Außenministerin Annalena Baerbock: „Zeitenwende“ heißt auch, dass unsere Partner in Europa und der Welt spüren und sich darauf verlassen können

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Es gibt wenige deutsche Worte, die es in den englischen Sprachgebrauch geschafft haben, bekanntermaßen „Schadenfreude“, „Zeitgeist“ oder „Wanderlust“. Der Bundeskanzler hat jetzt ein neues Wort geprägt: „Zeitenwende“. Genau darum geht es in dieser ersten Nationalen Sicherheitsstrategie für unser Land.

Diese Strategie ist nicht nur ein Arbeitsplan; diese Strategie ist ein Spiegel. Sie spiegelt ein neues Verständnis in unserem Land, wie wir im Zuge von Russlands brutalem Angriffskrieg gegen die Ukraine und gegen die europäische Friedensordnung über Sicherheit denken, nämlich nicht mehr nur als Sicherheit durch Militär und Diplomatie, wozu es früher Weißbücher vom Verteidigungsministerium und vom Auswärtigen Amt gegeben hat, sondern Sicherheit als integrierte Sicherheit für all unsere Lebensbereiche.

Genau dieses neue Denken ist eine Zeitenwende. Manche sagen – das habe ich immer gehört -: Ach, das ist ja so banal, dass die Ressorts jetzt miteinander arbeiten. – Aber leider war es in der Vergangenheit eben nicht so normal.

Ich danke dafür und freue mich wirklich sehr, dass an unserem in dieser Nationalen Sicherheitsstrategie niedergelegten Anspruch alle in diesem Deutschen Bundestag, die an Sicherheit, Demokratie und Freiheit glauben, so intensiv, aber auch so kontrovers mitgearbeitet haben. Denn wenn man etwas zum ersten Mal macht, dann braucht es viele gute Ideen, dann braucht es Diskurse, dann braucht es die Bereitschaft, die eigene Sicht auch mal zu überdenken. Genau das wollen wir als Bundesregierung tun: Wir wollen über die Ressorts hinweg zeigen, wie jeder Politikbereich, wie jeder Akteur in unserer Gesellschaft, ob Uni, Stadtwerk oder Bürgerinitiative, ein Teil unserer Sicherheit ist und zu unserer Sicherheit beitragen kann, um unser Land wehrhafter, resilienter und nachhaltiger zu machen mit einer Politik der integrierten Sicherheit, die alle Lebensbereiche umfasst.

Nach dem 24. Februar, mit dem russischen Angriffskrieg bedeutet Sicherheit wieder und noch viel stärker auch, uns vor Krieg und Gewalt zu schützen – leider. Das Verteidigungsministerium, insbesondere aber wir gemeinsam als Deutscher Bundestag haben deswegen ein Sondervermögen auf den Weg gebracht, um die Bundeswehr zu stärken, als starken Bestandteil einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion, als starken Bestandteil einer NATO, die eben nicht nur ihre militärischen Fähigkeiten erhöht, sondern – auch das ist Spiegel der Zeitenwende – endlich miteinander integriert denkt und interoperabel agiert. Wir stärken damit nicht nur die NATO und die Europäische Union, wir stärken auch unsere Freiheitsversicherung.

Aber integrierte Sicherheit bedeutet eben – auch das ist das Neue an dieser Sicherheitsstrategie – mehr als Militär plus Diplomatie. Sie bedeutet auch, dass wir beim Chatten nicht ausspioniert werden. Integrierte Sicherheit bedeutet auch, dass wir in Apotheken alle notwendigen Medikamente bekommen. Integrierte Sicherheit heißt, dass wir morgens weiter die Dusche anstellen können und warmes und sauberes Wasser herauskommt.

Auch hier hört man wieder – das werden wir sicher gleich auch in den Folgereden hören -: Ach, das ist doch alles selbstverständlich. – Aber auch das ist doch der ehrliche Spiegel der letzten Jahre. Weil es eben nicht selbstverständlich war, dass Gasspeicher oder dass Gasleitungen nicht nur wirtschaftliche Projekte sind, sondern auch Teil unserer Sicherheit, haben wir uns selbst gefährdet.

Vor acht Jahren haben wir hier im Deutschen Bundestag diskutiert, warum ein Gasspeicher verkauft wird; einige haben auch gewarnt, dass er nicht verkauft werden sollte. Es war ein Riesenkraftakt, als Wirtschaftsminister Robert Habeck in Hochgeschwindigkeit dafür gesorgt hat, diesen Gasspeicher nicht nur zurückzuholen, sondern ihn mithilfe anderer Partner schnellstens neu zu füllen. Auch das ist ein entscheidender Teil unserer integrierten Sicherheitspolitik.

