektur am Menschen hat eine wirksame Selbstkorrektur eingebaut. Es ist die das Denken und Handeln unterwandernde, den Aufschwung retardierende (weil im stillen halb­wegs erbsündegläubige) Skepsis. Ihr liegt ein genuin biotheo­logi­sches Motiv zugrunde: Mit dem Bios, dem sterblichen Gott, kommt der Mensch bekanntlich nicht auf einen grünen Zweig. Denn bereits in der triebbedingten Generierung und Tradierung von Leben ist der Fehler eingebaut, der Knacks programmiert. Und weil der Bruch mit dem Zeu­gungsakt selbst gegeben ist und das Produkt als vererbliches, (sündiges) Potential, eben als natura lapsa, corrupta22, sich selbst überlassen ist, lässt sich dieser Makel ebensowenig tilgen wie das Leben selbst. Wo immer dieser seinsmässige Vorbehalt gelöscht wird, droht dem Menschen Gefahr durch seinesgleichen. Doch eines ist gewiss: Er lässt sich in Rechnung stel­len, und wo dies nicht der Fall ist, ist nichts als Illusion, sind Selbst­täu­schung und Hybris am Werk. Wer diese Rechnung nicht auftut, dem wird sie unter Schmerzen, meist erst nach dem selbstgemachten, tödlichen Desaster, aufgemacht. Mit anderen Worten, im Gegensatz zur Bergpre­digt (etwa ähnlich radikal wie Augustinus, aber jenseits von dessen sexuellen Phantasmen) muss man mit der vom pseudo-biologischen Zau­ber gereinigten ,Erbsünde' rechnen, also muss man mit ihr auch Politik machen, was mit der Bergpredigt und anderen Extremtechniken manifest nie ging und nie gehen wird. Politik aber heisst, auf die Frage zu antwor­ten, wie es klug anzustellen sei, um zu überleben. Wir überleben nicht, wenn wir am Selbstverständnis des Alten Menschen kleben, und wir überleben vermutlich nur, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass jeder Neue Mensch das Erbe des Alten Menschen antritt. Der Neue ist zwar wie der Alte, aber halt doch neu.

Historisch gesehen, lässt sich die europäische Kultur auslegen als das Resultat eines mehr oder weniger erfolgreichen Rezepts gegen die Erb­sünde und ihre Folgen und zugleich als die enttheologisierte Umsetzung eines gemilderten Pelagianismus. Das hört sich an als „Selbstverant­wor­tung“, „dem Tüchtigen gehört die Welt“, „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!“. Ohne dieses Doppelrezept ist europäisch nichts gelaufen und läuft erst recht im globalisierten Kapitalismus nichts. Das Rezept heisst para­do­xerweise Herstellung des Neuen Menschen. Doch der Widerspruch liegt offen zutage: Der so seiner Integrität beraubte Mensch, statt dass er endlich an sich hält, wird selbst zum Räuber, ja zum Mörder am Vater und zum Gatten seiner Mutter. Zwischen dem Alten Menschen und dem Neuen Menschen gibt es immer eine Art Freiraum, und genau hier wütet der homo praedator. Raub und nochmals Raub, das ist das Rezept. Europas Kultur und Staatlichkeit beruht eben darauf als auf dem Gewalt­prinzip.23 Die Raubkunst wird raffiniert und verfeinert. Den Entste­hungs­bedingungen der potentesten aller Herstellungsmaschinerien, des Kapita­lis­mus – von Gilles Deleuze und Félix Guattari als machine de guerre identifiziert -, entgehen wir nicht, sind wir doch ein Teil davon und gehört er doch zu unserem bio-theologischen Erbe. Dieses Erbe ist ge­kenn­zeichnet vom Gefahrenmoment und vom Erfolgsfaktor aller Her­stel­lung und heisst Ressourcenschöpfung unter erschwerten Umständen. Die „Schöpfung seufzt“, und Gott hat nun einmal die Steinkohlevor­komm­nis­se nicht wie einen Wald eingerichtet, also nicht „mit ihrem besonderen Saamen begabet, dass sie sich biss an das Ende der Welt … vermehren … soll­ten“, wie J.Ph. Büntig 1693 sich das noch vorstellte.24 Mithin heisst die Parole: Überleben, entweder um jeden Preis oder nicht um jeden Preis, also entweder sich in der Welt nach dem Gesetz des Räubers ein­richten oder dann, nach Art des klugen Sachwalters, sich selbst, den Nachbarn und der Nachwelt die gebührende Sorge angedeihen lassen.

