Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat entschieden, dass die Grande Nation Palästina im September vor den Vereinten Nationen als eigenen Staat anerkennen wird. Der Präsident sprach in diesem Zusammenhang von einer „moralischen Pflicht“. Kritik aus Israel blieb nicht aus, auch von Seiten der Trump-Administration kam eine kritische Reaktion. Doch wer ist der Franzose wirklich, wie denkt er? Stefan Groß-Lobkowicz begibt sich auf Spurensuche.
Der Aufstieg von Emmanuel Macron
Emmanuel Macron, geboren 1977 in Amiens, ist eine der bedeutendsten und zugleich kontroversesten politischen Figuren der letzten Jahrzehnte. Mit seiner Wahl zum Präsidenten der Französischen Republik im Jahr 2017 führte er nicht nur sich selbst, sondern auch seine Bewegung „La République En Marche!“ (LREM) an, die als Revolution auf der politischen Bühne Frankreichs betrachtet wurde. Durch seinen Sieg über etablierte politische Parteien und die Neugründung einer politischen Bewegung, die nicht den traditionellen linken oder rechten Ideologien verpflichtet war, stellte er sich als Kandidat der „neuen Mitte“ dar, als jemand, der das politisch festgefahrene Frankreich herausfordern würde. Doch die Frage bleibt: Was treibt Emmanuel Macron an? Was ist seine Vision, und wie plant er, die Herausforderungen einer zunehmend polarisierten und globalisierten Welt zu meistern? Um diese Fragen zu beantworten, ist es unerlässlich, nicht nur seine politische Laufbahn, sondern auch die philosophischen und intellektuellen Wurzeln zu betrachten, die sein Denken prägen.
Ausbildung und intellektuelle Wurzeln
Die Grundlage für Emmanuel Macrons politische Philosophie wird in seiner akademischen Ausbildung und seinem frühen intellektuellen Leben gelegt. Schon als Jugendlicher zeigte er ein starkes Interesse an Philosophie, was ihm die Tür zu einer der anspruchsvollsten Universitäten in Frankreich öffnete. An der Universität Paris-Nanterre studierte er Philosophie und widmete sich intensiv der Arbeit von bedeutenden Denkern wie Paul Ricœur, Hegel und auch Marx. Besonders Ricœur prägte Macrons Denken. Die Vorstellung, dass der Mensch und die Gesellschaft sich in einem fortwährenden Prozess des Werdens befinden, spielte eine zentrale Rolle in seiner Dissertation, die sich mit der Theorie der Erzählung und der Interpretation von Geschichte befasste. Macrons Philosophie ist durchzogen von der Überzeugung, dass Politik nicht nur eine Technik des Regierens ist, sondern ein ethisches Projekt, das darauf abzielt, die Gesellschaft in eine bessere Zukunft zu führen.
Nach seinem Abschluss in Philosophie entschied sich Macron für die École nationale d’administration (ENA), eine der renommiertesten Institutionen Frankreichs, die Führungskräfte für den öffentlichen Dienst ausbildet. Diese Entscheidung unterstrich seinen Pragmatismus – er wollte das abstrakte Denken der Philosophie mit der praktischen Anwendung in der politischen Verwaltung verbinden. An der ENA erwarb er die nötigen Fähigkeiten, um später die höchsten politischen Ämter in Frankreich zu bekleiden. Doch auch seine Zeit als Investmentbanker bei Rothschild & Co prägte sein Denken und half ihm, ein tiefes Verständnis für die Finanzmärkte und die wirtschaftlichen Herausforderungen der Globalisierung zu entwickeln. In dieser Zeit erkannte er die Notwendigkeit, die Wirtschaftspolitik mit sozialer Verantwortung zu verbinden – eine Haltung, die später in seiner Präsidentschaft von zentraler Bedeutung wurde.
Macrons politische Philosophie
Die politische Philosophie von Emmanuel Macron lässt sich als eine Synthese aus verschiedenen Strömungen beschreiben, wobei der pragmatische Ansatz im Vordergrund steht. Obwohl seine politische Karriere als Vertreter der „Mitte“ begann, umfasst seine Philosophie Elemente des Neoliberalismus und Sozialliberalismus, kombiniert mit einer tiefen Überzeugung von der Bedeutung der europäischen Einigung und der internationalen Kooperation.