Weil Sicherheitsfragen eben auch Rohstofffragen sind, weil Sicherheitsfragen im 21. Jahrhundert auch die Sicherheit von Lieferketten und die Sicherheit von kritischer Infrastruktur betreffen, sind Sicherheitsfragen und diese Strategie eben nicht, wie es einige kommentiert haben, bedeutungslos. Es gefährdet unsere kritische Infrastruktur, wenn wir sie nicht schützen, wenn wir unsere Lieferketten auch bei Medikamenten nicht schützen. Deswegen ist dies nicht bedeutungslos, sondern macht uns sicherer, weil wir nicht weiter von Autokraten und Diktaturen abhängig sind.

Diese Sicherheitsstrategie ist ein Prozess von „Working while Writing“ gewesen. Wir haben eben nicht darauf gewartet, bis die Pressekonferenz stattfindet oder die heutige Debatte, sondern mussten manche Dinge bereits umsetzen, während wir noch über Sätze diskutiert und manchmal auch hier im Bundestag gestritten haben, weil die Sicherheit so herausfordernd ist. Deswegen war es auch ein großer Kraftakt des Gesundheitsministers Karl Lauterbach, als er in dem Moment, als es keine Fiebersäfte für Kinder mehr gab – das war ja eindringlich vor Weihnachten -, gesagt hat: „Wir warten jetzt nicht, bis wir mit der Strategie fertig sind“ und bereits umgesetzt hat, was Teil dieser Sicherheitsstrategie ist, zum Beispiel dass bei Ausschreibungen für wichtige Medikamente in Zukunft stärker berücksichtigt wird, ob der Anbieter in Europa oder an anderen Orten dieser Welt produziert.

Auch die Nachhaltigkeit, ein weiterer Bestandteil dieser Sicherheitsstrategie, ist neu. Vor ein paar Jahren haben wir auch hier noch Debatten darüber geführt, ob die Klimakrise eine Herausforderung ist oder nicht. Weltweit erleben wir: Die Klimakrise ist die größte Sicherheitsgefahr dieses Jahrhunderts. Deswegen ist sie auch Teil dieser Sicherheitsstrategie. Aber auch in die Klimaaußenpolitik spielen geopolitische Fragen mit hinein. Diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die mit auf der Weltklimakonferenz in Scharm al-Scheich waren, haben zu spüren bekommen, dass es nicht nur um Verhandlungen in Bezug auf CO2 geht, sondern natürlich auch um geopolitische Machtfragen, gerade mit China.

 „Zeitenwende“ ist nicht nur ein schönes neues Wort, sondern bedeutet eben auch eine Verpflichtung, mehr Verantwortung in dieser Welt zu übernehmen, besonders für Länder, die mit Blick auf die Klimakrise, mit Blick auf regionale Herausforderungen noch verwundbarer sind als wir. Unsere Leitlinie ist klar; sie ist in unserem Grundgesetz verankert. Unsere Sicherheits- und Außenpolitik fußt auf der internationalen Ordnung, auf der Charta der Vereinten Nationen, den Menschenrechten und dem Völkerrecht. Aber auch das wurde in den vergangenen Jahren – und das wird es auch heute noch – immer wieder kontrovers diskutiert: Müssen wir uns so stark für Menschenrechte weltweit einsetzen? Dienen die eigentlich unseren Interessen? – Wir machen in dieser Sicherheitsstrategie auch deutlich: Werte und Interessen sind kein Gegensatz. Der Einsatz für Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und die internationale Ordnung dient unserem Sicherheitsinteresse und unserem Wirtschaftsinteresse.

Ich glaube, bei der Gedenkstunde zum 17. Juni, die wir gerade hatten, wurde noch mal sehr deutlich, warum der Einsatz für Menschenrechte, das Hinschauen, auch wenn es manchmal ausweglos ist, für die Menschen, die in Gefängnissen sitzen, in China oder im Iran, so wichtig ist. Für sie ist es entscheidend, ob wir hinschauen, so wie es für die politischen Gefangenen, die 1953 inhaftiert worden sind, entscheidend war, dass die Welt, dass andere nicht weggeschaut haben. Daher unterstützen wir mit dieser Nationalen Sicherheitsstrategie zum Beispiel die Afrikanische Union bei ihrem Bestreben nach einem Sitz im Sicherheitsrat. Deswegen schauen wir genau hin, was in anderen Ländern dieser Welt passiert, gerade mit Blick auf Frauen und Kinder. „Integriert“ heißt: gemeinsam mit allen Ressorts, aber vor allen Dingen gemeinsam in der Europäischen Union. Daher ist unsere Sicherheitsstrategie eingebettet in das Strategische Konzept der NATO und eingebettet in den Strategischen Kompass der EU.

„Zeitenwende“ ist nicht nur ein Begriff, der jetzt auch im Englischen geprägt wird. „Zeitenwende“ heißt auch, dass unsere Partner in Europa und der Welt spüren und sich darauf verlassen können, dass wir für sie da sind – so wie viele Staaten dieser Welt, insbesondere unsere europäischen Partner, für uns, für unsere Sicherheit für Jahrzehnte da waren.

Herzlichen Dank.

Quelle: Außenministerium

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