Wir haben es schwer, aber es bleibt dabei: Der Mensch steht unter dem anthropologischen Diktat des belasteten, biologisch halb zerrütteten, aber technisch wiederherstellbaren Lebens. Er ist frei, selbsttätig und zugleich taumelt er von Fiasko zu Fiasko. Die Wiederherstellung läuft noch immer strikt nach den Regeln der Disziplinierung, der Lustentsagung, des Auf­schubs der Befriedigung, der Arbeit und der Verdinglichung ab. Die Tra­gik dieses Programms hat Georg Simmel überzeugend nachgewiesen. Bis wohin soll die Zumutung der Verdinglichung gesteigert werden? Ab wann muss sie zurückgewiesen werden? Wo hat die Wunscherfül­lungs­technik ihre Grenzen? DetlefB. Linke, Neurophysiologe, meint, es sei längst zu spät, um die ganze Dynamik wirksam zu bremsen: „Die Frage, warum die Technologie über den Menschen kommt, weshalb sich der Mensch durch die Technologie verführen lässt, wurde bis heute nicht befriedigend beantwortet. Heute gehe ich davon aus, dass der Drang zum Neuen hin, der Wunsch, stets etwas anderes zu erfinden, eine biologische Konstante des Menschen ist … Ich halte die Überwindung biologischer Grenzen nicht für rechtfertigbar, aber auch nicht für aufhaltbar.“25

7. Himmel und Hölle sind menschenleer

Zum Schluss eine nicht sonderlich verbindliche, aber noch nachwirkende Erinnerung an die einst grandios inszenierten und an Menschen erbar­mungslos exekutierten Erzählungen von den Höllenqualen, von der entla­sten­den Zwischenstation Fegefeuer und von den himmlischen Freuden. Sie wurden als Theo-techniken26 dem Menschen an Leib und Seele appliziert. Wie war das nur möglich? Vergegenwärtigen wir uns: Die Frist des Überlebens war noch im 18. Jahrhundert statistisch gesehen kurz, weshalb sie kompensierend auf die überirdische ,Zeit' hin kalkuliert werden musste. Zudem spielte sich das kurze Leben für Christenmenschen extrem gefährdet zwischen Himmel und Hölle ab. Der so erlebten Le­bens­frist entsprach dann freilich, als dessen wundersame Erfüllung, die unendliche Erstreckung der erhabenen Gefilde des seligen Lebens. Man muss sich vergegenwärtigen, dass um eben dieses Lebens willen die Über­lebenstechniken erfunden, angewandt und bis zum Exzess wirksam gemacht wurden. Wie weit Theotechnik als religiös aufgeladene Psycho- und Anthropotechnik reichte, zeigt der folgende Bericht über die zum Tode verurteilte und um 1750 hingerichtete Brandstifterin Anna Regina Töplerin.