Neoliberalismus und Sozialliberalismus
Macrons wirtschaftliche Philosophie zeigt deutliche neoliberale Züge, da er einen starken Glauben an die Marktwirtschaft und den Wettbewerb als Motor für Innovation und Wohlstand hegt. Er strebt danach, den französischen Arbeitsmarkt flexibler und wettbewerbsfähiger zu gestalten, um Frankreich aus den wirtschaftlichen Herausforderungen herauszuführen. Eine seiner ersten Amtshandlungen als Präsident war die Reform des Arbeitsrechts, die darauf abzielte, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren und Unternehmen mehr Freiheiten zu gewähren, was als notwendig angesehen wurde, um die Arbeitslosigkeit zu senken und das Wirtschaftswachstum zu fördern.
Doch trotz seines neoliberalen Ansatzes für die Wirtschaft verfolgt Macron auch eine sozialliberale Politik, die die Schaffung eines starken sozialen Sicherheitsnetzes beinhaltet. Er sieht es als Aufgabe des Staates, für soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit zu sorgen, gleichzeitig aber die notwendigen wirtschaftlichen Bedingungen für Wachstum und Innovation zu schaffen. Er ist davon überzeugt, dass der Staat eine bedeutende Rolle bei der Bekämpfung von Ungleichheit spielen muss, während er gleichzeitig den privaten Sektor als Haupttreiber von Innovation und Wohlstand begreift.
Pragmatismus als Schlüsselstrategie
Ein zentrales Merkmal von Macrons politischer Philosophie ist der Pragmatismus. Er lehnt es ab, in starren ideologischen Kategorien zu denken, und bevorzugt vielmehr eine praxisorientierte Herangehensweise, die sich auf konkrete Lösungen für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts konzentriert. Dies wird besonders deutlich in seiner Politik, die häufig als technokratisch wahrgenommen wird, da sie auf Fakten, Effizienz und der Schaffung von Lösungen auf der Grundlage aktueller Daten basiert, anstatt sich strikt an ideologische Vorgaben zu halten. Dies erklärt seine Fähigkeit, sowohl konservative als auch sozialliberale Elemente in seine Politik zu integrieren, was ihn zu einem flexiblen und anpassungsfähigen Denker macht, der bereit ist, den politischen Diskurs von traditionellen Dogmen zu befreien.
Macrons Vision für Europa
Emmanuel Macron sieht die Europäische Union nicht nur als ein wirtschaftliches Projekt, sondern als einen politischen Raum, in dem die europäischen Werte von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten bewahrt und weiterentwickelt werden können. Für ihn stellt die EU eine einzigartige Möglichkeit dar, die Herausforderungen der Globalisierung kollektiv zu meistern, ohne dabei die europäischen Werte zu gefährden. Diese Vision ist tief in seiner politischen Philosophie verwurzelt, die sowohl von einer Ablehnung des Nationalismus als auch von einem tiefen Glauben an internationale Zusammenarbeit geprägt ist.
Die Europäische Union: Ein Ort der Zusammenarbeit und der Werte
Macron betrachtet die EU als einen Schutzraum, der es den Mitgliedsstaaten ermöglicht, ihre Werte in einer zunehmend unsicheren Welt zu bewahren. In einer Zeit, in der Populismus und Nationalismus in vielen Ländern Europas zunehmen, stellt Macron die EU als Bollwerk gegen diese Tendenzen dar. Er fordert eine tiefere politische Union innerhalb der EU, insbesondere in den Bereichen Verteidigung, Außenpolitik und innere Sicherheit. Für Macron bedeutet europäische Zusammenarbeit nicht nur wirtschaftliche Integration, sondern auch ein politisches Zusammenwachsen, das die Grundlage für eine starke geopolitische Präsenz auf der Weltbühne schafft.
Seine Vision umfasst eine europäische Armee, die es der Union ermöglichen würde, unabhängig und mit einer gemeinsamen Strategie in internationalen Konflikten aufzutreten. Ebenso strebt er eine engere Zusammenarbeit in der Außenpolitik an, um als EU geeint und mit einer Stimme in globalen Angelegenheiten aufzutreten.
