Das Heil aus der Höhle – Erich Jooß erzählt von Menschen, die das Kind, das die Welt veränderte, erlebt haben sollen

Mehren sich die Lebensjahre eines Schriftstellers jenseits der 65-er Grenze, sei ihm ein Faible für das seine Helden kennzeichnende Brüchige, Kränkelnde und Gefährdete zugestanden. Es verwundert zudem nicht, dass Erich Jooß, Jahrgang 1946, Meister des religiös Narrativen, die alte Form der ihm zudem bereits mehrfach, auch wissenschaftlich durchleuchteten Legende für ein Bändchen wählte, das in zehnfachem Ansatz dem Geheimnis des Gotteskindes nachspürt.
Die meisten seiner Protagonisten sind, selbst einige der mit ins Spiel gebrachten Tiere, ergraut. „Aaron war alt geworden“, so hebt der erste Text an. Und Jooß wählt auch schon für den ersten seiner Handlungsträger einen Außenseiter, einen Hausknecht. Zum ersten Mal sollte sein Brötchengeber, der Wirt Josias, die Rechnung ohne ihn gemacht haben; denn er ist es, der, entgegen seinem Herrn, dem Herberge suchenden heiligen Paar, das der anstehenden Geburt ihres Erstlings wegen dringend eine Unterkunft benötigt, eine solche verschafft, auch wenn diese eine nasskalte Höhle ist.
Es sollte Aarons letzte gute Tat sein. Seine Atemwegerkrankung warf ihn auf offener nachtdunkler Gasse zu Boden, wo er reglos liegen blieb. „Obwohl er die Augen nicht mehr öffnen konnte“, erzählt Jooß, „sah er deutlich den Himmel über sich …“ Von Licht und Sternen, von Stimmen und Klängen aus der Höhe ist noch oft in diesen Legenden die Rede, in deren Zentrum das Heil der Menschheit in Gestalt eines armseligen Babys gerückt wird. Auch davon, dass – wie Aaron – die handelnden Personen oft nicht wissen, weshalb sie etwas denken. Sie träumen aber. Sie haben Gesichte. Oder sie werden, Aaron gleich, durch die Luft fortgetragen.
Wohltuend, dass gegen Ende des Bändchens doch noch von zwei ziemlich jungen Protagonisten die Rede ist. Eli ist ein kleiner Schlawiner, der, außer den Sternguckern und einem reichen Kameltreiber, arm ist wie alle anderen Hauptdarsteller, der im knochenharten Wirt Mitleid erregt und dem die erzählerisch schönste Stelle im ganzen Buch zu danken ist, an der er, der noch Unerfahrene, aber Hellsichtige, im Fieber, das er sich in der Höhle zugezogen hatte, flüstern darf: „In der Wundernacht … legte sich der Wolf neben das Schaf. Ich habe es gesehen. Die Bäume redeten mit den Menschen, und das Wasser floss zurück zu den Quellen.“ Schöner kann man das Weihnachtswunder kaum beschreiben. Rebecca ist zwölf. Sie „weiß nicht viel von dem göttlichen Kind, und was sie weiß, vermag sie nicht zu einem schlüssigen Bild zusammenzufügen. Trotz ihrer Skepsis führt sie die Soldaten (des Herodes), die nach dem Neugeborenen suchen, absichtlich in die Irre.“
Mit diesen Worten erklärt das siebenteilige Nachwort die Handlungsweise der kleinen Heldin. Wie es überhaupt einige der erfundenen Geschichten deutet – etwa die von „Klumpfuß“, der sich zu den Hirten der heiligen Nacht geschlagen hatte, um, als Revolutionär, bei ihnen unterzutauchen und in dessen Weltanschauung „das Kind armer Leute nicht recht passen“ mag, „jedenfalls nicht als Retter“.
So wie Erich Jooß das Geschehen in der Nacht der Nächte und um sie herum schildert, kann es, muss es aber nicht gewesen sein. Das ist charakteristisch für die Legende. Sie ist eine Narration des Möglichen. Sie rekonstruiert nicht. Dazu sind die Überlieferungen, an die sie sich hängt und von denen sie lebt, zu spärlich. Auch, wie der Legenden-Kenner weiß, zu widersprüchlich. Für den erzählenden Literaturwissenschaftler Erich Jooß kann deshalb gut und gern der Geburtsort Christi eine Grotte, eine Höhle sein, ein wenig abseits vom Ortskern Betlehems gelegen, „und mit einem Personal, das in der Bibel nicht vorkommt“, für das aber die Krippenbauer als Ideengeber in Frage kommen. „Zeitgenössische Legenden müssen wie diese Krippenbauer offen bleiben für den Alltag der Heilung suchen Menschen und ihre kleinen, störrischen Wunder… Weihnachten vor zweitausend Jahren war kein feierliches Hochamt …, es geschah vor den Toren von Betlehem im Prekariat, unter skeptischen, für die Frohbotschaft trotzdem empfänglichen Außenseitern der Gesellschaft.“

Erich Jooß: „Das Kind, das die Welt verändert hat“, Neue Weihnachtslegenden, 120 Seiten, 12,90 Euro, Echter Verlag, Würzburg 2014

Über Hans Gärtner 488 Artikel
Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.

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