Dreiviertel Jahre hat sie sich, im Gefängnis sitzend, völlig widerspenstig gezeigt. Der Pfarrer sprach dann den Fluch über sie aus, so solle sie zur Hölle fahren. Anderntags zeigte sie sich ,bekehrt' und verlangt den Beicht­vater. Sie erklärt ihm, Jesus wolle nun Eingang in ihr Herz halten. Sie sah den Pfarrer „steif an, und ihre Augen fiengen an, Thränen zu vergiessen“. Das war, nach pietistischer Auffassung, das untrügliche Zeichen, dass der Sünder nun mürbe geworden war. Person und Wesen der Töplerin hatten sich gewandelt, der alte Mensch war ausgetrieben und der neue Mensch zur Hinrichtung präpariert. „Von nun an war ihr der HErr JEsus süsser, als Zucker und Honigseim.“ Sie sah dem Tod mit Freude entgegen, hatte die Meinung angenommen, nicht in die Hölle fahren zu müssen, sondern in den Himmel zu kommen und dort den Herrn Jesus zu sehen.27

Inzwischen haben die heute an Moribunden applizierten Technologien zur medizingestützten Verzögerung des finalen Abgangs ins Totenreich die einstigen Seelentechniken zur Herrichtung des Menschen für das Reich der Seligen abgelöst. Der Zeitfaktor hat radikal umgeschlagen: Die Frist des Überlebens wird immer länger, und der hundertjährige Hans-Georg Gadamer hat, nach dem unsäglichen Ernst J., einen Anfang ge­macht. Doch die einst affektiv dermassen wirksame Jenseitsvorstellung als das Woraufhin des Überlebens hat einer vagen Ungewissheit Platz ge­macht. Das ewige Licht ist gelöscht. Die Menschen fahren nicht mehr in den Himmel, sondern steigen ab in die von ihnen technologisch ausstaf­fierte Höhle als in die ihnen bekömmliche Welt. In welcher Welt erblik­ken sie zeitliches Licht? Droht künftigen Generationen der kalte Fanatis­mus? Leitet die anthropotechnisch hergestellte Generation eine Lebensart ein, die sich nicht mehr von Erwartungen auf die Entzeitlichung im Ewi­gen nährt, sondern davon lebt, dass es weder Hoffnung noch Illusionen, noch Sinn des Sinnlosen gibt oder geben kann?

Postscriptum

Kaum ist die Tinte trocken und die ,definitive' Version abgespeichert, erweist sich ein Text wie der obige bereits als Stückwerk. Thematik und Argumentationen werden von nachdrängenden Texten und Publikationen eingeholt. Informationen über den neuesten Stand der Genforschung von gestern erweisen sich anderntags als veraltet. Die neueste Aussage über technologisch-naturwissenschaftliche Sachverhalte dementiert die alte. Die kontroversen Stellungnahmen zum Engineering am Genom häufen sich, die Beurteilungen der 99prozentigen Sequenzierung des humanen Erbguts – nicht zu sprechen von Pflanzentechnologie und dem Klonen von Tieren-gehen radikal auseinander. Die Patentierung von For­schungsresultaten zwecks finanzieller Absicherung der hohen Investi­tionskosten schliesslich wirft die Frage auf, wer das Monopol zur Herstel­lung des ,vollkommenen Menschen' beanspruchen könne – ob es dem Menschen bekömmlich sei, wenn er sich gebrestenfrei, krankheits­resistent und schliesslich unsterblich machen sollte.

Mein Text ist vorläufig, unfertig, ergänzungsbedürftig. Deshalb die folgenden Ergänzungen und Hinweise. Texte öffnen geschichtliche Räume nach rückwärts. Sie zeigen (im besten Fall) auch voraus auf das, was zu erwarten ist, wenn diese oder jene Entscheidung fällt, wenn die nächste technologische Stufe wirksam wird, wenn jener Eingriff in den Lebens­entwurf eines Wunschkinds unterbleiben soll.

