Die Antwort eines evolutionären Humanismus auf heutige Menschheitsprobleme wie dem Klimawandel

Angesichts der heutigen Menschheitsprobleme ist es dringend erforderlich, auch das geistige Sein und Verhalten des Menschen umfassend aus der Evolutionstheorie abzuleiten. Es stellt sich so die Frage, inwieweit altbekannte Instinkte wie die Gier nach Macht, Reichtum und Rang für die Probleme verantwortlich sind, und worin dagegen in einem evolutionären Verständnis das eigentlich Menschliche und damit auch die weitere Entwicklung liegt. Einem umfassenden Bekenntnis des Menschen zu seinem evolutionären und darin animalischen Erbe steht jedoch immer noch sein göttliches Selbstbildnis im Wege. Die heutigen Menschheitsprobleme bieten die Chance, das nun allgemein und endgültig zu einem neuen, einheitlichen Weltbild hin zu überwinden und damit die Probleme tiefgründig zu lösen.

Wie stark selbst nichtreligiöse Menschen von dem religiös geprägten Denkmuster noch beeinflusst sind und menschliches Verhalten und Sein nicht natürlich und evolutionär erklären, zeigt das Verständnis der Kriminalität. Aus einer evolutionären Perspektive ist dieses Fehlverhalten nicht auf einen Teufel zurückzuführen, sondern es besteht aus nichts anderem als aus nicht mehr angepassten archaischen oder animalischen Verhaltensweisen. Diese Verhaltensweisen waren nicht immer „böse“, einst waren sie „gut“ bzw. passend. Es ist das alte Recht des Stärkeren, das hier noch in uns schlummert.
Das eigentliche Problem liegt dabei darin, dass, entsprechend der Entstehung des Menschen in der Evolution, zwei völlig unterschiedliche Verhaltensarten und -steuerungen im Menschen wirken. Im Grunde genauso wie es nach Kant auch zwei unterschiedliche Stämme der menschlichen Erkenntnis gibt, die Sinnlichkeit und den Verstand. Während die Instinkte genetisch erworben und gespeichert wurden, darin nicht veränderbar sind und über die Emotionen oder Gefühle stets nur (lernunfähig und unflexibel) in einer Richtung wirken, wird das kulturelle Sein und Verhalten allein über die neuronalen Verknüpfungen gelernt, gespeichert, weitergegeben und ist darin leicht veränderbar.
Diese beiden Verhaltensarten greifen sehr komplex ineinander, was einen Nachweis auf der neuronalen Ebene oder gar der genetischen erschwert bzw. unmöglich macht. Es kann nur theoretisch oder philosophisch erfasst werden, etwa in dem Bild, dass die Begriffe und Vorstellungen wie Boote den Strömungen und Winden eines Meeres (der Gefühle und Emotionen) ausgesetzt sind, auf dem sie schwimmen. Die Boote haben zwar einen eigenen Antrieb, aber es ist mit diesem Antrieb eben leichter und erfolgversprechender, den ursprünglichen Strömungen und Winden zu folgen, anstatt sich ihnen entgegenzustellen. Dabei kann ein unangepasster Instinkteinfluss nicht verändert sondern nur kulturell überdeckt werden. Deswegen kann er jederzeit wieder vollständig hervorbrechen, sowohl im individuellen Verhalten als Kriminalität als auch dem eines ganzen Volkes oder Staates wie etwa im Nationalsozialismus.
Neben der Unveränderbarkeit seines evolutionären Erbes ist das eigentliche Problem des modernen Menschen, dass er sich seines animalischen Erbes und dessen Verhaltensbeeinflussungen überhaupt nicht bewusst ist, was sich in den heutigen Problemen fatal auswirkt bzw. diese Probleme erst schafft. An diesen Menschheitsproblemen und der Unkenntnis ihrer eigentlichen Ursachen offenbart sich so, dass der moderne Mensch sein animalisches Erbe hinsichtlich seines Verhaltens genauso verleugnet wie zu Zeiten Darwins seine Abstammung vom Tier hinsichtlich des körperlichen Seins.
