Amira Mohamed Ali: Das sogenannte Entlastungspaket der Bundesregierung ist eine Frechheit!

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Millionen Menschen in Deutschland haben Angst. Sie haben Angst vor dem Brief des Energieversorgers, der die Preise verdoppelt oder sogar verdreifacht. Sie haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Immer mehr Unternehmen sind von der Insolvenz bedroht oder bereits drin. Diejenigen, die ein paar Ersparnisse haben, haben Angst, dass dieses kleine Polster von der Inflation aufgefressen wird, und all die vielen Millionen, die keine Ersparnisse haben, wissen überhaupt nicht mehr, wie sie über diesen Winter kommen sollen.

Die aktuellen Preissteigerungen fressen im Schnitt ein ganzes Monatseinkommen pro Jahr auf. Das hat dramatische Folgen nicht nur für die direkt betroffenen Menschen, sondern auch für die gesamte deutsche Wirtschaft. Dieser Kaufkraftverlust wirkt schon jetzt verheerend.

Herr Scholz, Sie haben sich in Ihrer Rede einen guten Teil der Zeit an Friedrich Merz abgearbeitet, um zu zeigen, wer hier der tollere Hecht im Teich ist. Ich meine, das erfreut vielleicht Ihre Fanbase hier im Raum, aber es ist der Lage in diesem Land wirklich nicht angemessen. Das muss ich einmal sagen.

Herr Scholz, Sie werden nicht müde, zu behaupten, dass keiner alleingelassen würde. Leider stimmt das nicht, und das wissen die Menschen auch. Das wird nicht dadurch besser, dass Sie sich den Worten einer berühmten Fußballhymne bedienen und immer wieder „You’ll never walk alone“ erklären. Es stimmt nicht. Denn was Sie hier als sogenanntes Entlastungspaket vorlegen, ist – ich muss es so sagen – einfach eine Frechheit.

Bevor ich da ins Detail gehe, gucken wir uns nur einmal die groben Zahlen an. Das neue Entlastungspaket soll ein Volumen von 65 Milliarden Euro haben. Alle drei Entlastungspakete sollen ein Gesamtvolumen von 96 Milliarden Euro haben. Ob die Zahlen stimmen, ist übrigens zweifelhaft.

Aber selbst wenn sie stimmen, ist das immer noch weniger Geld, als Sie über Nacht für das Sondervermögen für die Bundeswehr einfach aus dem Ärmel gezogen haben. Das waren runde 100 Milliarden Euro.

Dafür wurde die Schuldenbremse ausgesetzt. Für die Unterstützung der Bevölkerung wird sie es nicht. Und während die Koalition sich über die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr über Nacht einig war, wird über die Entlastungen für die Bevölkerung gestritten und gerungen, wochenlang, damit man bloß nicht aus Versehen jemanden bedenkt, der es Ihrer Meinung nach nicht verdient hätte. Und auch hier wird bestenfalls wieder gekleckert. Es wird eben nicht geklotzt; dabei wäre das dringend notwendig.

Sie konnten sich ja nicht mal dazu durchringen, dass Maßnahmen, die nachweislich die Inflation gebremst haben – der Tankrabatt, das 9‑Euro-Ticket –, verlängert werden. In meinem Wahlkreis in Niedersachsen kostet das Regionalticket jetzt wieder 190 Euro statt 9 Euro im Monat. Meinen Sie, die Pendler geben Ihnen recht, wenn Sie denen sagen: „You’ll never walk alone“?

Es soll jetzt eine Nachfolgeregelung kommen. Sie ist ziemlich kompliziert, und vor allem soll sie über die Länder mitfinanziert werden. Sie wissen aber, dass viele Länder das finanziell überhaupt nicht stemmen können. Das ist doch eine Luftnummer, das ist die Wahrheit.

Ich meine, Sie stellen sich hier ernsthaft hin und versuchen, es als großen sozialen Wurf zu verkaufen, dass Sie den Rentnerinnen und Rentnern nach massivem Druck von uns, von der Linken, von Sozialverbänden, von der Öffentlichkeit endlich auch das mickrige Energiegeld in Höhe von 300 Euro zukommen lassen wollen. Studierende kriegen sogar nur 200 Euro. Beides reicht überhaupt nicht aus, um die tatsächlichen Teuerungen abzufangen. Das ist doch einfach nur ein Witz, Kolleginnen und Kollegen.