Der obige Text hat dem Lesenden – vielleicht überraschend oder be­fremdend – einen historischen Raum eröffnet. Zwischen Spätantike und Frühmittelalter gerieten dort zwei Anthropologien in Widerstreit. Es ist der Raum, der sich von Irland (wo Pelagius die heroische Mönchskultur für kommende Jahrhunderte als militia Christi programmiert hatte) nach Nordafrika erstreckte (wo der Gnadenlehrer die für damalige wie künftige Andersdenkende verheerenden Schlüsse aus seiner Anthropologie zog), ein Raum, der vom Norden Europas über Rom bis nach Mesopotamien reichte. Im damaligen Europa wurde die Antinomie des Todes – Sterb­lich­keit versus Unsterblichkeit, Zeitlichkeit versus Ewigkeit-ausgelebt, dort entwickelte sich das widersprüchliche Selbstverständnis des Menschen: Entweder versteht er sich als autonomes Erkenntnis- und Willens­subjekt (grandeur) oder als unfreies, abhängiges, dem Gnaden- und Rachewillen des Gottes ausgeliefertes Glied einer von Natur aus korrupten Gattung (misère).

Das Spannungsverhältnis zwischen Lebenstechnik, Überlebenskunst und moralisch hochwertiger, heroischer Selbstverwirklichung einerseits, Hinfälligkeitserfahrung, Vergeblichkeitsresignation und Todesfiasko an­de­rer­seits hat das Abendland geprägt. Die unvereinbar angelegten An­thropologien sind die adäquate Selbstauslegung des Europäers, ein wi­chtiges Moment der Subjektwerdung und der Entdeckung der Freiheit und zugleich ein dringendes Korrektiv des mit diesem Programm einher­gehenden Unterwerfungszwangs unter das Regime der angeblich einzigen Wahrheit.

Es ist nur zu offensichtlich, dass die europäisch-nordamerikanischen Technologien am Menschen, an Pflanzen und Tieren – an nichts anderem also als an der „gefallenen Natur“ (natura lapsa, corrupta) – heute an einem für die Zukunft der Gattung entscheidenden Punkt angelangt sind. Im Verlauf meiner Recherchen ist mir aufgegangen, dass die Technik am Menschen, nämlich der Gebrauch seiner wunderbaren Fähigkeiten, sich den Zwängen des Bios zu entwinden und neue Fähigkeiten zu entwickeln, die ingeniösen Wiederherstellungsversuche sowie die Vorkehrungen zur Sicherung einer möglichst gefahrlosen Zukunft schon immer die zentrale Beschäftigung des Abendländers waren. Von Generation zu Generation ist der Europäer dabei, sich seines Denkens und Könnens, Wünschens und Erfindens, seiner Siege und Triumphe zu versichern. In dem Masse freilich, da er sich selbst ermächtigt, befallen ihn die Ängste vor dem Tod, kommt die Ernüchterung unerfüllter und unerfüllbarer Wünsche über ihn, überrennt ihn das unersättliche Begehren nach Rache, blickt er in den Abgrund seiner möglichen und tatsächlichen Verbrechen.

Diese Einblicke in die Genese dessen, was der Europäer dank Technik und Lebenskunst, dank Kulturschöpfungen und der Überwindung des industriellen Zeitalters durch Elektronik schliesslich geworden ist, sind geborgt. Ich habe sie von Franz Borkenau: Ende und Anfang. Von den Generationen der Hochkulturen und von der Entstehung des Abendlandes28.

Eine Gegenstimme im Chor der Ethiker – nicht laut, aber eindringlich und mit überzeugungsstarken Zwischentönen – war schon immer der (ka­tholische) Philosoph Robert Spaemann. Seinen Beitrag konnte ich nicht mehr berücksichtigen: „Menschen machen, Menschen verbessern? Ein Plädoyer für Zurückhaltung“.29

Zur Patentierung und den daraus zu erwartenden Folgen zwei kontro­verse Stellungnahmen. Christoph Rehmann-Sutter, Biolog und Philosoph, „Der verkaufte Mensch? Genpatente – ein Klärungsversuch“, sieht in der Patentierung „keine Waffe, um die terra incognita der Gene zu beset­zen“. Er führt das – von der Kolonialgeschichte widerlegte – Argument an, die Entdeckung eines Landes könne „keinen Besitzanspruch auf das Land und auf dessen Früchte rechtfertigen“ und meint dann, 500 Jahre nach Beginn der Kolonisierung müsse sich „in der Biosphäre der gene­ti­schen Information nicht dasselbe Muster wiederholen“.30 Hat denn der Eu­ropäer je aus seiner Geschichte etwas gelernt? Wäre er auf einmal, ganz pelagianisch diesmal, zum Guten geboren und fähig, eine andere als eine Besitzergreifungs- und Raubgeschichte zu inszenieren? Zweifel sind angebracht, aber hoffen darf man schon.