Insbesondere die Religion blockiert ein rein natürliches Verständnis des Menschen. Selbst wenn sie vielleicht gerade noch die evolutionäre Entstehung des körperlichen menschlichen Seins zugestehen kann, so gilt das keinesfalls hinsichtlich des geistigen Seins und Verhaltens. Über das Verhalten als Moralvorschriften definiert der religiöse Glaube seinen Weg, und die übernatürliche Entstehung und Vollendung des geistigen menschlichen Seins ist der Kern jedes religiösen Glaubens. Daher schließen sich hierbei religiöser Glaube (in seinem übernatürlichen Selbstverständnis) und evolutionäre Entstehung grundsätzlich aus.
Doch wer die Religion hier vorschnell zum alleinigen Sündenbock abstempeln will, sollte sich bewusst darüber sein, dass er damit entscheidende Teile der evolutionären Erklärung des Mensch-Seins ignoriert und das dringend benötigte neue menschliche Selbstverständnis so selbst blockiert. Denn wenn es keine übernatürlichen Wesen oder Kräfte gibt, so ist selbstverständlich auch die Religion ein natürlicher Teil der Evolution, und zwar gemessen an ihrer Verbreitung und Vielfalt ein für die menschliche Entwicklung ehemals äußerst wichtiger. Ein umfassender evolutionärer Humanismus muss auch den religiösen Glauben evolutionär verstehen, ansonsten ist das evolutionäre Selbstverständnis als auch die Aufklärung unvollständig. Religiöser Glaube als rein natürlicher Teil oder „Trick“ der Evolution schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich vielmehr.
Wie der religiöse Glaube in einem natürlichen, evolutionären Verständnis wirkte und die Menschheitsentwicklung beeinflusst hat, zeigt sich besonders deutlich an der jüdisch-christlichen Tradition. Zunächst wandelte sich die jüdische Religion von einer polytheistischen Naturreligion, die noch über Tier- und Menschenopfer den Bezug zum Göttlichen herstellte, zu einem monotheistischen Glauben, bei dem ein Text, nämlich die Moralvorschriften der zehn Gebote, das Tieropfer als Bezug zum Göttlichen ablöste. Dieser Text als kulturelle Verhaltensvorschrift, der in der Bundeslade verwahrt wurde, erlangte göttliche Verehrung, stand im Mittelpunkt des Glaubens und ist darin vielleicht sogar als Beginn der allgemeinverbindlichen kulturellen Entwicklung im sozialen Bereich zu sehen, zumindest aber als erster Vorläufer so wichtiger kultureller Einrichtungen und Entwicklungen wie der Justiz und der Menschenrechte.
Diese Moralvorschriften galten zunächst aber nur innerhalb des Stammes bzw. des jüdischen Volkes. Zu anderen Völkern hin war das, was wir heute als Völkermord bezeichnen, nicht nur erlaubt, sondern wurde vom alttestamentlichen Gott sogar ausdrücklich verlangt (5 Mose/Deuteronomium Kapitel 20 Vers 17). Das änderte sich dann mit der Entstehung des Christentums und dem neutestamentlichen Gott mit dem neuen Thema der völkerübergreifenden Nächstenliebe, bei dem die göttliche Anweisung des alten Gottes zur größten Sünde überhaupt wurde.
Aus theologischer Sicht macht diese radikale Kehrtwende, bei der ein Gott auch noch sein Wesen zu einem dreieinigen Gott hin änderte, gar keinen Sinn, ist widersprüchlich und erscheint vollkommen willkürlich. Dabei bestand auch schon der Übergang vom jüdischen Polytheismus zum Monotheismus aus einer solchen Wesensänderung des Göttlichen. Desto mehr liegt dieser Sinn in der evolutionären Perspektive vor, in der das Göttliche wie bei Kant oder Feuerbach nur eine Projektion des Menschen ist. Aber auch in diesem evolutionären Verständnis war das neue christliche Gottesbild ein epochaler Schritt der menschlichen Entwicklung, der durch die völkerübergreifende Nächstenliebe eine einschneidende Verhaltensänderung (gegen den Widerstand eines mächtigen alten Instinktes, den wir bis heute noch als Fremdenhass kennen) erst unsere heutigen viele Völker umfassenden Staatswesen ermöglichte, und der von der Bedeutung her daher auch aus dieser evolutionären Perspektive eine neue Zeitrechnung rechtfertigt.
