Der einsame Tod

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Irgendjemand eines Mietshauses ruft die Polizei, weil ein dort allein wohnender alter Mann längere Zeit nicht mehr aufgetaucht ist. Die Polizei ruft die Feuerwehr. „Technische Hilfeleistung“ wird dieser Vorgang im Fachjargon genannt. Die Feuerwehr bricht die Wohnungstür auf. In der Wohnung liegt die Leiche eines alten Mannes, der allein und einsam gestorben ist. Unbemerkt von anderen. Einfach vergessen. Keiner hat ihn vermisst. Da sich keine Angehörigen finden, die eine Bestattung übernehmen, erfolgt schließlich eine „Amtsbestattung“. Ein trauriges Kapitel ist zu Ende. Eine Form des einsamen Todes, die wohl in der Gegenwart immer häufiger wird. Eine Entwicklung, die der berühmte Soziologe Norbert Elias in seinem Buch „Über die Einsamkeit der Sterbenden“ bereits vor mehr als vier Jahrzehnten beschrieben hat.

Diese in der Gegenwart häufig vorkommende Situation ist auch der Auftakt in dem sehr preisgekrönten Film „Liebe“ von Michael Haneke. Dieser beginnt damit, dass die Feuerwehr eine Wohnungstüre aufbricht. Darin liegt die Leiche einer Frau, feierlich im Schlafzimmer „aufgebahrt“. In dem bedrückenden Film wird das Ehepaar Georges und Anne gezeigt. Sie sind um die 80 Jahre alt und haben Jahrzehnte miteinander als Ehepaar gelebt. Beide sind musisch sehr begabt und waren in ihrer aktiven Zeit Musikprofessoren. Das Paar hatte eine große und sehr gut ausgestattete Stadtwohnung. Eines Morgens wirkt Anne wie abwesend und geistig verwirrt. Es wird eine verengte Halsschlagader festgestellt, die zu Durchblutungsstörungen im Gehirn geführt hat. Kurze Zeit später hat sie einen Schlaganfall und kehrt aus dem Krankenhaus im Rollstuhl als Pflegefall zurück. Anne möchte nicht in ein Heim und will von ihrem Ehemann Georges gepflegt werden, der dies sehr lange liebevoll und aufopferungsbereit tut. Der Gesundheitszustand von Anne verschlechtert sich von Woche zu Woche. Beide sind mittlerweile komplett isoliert und sind zunehmend hilflos und verzweifelt. Schließlich lässt das Sprachvermögen von Anne nach und sie kann sich fast nicht mehr artikulieren. Sie weigert sich zu essen und zu trinken und ruft oft stundenlang um Hilfe. Irgendwann hält es der total verzweifelte Georges nicht mehr aus und erstickt seine Ehefrau Anne mit einem Kissen. Anschließend suizidiert er sich selbst.

Die Uraufführung des Filmes erfolgte am 20. Mai 2012 im Rahmen der 65. Filmfestspiele von Cannes. Er gewann dort mit der Goldenen Palme den Hauptpreis des Filmfestivals. In den Folgejahren erhielt er mehr als 40 Filmpreise, darunter im Jahr 2013 einen Oscar als bester fremdsprachiger Film.

Doppelsuizide von Paaren nach jahrzehntelanger Ehe

In den vergangenen Jahrzehnten kommt es in den westlichen Ländern immer häufiger vor, dass Ehepaare, die jahrzehntelang miteinander gelebt haben, gemeinsam aus dem Leben scheiden. Sie setzen geplant und aktiv ihrem Leben ein Ende. Je nachdem, wie die Tatherrschaft bei der suizidalen Handlung aussieht, gibt es verschiedene Konstellationen (Csef 2016). Ein echter Doppelsuizid liegt vor, wenn sie beide Ehepartner gleichzeitig jeweils selbst suizidieren – in einer gemeinsam geplanten und durchführten Aktion. Es gab eine Reihe von Doppelsuiziden von prominenten Ehepaaren, die sich gleichzeitig eine Plastiktüte über den Kopf zogen und erstickten. Der Schriftsteller Arthur Koestler und seine Ehefrau wählten diese Todesart und auch der Istvan Adorjan und seine Ehefrau. Im Film „Satte Farben vor Schwarz“ injizieren sich Bruno Ganz und Senta Berger gleichzeitig Insulin in einer tödlichen Dosis. Es gibt mehrere Doppelsuizide in Form von assistiertem Suizid durch Sterbehilfeorganisationen. Dies wird in der Schweiz angeboten. Der Manager und Politiker Eberhard von Brauchitsch und seine Ehefrau haben diese Form von Sterbehilfe gewählt und auch der bekannte britische Dirigent Edward Downes und seine Ehefrau.

Von einem erweiterten Suizid spricht man bei Ehepaaren, wenn z.B. der Ehemann die Frau tötet und anschließend sich selbst umbringt. Tötet er sie auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin, so spricht man von Tötung auf Verlangen mit anschließendem Suizid. Im angloamerikanischen Sprachraum wird hierfür meist der Terminus „homicide-suicide“ verwendet (Csef 2016). Im europäischen Vergleich sind die Doppelsuizide von Ehepaaren nach jahrzehntelanger Ehe in Frankreich am häufigsten.