Bereits im Titel auf der ersten Seite von Le Monde diplomatique, tönt es anders: „Ende der Solidargemeinschaft. Die Versuchung der geneti­schen Apartheid“, von Dorothée Benoit Browaeys, Wissenschafts­jour­na­listin, und Jean-Claude Kaplan, Professor für Biochemie und Moleku­lar­biologie, Medizinische Fakultät Cochin-Port-Royal (Paris)31.

Diese Ergänzungen mögen eine Ahnung geben, innerhalb welcher Bandbreite die Diskussion darüber läuft, was der Mensch alles kann und wovon er doch eher ablassen soll, sofern er willens und fähig ist, einen Blick in seine zwiespältige Verfassung, in die condition humaine, zu werfen.32 Nur wenn er sich selbst als leiblich konstituiert annimmt und sich mit Geist und Leib zum Medium seines Könnens und Wissens macht, lebt er in der Wahrheit. Vermutlich scheitern Technologien nicht an der fehlenden Rationalität, wohl aber an der im Menschen Fleisch gewordenen Vernunft. Die Leiblichkeit zwingt zur Technik. Wer sich anschickt, mutwillig die für ihn bereitgestellten technologiegestützten, lebensfördernden, krankheitsverhindernden und todesverzögernden Mit­tel zu ignorieren, untergräbt seine eigene, fragmentarische Wahrheit. Wer das Arsenal der inzwischen nahezu omnipotenten Apparate vom Leib eines in ihm wurzelnden Intellekts separiert und zur alleinseligmachenden Erfindung erklärt, bewegt sich von der Wahrheit weg. Sollte es je so weit kommen, dann wäre die Endphase des Krieges eingeläutet. Mit der wis­senschaftsgestützten Technik benützten dann Menschen ihre Apparate dazu, deren Form dem Nachbarn, dem Kranken, dem Sterblichen auf­zuzwingen. Wir müssen jetzt darüber befinden, ob wir die Form dieses ,Frem­den' uns zu eigen machen wollen oder nicht, also zu den von ihr verheissenen neuen Menschen werden wollen.

* * *
Diese Überlegungen erläutern auf ihre Art die Menschwerdung der Ver­nunft im europäischen homo technicus. Er ist durch Lebenskunst und Technik, Kulturschöpfung und Engineering zu dem geworden, der er jetzt ist. Wird sein Lebensprogramm einmal entschlüsselt und saniert sein, wird er endlich zu dem, der er dereinst gerne sein möchte. Er ist dabei, den homo lapsus, diese mythische und zugleich unüberbietbare Realfigur Mensch, einzuholen und technologisch zum integralen, gesunden und seine Hinfälligkeit elegant auffangenden neuen Menschen zu formen.

Die Analyse scheint mir dazu angetan, einen gewissen Durchblick auf die derzeitige dramatische Situation zu öffnen. Eine Situation, die sich als ein globaler Schauplatz darstellt. Dort treffen die Ingenieure des sterb­li­chen Gottes Bios auf den mit Würde und Schande ausgestatteten Men­schen, der sich um ein gelingendes und gutes Leben bemüht. Techniker ,stellt' den Nichttechniker, wie Stauwehr den Fluss (M. Heidegger).