Angesichts der heutigen Menschheitsprobleme ist wiederum eine grundlegende Verhaltensänderung des Menschen nötig. Doch heute kann die Religion das nicht mehr leisten. Denn es bedürfte im religiösen Glauben genau wie vor 2000 Jahren im Falle des damals erforderlichen neuen Verhaltens der völkerübergreifenden Nächstenliebe einer neuen Offenbarung, damit einer Wesensänderung des Gottes bzw. eines neuen Gottes mitsamt entsprechender Wunder zur Legitimation des Übernatürlichen und der neuen Verhaltensanweisung. Diese Anpassung als neuer religiöser Glaube ist aber in der heutigen von der modernen Naturwissenschaft durchdrungenen und geprägten Welt in dem erforderlichen Umfang nicht mehr möglich. Ganz abgesehen davon besteht das notwendige neue Verhalten gerade darin, sich über die rein natürliche Entstehung des Menschen und seines (oft noch animalischen) Verhaltens mittels der Vernunft bewusst zu werden.
Aus einem evolutionären Verständnis der Religionsgeschichte ist es als Fortführung dieser kulturellen und humanen Menschheitsentwicklung daher heute notwendig, dass der Mensch sein geistiges Sein und Verhalten nicht mehr übernatürlich begründet und anpasst, sondern mitsamt der Religion allein und umfassend aus seiner natürlichen, evolutionären Entwicklung heraus, und auch nur in diesem rein natürlichen Sein einen Sinn, eine Orientierung und einen Weg für die weitere Entwicklung findet. In diesem neuen Selbstverständnis würde dem Menschen vor allem bewusst, dass seine natürliche Entwicklung keinesfalls abgeschlossen ist, sondern dass er sich vielmehr erst mitten in einem weiten Tier-Mensch-Übergangsfeld befindet und gerade in der heutigen Zeit wieder vor einer weiteren großen Stufe darin.
Neben seinem animalischen Erbe würde der Mensch in diesem neuen Selbstverständnis jedoch auch das aus seiner bisherigen evolutionären und geschichtlichen Entwicklung heraus erkennen, das ihm in der Evolution exklusiv zukommt und das ihn erst zum Menschen gemacht hat und weiterhin macht, nämlich seine geistigen Fähigkeiten, seine Vernunft und sein kulturelles Sein. Ein wichtiges Indiz oder ein Prüfstein für den Fortschritt dieses geistigen und kulturellen Seins hin zu einem neuen Weltbild oder Paradigma zeigt sich dann genau daran, wie dieser Übergang vom alten Paradigma mit dem göttlichen Selbstbildnis angegangen und vollzogen wird. D.h. wird der heute zur weiteren geistig-kulturellen Entwicklung hinderliche religiöse Glaube, der für das alte Weltbild steht, als bloßer Sündenbock gesehen und ganz dem alten Verhalten nach als Feindbild auf emotionale und polemische Art verteufelt, oder wird er sachlich als ehemals notwendiger Teil der evolutionären Entwicklung verstanden, was darin statt eines emotional geprägten ein vernünftiges und humanes Klima zu den noch religiös Gläubigen bedingt. Ohne diese Ethik in der Überwindung emotionaler Instinktbeeinflussungen und das damit verbundene Mit- statt Gegeneinander werden die großen Probleme nicht zu lösen sein. Das heißt auch, dass von jeher jede Ethik nicht einfach und willkürlich gottgegeben ist, sondern sich stets aus der evolutionären Entwicklung heraus ergibt und von daher notwendig ist.
