Europa: Aufbruch statt Zerfall – Für einen neuen europäischen Patriotismus

Europafahne, Foto: Stefan Groß

Die Herausforderungen denen sich Europa gegenüber sieht sind wahrlich gigantisch und noch schlimmer ist: Von der erfolgreichen Bewältigung seiner Herausforderungen hängt die Zukunft des gemeinsamen Europa ab. Gelingt die bevorstehende Aufgabenbewältigung, dann ist dies gleichbedeutend mit einem Durchbruch zu neuen Ufern und einer gemeinsamen Zukunft. Umgekehrt gilt aber auch: Versagt Europa vor der Größe der Aufgaben, dann ist ein Auseinanderfallen in mehrere seiner Bestandteile zu befürchten. Zu den wichtigsten Herausforderungen der europäischen Politik zählen:

Die Bewältigung der Flüchtlingskrise

Weil das Friedens- und Zivilisationsprojekt Europäische Union für Außenstehende einen so außergewöhnlichen Erfolg darstellt hat sich eine Art magnetischer Sogwirkung auf Nachbarländer und den ganzen Kontinent Afrika entfaltet, dessen Auswirkungen in Gestalt massenhafter Zuwanderung mit all ihren Begleiterscheinungen nun bewältigt werden müssen.

Es gilt eine realistische Balance zu finden zwischen der christlich-menschlichen Hilfe und den faktisch begrenzten Aufnahme-Möglichkeiten, eine Balance, die von den Bürgern auch als fair und angebracht akzeptiert werden kann. Hierzu zählt auch das Finden und Einüben neuer Spielregeln wie »Einheimische« mit den selbstbewusster auftretenden (religiösen, ethnischen, kulturellen, parteipolitischen) Minderheiten umgehen können, ohne befürchten zu müssen, selber in eine neue Minderheitenrolle gedrängt zu werden. Besonders problematisch ist es dabei, die juristisch korrekte Anwendung des Rechts mit dem Rechtsempfinden der Bürger in Einklang zu bringen. Wenn dieser Einklang nicht gefunden wird droht ein gefährlicher Verlust an Staatsautorität.

Die notwendigen neuen Definitionen von Souveränität, Gemeinwohl und Identität

Auf diesem Gebiet steht Bürgern, Politik und Gesellschaft ein äußerst schwieriger aber unvermeidbarer Lernprozess ins Haus: obwohl heute die EU-Mitgliedstaten in vielen Bereichen  längst auf die Ausübung der eigenen nationalen Souveränität zugunsten einer gemeinsam ausgeübten europäischen Handlungsfähigkeit verzichtet haben, wird in praktisch allen politischen Äußerungen die Fiktion der nationalen Souveränität aufrecht erhalten. Beim englischen Brexit lag hier einer der entscheidenden Gründe: Die wenn auch knappe Mehrheit der Briten wollte die nationale Kontrolle also die nationale Souveränität wieder erreichen und war nicht mehr bereit diese mit den EU-Partnern zu teilen. Faktum ist aber, dass heute maßgeblicher Einfluss auf zentrale Entscheidungen – Umwelt, Sicherheit, Währung, Außenpolitik, Handelspolitik usw. – durch den klassischen europäischen Nationalstaat nicht mehr ausgeübt werden kann. Das geht nur noch gemeinsam und dieser mühsame Lernprozess vollzieht sich gerade ziemlich holprig in Großbritannien.

Analoges gilt für das Gemeinwohl, also das Wohl aller Bürger. Wer sind heute alle Bürger? Alle Sachsen, alle Bayern, alle Deutschen, alle Europäer oder gar alle Menschen dieser Erde? Auch hier müssen wir lernen, dass das Gemeinwohl heute nicht mehr ausschließlich auf das eigene Land, die eigene Nation bezogen werden kann. Heute liegt es langfristig im wohlverstandenen eigenen Interesse  zu überlegen, zusätzlich zum nationalen Gemeinwohl das Gemeinwohl aller Europäer in die politischen Entscheidungen einzubeziehen. Es nutzt eben jedem Deutschen wenn auch die Nachbarn bessere Umweltstandards einhalten und umgekehrt hilft es schwächeren EU-Staaten, wenn in Deutschland die Wirtschaft gut läuft und damit Hilfen überhaupt erst möglich werden.

Schließlich erfährt auch die »normale« nationale Identität eine Erweiterung, indem man sich heute nicht mehr ausschließlich als Deutscher, Franzose, Italiener oder Pole definieren kann, sondern eine additive europäische Identität als realistisch und bereichernd annehmen sollte. In Deutschland ist eine solcherart mehrdimensionale Identität (Bayer und Deutscher) schon normal geworden, in Europa muss das noch »gelernt« werden.