Von nicht unerheblicher Bewandtnis ist bei diesem Aufeinan­der­tref­fen, dass es kein Ringen von Mann zu Mann, von Frau zu Mann ist. Die Kriegsherren haben das mörderische corps à corps von Verdun hinter sich gelassen. Die heutige Kampfszene macht sogleich deutlich, dass sich der elektronische Apparat als Medium zwischen die Streiter schiebt. Mit dem Apparat müssen, wie gesagt, alle am Bios Beteiligten und in ihm tief Ver­wurzelten rechnen. In diesem Wettstreit dreht sich alles um Besitz und Anwendung des entschlüsselten Humangenoms und um den Gebrauch der Lebensformel zur Heilung, Sanierung und Profitsteigerung in einem. Es geht dabei um zweierlei. Erstens um den Apparat. Er kann, wie jedes Medium, jedes Werkzeug, sowohl als wunderbarer Explorator gebraucht wie als fürchterliche Waffe missbaucht werden. Angesichts des möglichen Missbrauchs sind Menschen vor sich selbst und vor anderen zu schützen. Ein Krieg gegen den Bios mit eben diesem, dank der sequenzierenden Apparate zur Waffe hergerichteten Bios ist zu ächten.

Es geht, zweitens, darum, ob wir zu jenem Menschen-Bild, also zur Anschauung unserer selbst und zur Selbstanschauung im Andern finden. Es muss ein Selbst-Bild sein, das auch zum homo technicus, der wir sind, passt, ein Bild auch, das mehr repräsentiert als die blosse Addierung von biologisch-neurologischen Funktionen. Es wird, so meine Vermutung, ein Selbst- und Fremdbild sein, das aus dem Widerstreit von Tod und Un­sterblichkeit, von Verbrechen und Unschuld, von Erfahrungen der Sub­jek­tivität und Entwürfen des Übernatürlichen33 nicht heraustritt, diesen anthropologisch-metaphysischen Rahmen nach keiner Richtung sprengt. Der Techniker unternimmt laufend alles und alles immer gekonnter, da­mit uns das vertraute Bild Alter Mensch abhanden kommt. Kaum fühlen wir uns wohl in unserer Haut, haben wir uns bereits auf ein Bild des Neuen Menschen einzustellen. Es wird wohl kaum ein Francis Bacon sein, noch weniger ein Fra Angelico.34 Doch wer ist der Neue Mensch? Gerade der Techniker wird es uns vermutlich erst dann sagen können, wenn die Reihe an ihm ist und er zum alten Eisen geworfen wird.

1Daß es unter dem gleichen Titel eine Videokassette zu Blumenberg gibt (VHS, Düsseldorf 1996), habe ich erst nachträglich festgestellt. Er drängt sich ja auch auf.

2Justus Schottelius, Ethica. Die Sittenkunst oder Wollebkunst, Wolfenbüttel 1669, ND hg. J.J. Berns, Bern-München 1980, S. 479.

3J. Kopperschmidt (Hg.), Rhetorische Anthropologie. Studien zum homo rhetoricus, München 2000.

4Vgl. den Aufsatz von Hartwig Wiedebach in diesem Heft; G. K. Mainberger, Design plündert rhetorische Technik, in: M. Götz, Der TABASCO*-Effekt. Wirkung der Form, Formen der Wirkung. Beiträge zum Design des Design, Basel 2000, S. 203-226.

5H.-G. Gadamer, Theorie, Techne, Praxis [1972], in: GW 4, Tübingen (UTB) 1999, S. 258, S.262.

6Aristoteles, De generatione et corruptione animalium, II 4, 740b 28 f.; II 1, 735a 2 f.

7M. Serres, Éclaircissements, Paris 1994; L. Linsmayer, Genußkultur, industrielle Technik und anthropologischer Wandel, in: R. v. Dülmen (Hg.), Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt a. M. 1988, S. 258-274.

8Nebenbei: Die Spitze der reputiertesten Forschungsbranche spricht immer noch alteuropäisch, nämlich griechisch/lateinisch…

9K.P. Rippe, Die Freiheit auf Fortpflanzung sichern, in: Tages-Anzeiger, 26.2.2000, Nr. 48.