Kommen wir mal zum Kindergeld. 18 Euro Erhöhung, ja, Wahnsinn! Dass Ihnen das nicht peinlich ist. Im Koalitionsvertrag steht die Kindergrundsicherung drin. Die kommt nicht; stattdessen kommt diese lächerliche Erhöhung. Sie speisen das in Ihr Entlastungspäckchen ein, damit Sie behaupten können, für Kinder wäre auch was drin. Wissen Sie eigentlich, wie viel teurer Schulhefte, Stifte und andere notwendige Dinge geworden sind? Jetzt zum Schulanfang ist es für viele Familien ein echtes Problem, sich das leisten zu können. Das ist die Wahrheit. Die Lebensmittelpreise sind im letzten Jahr im Schnitt um 20 Prozent gestiegen. Die Kindergelderhöhung macht nicht mal 10 Prozent aus.

Das heißt, dass die Eltern, die das Kindergeld brauchen, um über den Monat zu kommen, jetzt bei sich sparen müssen, um ihre Kinder noch ernähren zu können. Das ist bereits jetzt die Realität in vielen Familien. Was meinen Sie denn, wie gut das bei denen ankommt, wenn Sie immer wieder sagen: „You’ll never walk alone“?

Kommen wir jetzt zum Bürgergeld. Ich meine, das klingt vielleicht besser, aber es ist leider nichts anderes als Hartz IV, Hartz IV für Arme; das ist leider wörtlich gemeint. Die Erhöhung um 50 Euro ist nicht mal der Inflationsausgleich, nicht mal ansatzweise. Das ist in Wirklichkeit überhaupt keine Erhöhung. Die Menschen in Grundsicherung werden weiter von Ihrer Politik abgehängt; das ist die Wahrheit.

Und was sagen Sie all den vielen, die seit Jahren gezwungen sind, bei der Tafel anzustehen, und die jetzt nicht mal mehr dort genug Lebensmittel kriegen, weil auch die Tafeln unter Druck sind? Stellen Sie sich da daneben, und sagen Sie denen: „You’ll never walk alone“? Ich glaube, nicht. Das betrifft inzwischen schon 2 Millionen Menschen in unserem Land. Die müssen zur Tafel gehen; die Tendenz ist steigend.

Laut dem Forschungsinstitut für Wärmeschutz in München müssen Menschen in schlecht gedämmten Wohnungen bei den aktuellen Preisen bereits mit Energiekosten von rund 4 500 Euro pro Jahr rechnen. Letztes Jahr waren das noch 1 800 Euro. Die Kosten haben sich mehr als verdoppelt. In Einfamilienhäusern, auch wenn sie gedämmt sind, steigen die Energiekosten von 2 800 auf 7 200 Euro pro Jahr. Diese Preisexplosion muss gestoppt werden. Aber leider tun Sie das nicht, und Ihre angekündigte Strompreisbremse ist leider jetzt schon eine Luftnummer, einmal, weil die Teuerungen eben nicht nur den Strombereich betreffen, sondern den gesamten Energiebereich, aber vor allem, weil diese Strompreisbremse nur dann kommen soll, wenn sie durch eine Übergewinnsteuer gegenfinanziert wird, die wiederum davon abhängt, dass die EU-Kommission dafür grünes Licht gibt. Andere Länder haben längst eine Übergewinnsteuer eingeführt. Warum verstecken Sie sich hinter Brüssel? Sie sagen: Erst wenn es in Brüssel nicht klappt, dann wird eine nationale Regelung erwogen. Sie tun ja so, als hätte die Lösung dieser Probleme noch ewig Zeit. Nein, die Menschen brauchen jetzt die Unterstützung!

Darum wären auch Direktzahlungen, die wirklich Wirkung entfalten, jetzt wichtig. Wir fordern mindestens 125 Euro pro Monat, also 1 500 Euro pro Jahr, für jeden Haushalt mit kleinem und mittlerem Einkommen.

Denn der Kaufkraftverlust ist verheerend. Immer mehr Betriebe, Bäckereien, Friseure, die die Preise aufgrund der steigenden Kosten erhöhen mussten, sehen, dass ihre Kunden wegbleiben, weil sie einfach nicht mehr das Geld haben, da hinzugehen. Der Chef des ifo-Instituts Clemens Fuest sagte über die Maßnahmen der Bundesregierung, dass diese die Rezession in diesem Winter nicht verhindern werden – ein vernichtendes Urteil. Das Institut der deutschen Wirtschaft rechnet damit, dass es bei den steigenden Preisen 300 000 zusätzliche Arbeitslose im Jahr 2023 geben wird. Haben Sie den Mitarbeitern im Jobcenter schon durchgestellt, was sie den verzweifelten Menschen von Ihnen ausrichten sollen: „You’ll never walk alone“? Sagen Sie denen zum Trost: „Irgendwann kommt vielleicht mal eine Strompreisbremse, wenn Brüssel mitspielt“? Das reicht nicht.