Das einsame Sterben während der Corona-Pandemie

Während der Corona-Pandemie gab es mehrere spezifische und unspezifische Faktoren, die Einsamkeit verstärkt haben. Unspezifische Faktoren sind jene, die die Gesamtbevölkerung betrafen, unabhängig davon, ob sie mit Covid-19 infiziert waren oder nicht. Mehrere Lockdowns betrafen alle Menschen Deutschlands. Staatlich verordnete Kontakteinschränkungen, die bei Übertreten mit Bußgeldern bestraft wurden, schränkten die psychosoziale Kommunikation ein. In Krankenhäusern sowie Alten- und Pflegeheimen gab es Besuchsverbote. Spezifisch betroffen waren infizierte Covid-19-Patienten. Corona wurde zur meldepflichtigen Krankheit erklärt und die Gesundheitsämter verhängten für die Covid-19-Infizierten je nach Gesetzeslage Quarantäne-Zeiten, in denen die Patienten Kontaktverbote einhalten mussten. Ganz besonders betroffen waren jene Corona-Patienten, die auf Intensivstationen beatmet werden mussten. Sie wurden meist sehr kurzfristig oder notfallmäßig ins künstliche Koma versetzt und beatmet – oft wochenlang. In dieser Zeit konnten sie keine Besuche von Angehörigen erhalten – es waren ja lange Zeit Besuchsverbote in den Krankenhäusern. Noch schlimmer war es für die mehr als 136.000 Corona-Toten, die überwiegend in Krankenhäusern starben. Sie starben sehr einsam. Es war eine staatlich verordnete Einsamkeit der Sterbenden – in einer Notlage und Pandemie, wie sie seit mehr als 100 Jahren nicht mehr vorgekommen war (Csef 2021). Sterbebegleitung durch Angehörige im Heim oder im Krankenhaus, Trauerrituale und Beerdigungen in der bisherigen Form waren in den Pandemie-Jahren 2020 bis 2022 oft nicht möglich. Dadurch ist das Sterben für viele noch einsamer geworden, was bei vielen Hinterbliebenen langfristig Schuld- und Schamgefühle auslöste.

Das alltägliche einsame Sterben in Heimen und Krankenhäusern

Mit Abstand die häufigste Form des einsamen Sterbens ist jenes in Alten- und Pflegeheimen sowie in Krankenhäusern. Die Sterbeorte sind statistisch leicht und zuverlässig zu erfassen. Es gibt jedoch wenig Studien, die das Lebensende in diesen Institutionen quantitativ auswerten. Dazu müsste dokumentiert werden, ob die Sterbenden in der Sterbephase oder in der Todesstunde allein waren, oder ob sie von Angehörigen begleitet wurden. In den westlichen Zivilisationsländern existiert ein eigentümliches Sterbeort-Paradox. In Umfragen sagen etwa 80 Prozent der Deutschen, dass sie zu Hause im Kreis der Familie sterben wollen. Tatsächlich sterben aber nur etwa 20 Prozent zu Hause (Csef 2018). Die „Abschiebung“ ins Heim gegen den Willen des alten Menschen unter massivem Druck der Angehörigen oder anderer Menschen ist eine Variante. Eine andere ist die Notfalleinweisung des Sterbenden kurz vor dem Tod ins Krankenhaus. Viele sterben auf dem Transport oder im Klinikflur, noch bevor sie in einem Krankenbett auf der Station einen Platz gefunden haben. Sehr aufschlussreich ist, wie lange die Sterbenden letztendlich im Krankenhaus noch lebten. Bei vielen sind es weniger als 24 Stunden. Wozu? möchte man fragen. Wer darauf besonders drängt und wer am meisten „Druck“ macht, wird meist nicht untersucht. Oft ist es nicht der Sterbende selbst, wenn er offen und ohne Druck gefragt wird. Der Sterbegleiter Ernst Engelke hat die oft hochambivalenten Entscheidungsprozesse am Lebenssende sehr eindrucksvoll beschrieben (Engelke 2012).