Die Bewältigung neuer autokratisch-populistischer Staatslenker

Die Stabilität der eng und klein gewordenen globalisierten Welt hängt heute mehr denn je von fair ausgehandelten und strikt eingehaltenen Regeln ab. So wurde beispielsweise 1973 bei der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki von 35 Staaten festgelegt, dass nationale Grenzen nur noch bei Zustimmung aller Beteiligten verändert werden dürfen. Wenn sich nun einzelne Staatenlenker daran nicht mehr gebunden fühlen, besteht die Gefahr, dass sich auch die anderen nicht mehr an vereinbarte Regeln halten. Dann droht ein allgemeines »Catch as Catch can«, ein »Kampf aller gegen alle« mit einem höchst gefährlichen Mix aus Sanktionen, militärischen Aktionen, einseitigen Änderungen von Rechtspositionen bis hin zu völliger Instabilität. Wenn dann noch autokratische Staatslenker ohne Rücksichtnahme auf die Probleme anderer die eignen Interessen nach dem Motto »My Country First« durchsetzen wollen, dann droht völliger Wirrwarr und die Wahrscheinlichkeit, dass solche Konflikte völlig außer Kontrolle geraten, steigt gefährlich an.

Hier kann und muss Europa seine »nationalen« Egoisten zügeln und bremsen und nach außen entschlossen auftreten, um autokratische Nachbarn auch außerhalb der EU »zur Vernunft« zu bringen. Die Einhaltung beschlossener Spielregeln ist von zentraler Bedeutung für eine kalkulierbare Entwicklung der ganzen Menschheit. Beispiele für derartige Fehlentwicklungen gibt es zuhauf, sei es die regelwidrige Annexion der Krim durch Russland oder die einseitige Aufkündigung von Handelsverträgen durch Präsident Trump.

Die unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der EU-Mitgliedstaaten

Die wirtschaftlich erfolgreichen EU-Staaten machen offenbar vieles richtig und legen gleichzeitig – wenn auch ungewollt – Schwächen, bürokratischen Unsinn, Korruption und blanke Unfähigkeit in den weniger erfolgreichen EU-Staaten vor allem im Süden und im Osten für alle sichtbar offen. Dies führt EU-intern zu Abwanderungstendenzen von den schwächeren Rändern hin zu den erfolgreicheren Mitgliedstaaten im Zentrum. Hinzu kommt, dass vor allem die flexiblen und agilen Menschen, die gerade zum Aufbau gebraucht würden, abwandern. Andererseits können die bisher erfolgreichen Staaten ihren Erfolg nicht nachhaltig sichern wenn die Ränder nicht auch am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben. Ein wirtschaftlich hinterher hinkender Süden oder Osten ohne Perspektive gerade für junge Leute zieht auf Dauer auch die erfolgreichen Zentralstaaten nach unten. Darauf muss mit einer Doppelstrategie geantwortet werden: Von den schwächeren EU-Staaten muss die Bereitschaft eingefordert werden, die erkannten Schwächen und Probleme abzubauen. Dann kann und soll der wirtschaftlich erfolgreichere Teil der EU auch finanziell helfen aber eben mit Auflagen und unter Bedingungen (also mit einer faktischen Reduzierung der Souveränität der betroffenen Staaten). Die schwächeren Staaten müssen akzeptieren, dass eine stabile Währung und Prosperität nur über einen schwierigen, eventuell sogar harten Weg zu erreichen ist. Wenn der Weg zu steinig erscheint, dann bliebe immer noch der Austritt aus der EURO-Zone. Dann könnte man zwar wieder »souverän« in den alten Pfaden weiterwursteln aber man bekäme auch wieder alle Malaisen einer inflationären Schwachwährung zu spüren.

Ganz wichtig für diesen Bereich ist eine intelligente Strukturpolitik, die abgehängte Regionen innerhalb der einzelnen Staaten wieder aufschließen lässt: Mit Ideen, finanziellen Mitteln, Einbindung der einheimischen Bürger und insbesondere mit dem Beenden von Schlendrian und Korruption kann hier segensreich gearbeitet werden. Wohin das »Vergessen« abgehängter Regionen führt, kann man beim Brexit und bei der Wahl Trumps in den USA studieren.

Ein neues Selbstbewusstsein Europas, das auf seine Demokratie, seine soziale Errungenschaften und seine Beachtung der Würde des Menschen stolz sein kann

Es liegt doch auf der Hand: alle realen Alternativen zur europäischen Demokratie sei es die russische »imitierte Demokratie«, sei es ein autokratisches System wie etwa in der Türkei, sei es, der chinesische Staatskapitalismus, oder sei es ein »kruder« amerikanischer Kapitalismus, sie alle können doch beim besten Willen nicht als gleichwertig mit der europäischen Situation gesehen werden. Dieses europäische System nicht nur zu verteidigen sondern offensiv zu vertreten, ist sehr wohl angebracht und „Des Schweißes der Edlen wert.“ Es ist einfach die unwiderlegbare Wahrheit: Die Würde des Menschen und alles was damit zusammenhängt wird in keinem anderen Teil der Welt so geachtet wie in Europa.