10In den USA kann man im Internet das Sperma eines jungen Mannes für 4000 Dollar kaufen, dessen Stammbaum angeblich zu zwei europäischen Königsfamilien und sechs katholischen Heiligen zurückreicht. – Vgl. Th. M. Mannsdorfer, Pränatale Schädigung. Außervertragliche An­sprüche pränatal geschädigter Personen, Freiburg i. Ü. 2000.

11Die Substantivendungen -ik waren im griechischen die Endungen der zur téchnê gehörenden Adjektive: grammatikalische, rhetorische, politische, jetzt genomische, biologische Technik.

12In England soll, laut Bericht vom 4.4.2000, vermutlich das Klonen menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken freigegeben werden. Argument: Der Nutzen des Verfahrens für Kranke überwiege bei weitem die ethischen Bedenken.

13N. Etcoff, Schönheit – Geheimrezept der Natur, NZZ, 19./20.02.2000, Nr. 42, S. 101; unüber­trefflich dazu: V. Albus, Gut abgehangen. Über die profane Lust und Last mit der Gestalt des Fleisches, in: Design report 09, 1999, S. 058-059.

14Vgl. J. McDowell, Geist und Welt, Potsdam 1998, und das echt entspannende Interview in: Information Philosophie 1/00, S. 24-30.

15Aeternitas igitur est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio. Boethius, Trost der Philosophie, V, 6p 9-11, lat.-dt. E. Gegenschatz/O. Gigon, Zürich-München 1986, S. 262/263.

16J. Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie u. Wissenschaftstheorie I, Stuttgart/Weimar 1995, S. 317, s.v. Biologie.

17F. Jacob, Le jeu des possibles. Essai sur la diversité du vivant, Paris 1981. – Der Bios trat schon immer im Zusammenhang mit Techne in den Gesichtskreis des Menschen, als theoretisch-spekulativer Topos wie als Schauplatz technischer Umformung. ,Philosophie der Lebenskunst' wird von Wilhelm Schmid enzyklopädisch rekonstruiert (Frankfurt a. M. 31998); Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a. M. 1989, verschärfend und im Akt der Umbe­setzung, erörtert das Leben unter den Bedingungen der Höhle, beendet damit in einem auch die Diskriminierung der Schatten und versagt sich der Hermeneutik der Texte, um endlich de­ren geschichtliches Potential frei bedenken zu können. ,Nachdenken über Hans Blumenberg' führt für F.J. Wetz/H. Timm (Hg.) zur ,Kunst des Überlebens'' (Frankfurt a. M. 1999).

18M. Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1949.

19P. Brown, Die letzten Heiden. Eine kleine Geschichte der Spätantike, Berlin 1987; ders., Die Keuschheit der Engel, München 1991.

20Ders., Die Entstehung des christlichen Europa, München 1996, S. 168.

21K. Flasch, Logik des Schreckens. Augustin von Hippo. Die Gnadenlehre von 397. De diversis quaestionibus ad Simplicianum I,2, CCSL 44, lat.- dt., Mainz 21995.

22Die Formel der Lehre lautet korrekt: status naturae lapsae; ihm ging der Stand der integren Natur voraus, der ursprüngliche Stand zwischen Schöpfungsmorgen und Sündenfall, gefolgt vom Gnadenstand nach der Erlösung. Die Schöpfungs- und Sündenfall- und Heilsanthropo­lo­gie argumentiert nicht mit dem evolutionistischen Naturbegriff, sondern verknüpft mit ,Natur' die für das Selbstverständnis der mittelalterlichen Gesellschaft letztmaßgebliche Kategorie des Sta­tus, des Standes. Noch für John Rawls ist der Urzustand eine unentbehrliche Verstehens­hypothese. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975, s. Index s.v. Urzustand.