Über die Einsamkeit der Sterbenden“ (Norbert Elias) und die Thanatosoziologie

Die Thanatosoziologie ist eine Subdisziplin der Soziologie, die sich besonders mit den gesellschaftlichen Bedingungen des Sterbens beschäftigt . Norbert Elias (1897– 1990) war der erste namhafte Soziologe, der sich der Thanatosoziologie widmete. Er war zuerst Habilitand bei dem Soziologen Alfred Weber, wechselte dann jedoch zu Karl Mannheim. Noch kurz vor Vollendung seiner Habilitationsschrift kam es 1933 zur Machtergreifung Adolf Hitlers. Norbert Elias musste wegen seiner jüdischen Herkunft emigrieren. Er floh zuerst nach Paris, von da an verbrachte er die meiste Zeit des Zweiten Weltkriegs in England. Erst im Alter von fast 80 Jahren kehrte er nach Deutschland zurück. Sein Essay „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“ ist in mehrfacher Hinsicht ein Spätwerk. Es wurde erstmals im Jahr 1979 publiziert – damals war Norbert Elias bereits 80 Jahre alt. In diesem Buch haben seine persönlichen Erfahrungen des Holocaust, der Emigration und des Exils Ausdruck gefunden. Der „sinnlose“ einsame Tod von Millionen von Juden in Konzentrationslagern und Gaskammern beeinflusste nicht unwesentlich seine Gedanken.  Die Beziehungen zwischen den Menschen selbst haben sich verändert und schufen damit neue Sterbebedingungen und andere Sterbeorte. Der rote Faden in seinem Werk „Über die Einsamkeit der Sterbenden“ lautet: „Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Tote Menschen haben keine Probleme.“ Was Elias immer wieder betont, ist die Verdrängung des Todes und damit die Verbannung aus dem alltäglichen Leben. Die Einsamkeit der Sterbenden sieht Elias eingebettet in einen umfassenden Prozess der kollektiven Vereinsamung und der Anonymisierung des Lebens. Damit sei eine gewisse Sprachlosigkeit und Gefühlsverarmung verbunden.

In dem umfangreichen Einsamkeit-Buch, das im Jahr 2018 von Thomas Hax-Schoppenhorst herausgegeben wurde, finden sich drei sehr lesenswerte Kapitel über das einsame Sterben.

Gesundheitspolitische Herausforderungen durch die Einsamkeit der Sterbenden

Seit einigen Jahren ist Einsamkeit Thema der Gesundheitspolitik geworden. In England wurde ein „Einsamkeits-Ministerium“ geschaffen. In der Bundesrepublik Deutschland hat sich in den letzten Jahren mehrmals der Deutsche Bundestag mit dem Thema Einsamkeit befasst und gesundheitspolitische Initiativen beschlossen. Sie bestehen überwiegend aus der Finanzierung von psychosozialen Fördermaßnahmen zur Verbesserung der Einsamkeit, von Präventionsmaßnahmen zur Reduktion von Risikofaktoren für Einsamkeit und schließlich in der Bewilligung von Forschungsgeldern für neue Forschungsprojekte. Der weltweit bekannteste Einsamkeits-Experte John Cacioppo hat in zahlreichen Publikationen Ansätze zur Verringerung von Einsamkeit vorgelegt (Zusammenfassung bei Cacioppo & Patrick 2011)

Die Politikerin Diana Kinnert und der Journalist Marc Bielefeld haben die gesundheitspolitische Relevanz kürzlich neu diskutiert und mit ihrem Buch die gesellschaftspolitische Bedeutung hervorgehoben (Kinnert & Bielefeld 2021). Das deutsche Familienministerium gründete das „Kompetenznetz Einsamkeit“. In Österreich wird seit zwei Jahren um den „Pakt der Einsamkeit“ gerungen. Konkrete Beschlüsse und das Umsetzen im Handeln stehen in beiden Ländern noch aus. Seit Jahren binden „größere Krisen“ – wie z.B. die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg – die Kräfte. Die sehr renommierte Ökonomin Noreena Hertz hab kürzlich in ihrem Bestseller „Das Jahrhundert der Einsamkeit“ die große gesellschaftliche und politische Relevanz dieses Leidenszustandes verdeutlicht (Hertz 2021). Die Einsamkeit der Sterbenden ist schließlich der letzte Akt einsamer Daseinsformen.

Literatur

Cacioppo, John & Patrick, William (2011), Einsamkeit – Woher sie kommt, was sie bewirkt, wie man ihr entrinnt. Heidelberg: Spektrum

Csef, Herbert (2016), Doppelsuizide von Paaren nach langer Ehe. Verzweiflungstaten oder Selbstbestimmung bei unheilbaren Krankheiten?  Internationale Zeitschrift für Philosopie und Psychosomatik. Jahrgang 2016, Ausgabe 1, S. 1 – 10

Csef, Herbert (2018), Die Einsamkeit der Sterbenden. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. Jahrgang 2018, Ausgabe 2: 1-10

Csef, Herbert (2018), Ist Einsamkeit wirklich die Todesursache Nummer eins? – Eine Kritik an Manfred Spitzers Einsamkeitsbuch. Tabularasa Magazin vom 23.10.2018

Csef, Herbert (2021), Bilder des Todes. Wie Corona-Tote unser Leben verändern. Tabularasa Magazin vom 12. Oktober 2021

Elias, Norbert (1982), Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Humana conditio. Berlin: Suhrkamp

Engelke, Ernst (2012), Gegen die Einsamkeit Sterbenskranker. Freiburg: Lambertus

Hax-Schoppenhorst, Thomas (Hrsg., 2018), Das Einsamkeits-Buch: wie Gesundheitsberufe einsame Menschen verstehen, unterstützen und integrieren können. Bern: Hans Huber

Hertz, Noreena (2021), Das Zeitalter der Einsamkeit. Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt: London: Harper Collins

Kinnert, Diana & Bielefeld, Marc (2021), Die neue Einsamkeit. Hamburg: Hoffmann & Campe

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Csef_h@ukw.de

Über Herbert Csef 136 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.