Kolleginnen und Kollegen, dieser Energiemarkt muss reguliert werden, das ist die Wahrheit. Wenn man einmal gesehen hat, dass der Markt es nicht richtet, dann doch jetzt. Wir brauchen eine funktionierende staatliche Preisaufsicht, und wir brauchen eben auch einen Preisdeckel für die gesamte Energie für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Das ist dringend notwendig.

In Frankreich wurde ein Preisdeckel eingeführt. Da übernimmt der Staat die Differenz zwischen dem festgelegten Verbrauchspreis und dem tatsächlichen Marktpreis.

Warum geht das nicht bei uns? Ja, ich weiß ja die Antwort: Dafür ist angeblich kein Geld da; denn es gibt ja die Schuldenbremse, das Lieblingskind von Herrn Lindner.

Ich möchte es Ihnen mal sagen: Wenn Sie trotz dieser historischen Krise lieber an Ihrem Fetisch „Schuldenbremse“ festhalten wollen, anstatt zu verhindern, dass immer größere Teile der Bevölkerung in die Armut getrieben werden, dann ist das einfach nur verantwortungslos.

Wenn Sie trotz dieser historischen Krise, die die Bevölkerung in ihrer Breite trifft, nicht einmal darüber nachdenken, die Vermögensteuer wieder einzuführen, wie SPD und Grüne das noch im Wahlprogramm hatten, dann ist auch das einfach nur verantwortungslos. Ich meine: Wenn nicht jetzt, wann dann, bitte?

Wenn Sie in dieser Lage, in der von allen Menschen Solidarität erwartet wird, in der angeblich alle den Gürtel enger schnallen sollen, nicht dafür sorgen, dass diejenigen mit dem weitesten Gürtel, denen das überhaupt nicht wehtun würde, wenn sie ihn ein bisschen enger schnallen würden, die teilweise ihr Vermögen in der Krise noch satt vermehren konnten – die Multimillionäre, die Milliardäre –, sich zumindest ein Stück weit angemessen an den Krisenkosten beteiligen, dann fällt mir wirklich absolut nichts mehr dazu ein. Das ist inakzeptabel; es ist unsozial, das nicht zu tun.

Natürlich darf man bei all dem nicht vergessen, dass die Preisexplosion durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verursacht worden ist. Dieser Angriffskrieg kann nicht akzeptiert werden; man musste darauf reagieren. Wir als Linke unterstützen die Sanktionen gegen Putins Machtapparat, gegen die mächtigen Oligarchen, gegen die russische Rüstungsindustrie. Was wir aber kritisieren, das sind Sanktionen, die hauptsächlich die russische Bevölkerung treffen und die in Deutschland, in Europa, im Globalen Süden mehr Schaden anrichten als bei denjenigen, denen man eigentlich schaden sollte, nämlich Putins Kriegsmaschinerie. Wir stellen aber fest: Die Kriegsmaschinerie rollt unbeeindruckt von europäischen Sanktionen leider weiter. In Ländern des Globalen Südens gibt es bereits ernsthafte Versorgungslücken, weil sie beim weltweiten Preiskampf um das Erdgas eben nicht mithalten können. Auch hier bei uns drohen weitere extreme Preissteigerungen, ebenfalls Versorgungslücken. Beides wird zum Wegbrechen ganzer Industriezweige führen. Das darf man nicht geschehen lassen, Kolleginnen und Kollegen.

Darum fordern wir von der Bundesregierung Folgendes: Es muss alles unternommen werden, um auf diplomatischem Wege einen sofortigen Waffenstillstand zu erreichen, damit Friedensverhandlungen beginnen können. Dieser Krieg muss so schnell wie möglich enden.

Zweitens. Sie müssen mit Russland in Verhandlungen über die Gaslieferungen treten, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Das erwartet die Bevölkerung zu Recht. Ich nehme Sie beim Wort, Herr Scholz: Sie haben gesagt, die Sanktionen dürfen Europa nicht härter treffen als Russland. Bitte handeln Sie entsprechend.

Danke schön.

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