23A. Vollmer, Heißer Friede. Über Gewalt, Macht und das Geheimnis der Zivilisation, Köln 1995; R. Girard, Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987; P. Sloterdijk macht sich Girards Entste­hungsmodell der Entdifferenzierung und der mimetischen Gewalt zu eigen, um darauf seine Analyse der medialen Gesellschaft zu entwickeln. P. Sloterdijk/H.-J. Heinrichs, Die Sonne und der Tod. Über mentale Gitterstäbe, Erregungslogik und Posthumanismus sowie über die Un­heimlichkeit des Menschen bei sich selbst, in: Lettre International 48, Frühling 2000, S. 32-47.- Vgl. dazu mein Postscriptum.

24Zit. in H.-J. Luhmann, Der Homo industrialis und der Klimawandel. Auf der Suche nach der verlorenen Erinnerung an das Erschrecken über sich selbst, in: NZZ, 29.03.2000, Nr. 75, S. 79.

25Statement von D.B. Linke, in: Der verpflanzte Kopf, in: Das Magazin (Tages-Anzeiger), Nr. 24, 17.-23.6.2000, S. 30.

26Accipite armaturam Dei (Empfanget die Ausrüstung Gottes) steht auf einem Tafelbild, das die Werkzeuge zur Geißelung, Dornenkrönung und Kreuzigung darstellt. Das Museumsstück wird gegenwärtig im Kloster Einsiedeln gezeigt. Herkunft: Schweiz, 18. Jahrhundert.

27E. G. Woltersdorf, Der Schächer am Kreuz. Das ist, Vollständige Nachricht von der Bekehrung und seeligem Ende hingerichteter Missethäter, gesammelt und mit Anmerkungen begleitet, 2 Bde., Budißin-Görlitz 1761/62, Bd. I, S. 38 ff., zit. in: K.-H. Kittsteiner, Die Entstehung des mo­dernen Gewissens, Frankfurt a. M. 1991, S. 340 ff.

28Postum herausgegeben von R. Löwenthal, Stuttgart 1991, bes. die Kapitel Todesantinomien und Kulturgeneration (S. 83-119), Urverbrechen und ,gesellschaftliche Paranoia' (S. 448-459) und Von der heroischen Moral zur spirituellen Erneuerung (S. 460-488).

29In: NZZ, 17. Mai 2000, Nr. 114, S. 67.

30In: NZZ, 5. Mai 2000, Nr. 104, S. 65.

31Nr. 5, Mai 2000, zitiert nach deutscher Übersetzung in der WoZ, Mainummer 2000, S. 1 u. 12; vgl. auch P. Lima, Wenn Genmaterial zur Handelsware wird, ebd. S. 12 f.

32 Der Jahresbericht 1999 des Interfakultären Zentrums Ethik in den Wissenschaften (IZEW), Tübingen, gibt umfassend Rechenschaft über Forschung, Lehre und Publikationen in Schule und Praxis zu diesem Bereich (e-mail: izew@uni-tuebingen.de).

33P. Brown, Die Gesellschaft und das Übernatürliche [1982], Berlin 1993. Brown mustert die Spätantike, östliches und westliches Christentum in der Spätantike sowie das 12. Jahrhundert auf ihr Verhältnis zum Heiligen, zum Wunder und zur Subjektivität durch.

34Die wunderbare Dokumentation zu den bildnerischen Beständen findet sich im Ausstellungs­katalog L'Anima et il Volto. Ritratto e fisiognomica da Leonardo a Bacon, hg. von Flavio Caroli, Mailand 1998 (Mailand, Palazzo Reale 30.10.1998-14.3.1999).

Über Mainberger Gonsalv K. 6 Artikel
Dr. phil., lic. theol., geboren 1924, Ausbildung in aristotelisch-scholastischer Philosophie und Theologie an der Universität Fribourg. Er war Lehrbeauftragter am Philosophischen Institut der Schiller-Universität Jena von 1991-1992; Lehrbeauftragter für rhetorische Textanalyse am theologisch-praktischen Kurs der Theol. Fakultät Bern. Mainberger ist Experte beim Schweizer Fernsehen DRS für Philosophie.

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