EU-Erweiterung und Reform
In Bezug auf die Erweiterung der EU ist Macron vorsichtig. Während er grundsätzlich für eine Erweiterung der Union ist, betont er, dass diese nur unter strengen Bedingungen erfolgen darf. Er fordert, dass die bestehenden Mitgliedsstaaten zunächst weiter integriert und reformiert werden, bevor neue Länder aufgenommen werden. Für Macron muss die Union nicht nur in ihrer geografischen Ausdehnung, sondern auch in ihrer politischen und wirtschaftlichen Integration wachsen. Er warnt davor, dass eine zu schnelle Erweiterung die Union destabilisieren könnte und dass eine tiefere Integration der bestehenden Mitglieder Vorrang haben muss.
Macrons Haltung zu Palästina und die geopolitische Stellung Frankreichs
Macrons Haltung zum Nahostkonflikt, insbesondere zur Frage Palästinas, ist in der französischen Außenpolitik von großer Bedeutung. Am 24. Juli 2025 äußerte er sich mit Besorgnis über die anhaltenden Spannungen und Gewalt in der Region. Er bekräftigte seine Unterstützung für eine Zwei-Staaten-Lösung, die sowohl die Rechte der Palästinenser als auch die Sicherheit Israels berücksichtige. Für Macron ist dies der einzige Weg zu einem dauerhaften Frieden, wobei er immer wieder betont, dass Frankreich eine Vermittlerrolle spielen könne und müsse.
Er kritisierte die fortgesetzte Siedlungspolitik Israels und die wiederholte Gewalt durch palästinensische Gruppen, die beide die Chancen auf einen Friedensprozess untergraben würden. In seiner politischen Agenda setzt Macron auf diplomatische Lösungen und drängt auf einen gerechten und ausgewogenen Friedensprozess, der beide Seiten in den Dialog einbezieht und zu einer nachhaltigen Lösung führt.
Das deutsch-französische Verhältnis in den letzten 30 Jahren
Die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich haben in den letzten 30 Jahren immer wieder eine Schlüsselrolle in der europäischen Integration gespielt. Dabei prägten unterschiedliche politische Führer auf beiden Seiten der Grenze das Verhältnis zwischen den beiden Ländern.
Die Ära Kohl-Mitterrand (1980er bis frühe 1990er)
Unter Helmut Kohl und François Mitterrand erreichte das deutsch-französische Verhältnis einen historischen Höhepunkt. Beide Staatsmänner waren sich der Bedeutung ihrer Länder für die europäische Integration bewusst und trugen maßgeblich zum Erfolg des Maastricht-Vertrags von 1992 bei, der die Grundlage für die Schaffung der Europäischen Union bildete. Mitterrand und Kohl entwickelten ein starkes persönliches Verhältnis, das auch die deutsch-französische Zusammenarbeit in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands prägte.
Schröder-Chirac (1990er bis frühe 2000er)
Mit Gerhard Schröder und Jacques Chirac setzten die beiden Länder ihre enge Zusammenarbeit fort. Schröder verfolgte eine marktwirtschaftlich orientierte Reformagenda, während Chirac versuchte, die französischen sozialen Standards zu wahren. Trotz dieser Differenzen arbeiteten sie gemeinsam an der Schaffung des europäischen Binnenmarktes und der Einführung des Euro.
Merkel-Sarkozy bis Macron-Merkel (2005 bis 2017)
In der Ära von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy gab es stärkere Spannungen, insbesondere während der Finanzkrise von 2008 und der Eurokrise, als Merkel auf strikte Sparmaßnahmen setzte, während Sarkozy versuchte, die Wirtschaft zu stimulieren. Die Zusammenarbeit war oft von Differenzen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik geprägt, doch trotz dieser Unterschiede blieb das deutsch-französische Verhältnis stabil.
Macron, der seit 2017 Präsident ist, verfolgt eine noch tiefere Integration und fordert eine stärkere europäische Zusammenarbeit. Im Gegensatz zu Merkel, die oft einen vorsichtigen Konsensansatz verfolgte, betont Macron die Notwendigkeit einer schnellen und entschlossenen politischen Union in Europa.
Macrons Politik im europäischen Kontext
Emmanuel Macron hat sich als zentrale Figur der europäischen Politik etabliert. Mit seiner Vision eines vereinten, starken Europas und seiner Bereitschaft, sowohl nationale als auch europäische Herausforderungen anzugehen, hat er das politische Umfeld Frankreichs und der EU nachhaltig beeinflusst. Doch die kommenden Jahre werden zeigen, wie weit er seine ambitionierten Ziele umsetzen kann und ob er in der Lage ist, Europa aus der aktuellen Krise der politischen Fragmentierung zu führen.