Hierauf kann und sollte sich auf so etwas wie ein neuer Europäischer Patriotismus gründen. Europa ist heute bereits weit mehr als eine nüchtern-pragmatisch begründete Zusammenarbeit von Staaten. Europa hat eine konkrete Vorstellung wie es mit der Menschheit weiter gehen sollte.

Die Vorschläge Macrons zur Weiterentwicklung der Europäischen Einigung haben eine sorgfältige Analyse und Antwort verdient

Macrons Vorschläge liegen seit Monaten auf dem Tisch und haben eine seriöse Antwort verdient. Es ist eine Binsenweisheit, dass der heutige Organisationsgrad der EU nicht ausreicht, um die aktuellen wirtschaftlichen und globalen Herausforderungen zu bewältigen. Wenn Putin, Trump oder die Chinesen Entscheidungen treffen, die gegen die Interessen Europas gerichtet sind, muss Europa ebenso zügig handlungs- und entscheidungsfähig sein. Dies gilt insbesondere für den Verteidigungssektor aber mindestens ebenso für die Außenpolitik und die Handelspolitik. Ganz wichtig wären auch Initiativen zur Verbesserung einer funktionsfähigen gemeinsamen Öffentlichkeit: für den Bürger muss besser verständlich werden, warum in einem anderen EU-Land bestimmte Probleme und Themen anders beurteilt werden und wie Kompromisse aussehen können.

Erschwerend für alle Entscheidungsträger (vom Wähler bis zum Abgeordneten oder Minister) kommt hinzu: Der Grad der Komplexität politischer Sachverhalte steigt ständig und auch beste Entscheidungen bringen nicht nur Vorteile sondern sind unvermeidbar auch mit neuen Nachteilen verbunden. Diese typischen Sachverhalte der Realität des 21. Jahrhunderts bewirken ungewollt eine Vielzahl von Missverständnissen, die im schlimmsten Fall zu Demokratie- und Politikverdrossenheit und schließlich zur Radikalisierung der politischen Debatten führen können.

Wenn es für den kritischen Beobachter so aussieht als ob gewisse Themen (Klima, Rente, Pflege, Flüchtlinge) „absichtlich“ nicht zügig gelöst werden, dann wird sehr schnell Unfähigkeit, Bösartigkeit oder sonst welche Sabotage unterstellt. In Wirklichkeit kann es aber sein, dass die Lösung überaus teuer, sehr langwierig, nur europäisch oder nur global möglich ist oder aber nicht mit den Grundsätzen der Gewaltenteilung übereinstimmt. Ganz schlimm wird diese Thematik, wenn dann von einzelnen Parteien oder Politikern »Öl ins Feuer geschüttet« wird indem der Eindruck erweckt wird, die Dinge könnten ganz einfach und schnell gelöst werden. Der heutige Komplexitätsgrad und die Intensität der internationalen Vernetzung erlauben es praktisch nur noch ganz selten, einfache und schnelle Lösungen zu finden. Die Grundregel der heutigen Politik ist der in schwierigen Verhandlungen mühsam gefundene Kompromiss und der braucht in der Regel Zeit, Nerven und Verständnis.

Man kann es drehen und wenden wie man will: Ohne engste europäische Zusammenarbeit über das bisherige Maß hinaus sind nahezu alle wichtigen Zukunftsthemen nicht lösbar. In diesem Sinne braucht Europa einen neuen Aufbruch zu neuen Ufern. Und das dient dann auch dem nationalen Wohl aller Nationen in Europa. Ein europäisch-patriotisches Gemeinschaftsempfinden, das den nationalen Patriotismus ergänzt, ist das Gebot der Stunden. Hierfür ist Manfred Weber der Mann der Stunde.

 

Über Ingo Friedrich 59 Artikel
Dr. Ingo Friedrich war von 1979-2009 Abgeordneter des Europäischen Parlaments, von 1992 bis 1999 Vorsitzender der CSU-Europagruppe im Europäischen Parlament. Seit 1996 ist er Schatzmeister der Europäischen Volkspartei (EVP), seit 2001 Präsident der Europäischen Bewegung Bayern, seit 2009 Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats. Von 1999-2007 war Friedrich einer der 14 gewählten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments. 2004 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz. Friedrich ist Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments und seit 2015 Präsident der Wilhelm Löhe Hochschule.