Daneben wird das neue Weltbild es erfordern, den Lebenssinn nicht mehr in einer exzessiven Anhäufung und dem Konsum von materiellen Werten zu finden, denn das ist nicht nur aus der evolutionären Perspektive heraus eine Sackgasse. Die Erde ist überbevölkert, gleichzeitig überladen mit Massenvernichtungswaffen, die Ressourcen sind begrenzt und die Gefährdungen des Ökosystems, von dem der Mensch existentiell abhängig ist, wachsen bedrohlich an.
Aber auch darüber hinaus sind diese alten, materiellen Werte nicht das, was den Menschen eigentlich ausmacht, d.h. darin sollte er dementsprechend auch nicht den Sinn seines Seins sehen. Sie entsprechen in den materiellen Genüssen eher noch unserem animalischen Erbe, besonders im Zusammenhang mit der Gier nach Macht und Rang. Genau wie eine übermäßige Nahrungsaufnahme dem individuellen menschlichen Sein nicht mehr nutzt, sondern es im Gegenteil gefährdet, bedroht heute das exzessive wirtschaftliche Wachstum als Sinn des Seins allgemein das Leben und Sein des Menschen. Wie bei einem übergewichtigen Menschen die körperliche Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird, werden heute aufgrund des „materiellen Übergewichts“ die geistig-kulturelle „Bewegungsfreiheit“ und weitere geistig-kulturelle Entwicklungen mehr und mehr eingeschränkt. Der Mensch ist dabei wie ein Drogensüchtiger von einem ruinösen Wettbewerb um immer größeres Wirtschaftswachstum abhängig. Statt des immer weiteren materiellen Wachstums sowie der immer noch nicht überwundenen steinzeitlichen, sprich gewalttätigen, Problemlösungsstrategien muss daher das geistige und kulturelle Wachstum zum neuen Leitbild werden, auch wenn das, genau wie ein Verzicht auf eine übermäßige Nahrungsaufnahme, zunächst ungewohnt, unbequem und mühsam ist.
Nur dieses neue Leitbild bringt den weiteren stetigen Fortgang der menschlichen, d.h. geistig-kulturellen Entwicklung in der Evolution mit sich, während das weitere exzessive Festhalten an den materiellen Werten unter den jetzigen Umständen mehr und mehr einen Rückschritt in der weiteren natürlichen Menschwerdung bedeutet. Dieser Rückschritt würde jedoch nicht lange anhalten, da durch die so bedingten Katastrophen der Wandel sich nur auf andere, archaische Weise vollziehen würde.
Die elegantere und humanere Form des Wandels und Fortschritts ist zweifellos die geistige, philosophische, auf Reflexion des eigenen Tuns und Seins gründende, denn das vorausschauende und vernünftige Denken ist das, was den Menschen erst zum Menschen macht. Hierauf sollte er vertrauen und bauen. Andererseits wäre der Mensch bei weitem nicht die erste Art, die durch fehlende Anpassung einfach so von diesem Planeten verschwindet. In seinem Falle wäre es nur im wahrsten Sinne des Wortes ausgesprochen dumm, da die Natur ihm alles zu dieser Anpassung Nötige zur Verfügung gestellt hat. Der Mensch müsste, ganz nach Kant, nur den Mut aufbringen, sich seines eigenen Verstandes und seiner Vernunft zu bedienen, sich damit vom magischen Denkenendgültig befreien und stattdessen sein evolutionäres Erbe erkennen und damit mittels seiner ihm exklusiv zukommenden Eigenschaft eben vernünftig umzugehen lernen.

Über Ehlert Bernd 23 Artikel
Bernd Ehlert ist Mitglied im Humanistischen Verband Deutschlands sowie in der Meister-Eckhart-Gesellschaft. Er tritt für eine Überwindung der Widersprüche zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und damit für ein einheitliches Weltbild ein. Ehlert ist auch Autor der Tabvla Rasa, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken.

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