Was sagt uns Ellwangen von der politischen Realität Deutschlands im Jahr 2018?

Polizist in Muenchen, Foto: Stwefan Groß

1.

Den vorerst letzten Kommentar zu der von der großkoalitionären Regierung Merkel – oppositionsfrei – betriebenen ›Flüchtlingspolitik‹ lieferten unlängst die Ereignisse in der württembergischen Kleinstadt Ellwangen. Polizisten, die einen ausreisepflichtigen jungen Mann aus Togo aus der in ein ›Flüchtlingsheim‹ verwandelten Bundeswehrkaserne abholen wollten, kapitulierten vor der gewaltbereiten Übermacht von ca. 150–200 Afrikanern, die auf ihre Weise Solidarität mit dem an deutschen Behörden gescheiterten ›Asylbewerber‹ praktizierten. Noch bevor der eilends untergetauchte Mann wieder gefasst wurde, durfte er in einem Interview erklären, dass er nichts anderes als sein Recht beanspruche, der Armut zu entgehen und in Deutschland ein besseres Leben zu suchen.

Der 23jährige Togolese ist nur einer von etwa 500 Personen, meist junge Männer, die nach wie vor Tag für Tag, unbeeindruckt von den allein an bayerischen Außengrenzen fungierenden Grenzbeamten, in die Bundesrepublik kommen. Grob gerechnet handelt es sich per annum um 180 000 Personen – eine Zahl, die der im jüngsten Koalitionsvertrag locker fixierten Obergrenze für ›Flüchtlinge‹ nahekommt.

In der politischen Realität des Jahres 2018 – drei Jahre nach der Merkelschen ›Grenzöffnung‹ im September 2015 – sind Begriffe wie ›Asylbewerber‹, refugees, ›Geflüchteteoder neuerdings ›Schutzsuchende‹ schlicht irreführend. Die Männer, einige mit Anhang, suchen als mehrheitlich illegale Immigranten ihr Glück im gelobten Land. Bei derartiger Glückssuche werden außer der illegalen Einreise tagtäglich Gesetze verletzt, von minderen Straftaten bis hin zu schweren Gewalttaten. Den Glücksuchenden selbst ist kein Vorwurf zu machen, denn sie können ›in diesem Land‹ mit vielerlei Sympathien für ihren Rechtsbruch rechnen. Eine umfangreiche Moral- und Sozialindustrie – ›Flüchtlingsräte‹, kirchliche und nichtkirchliche Wohlfahrtsorganisationen, Grüne Jugend, Tante Antifa sowie weitgehend staatlich alimentierte NGOs – dazu Aktivisten (sc. -innen) wie Erzbischof Woelki, Karin Göring-Eckardt (Grüne) oder ›Linke‹-Vorsitzende Katja Kipping – sorgen für ihr Willkommen, ganz abgesehen von den Beziehungsnetzen in den communities der Problemviertel deutscher Städte.

2.

Der Mann aus Togo – wer erinnert sich noch an den ersten (postkolonialen) Präsidenten Sylvanus Épiphanio Olympio, ermordet 1963 – kann sich auf führende deutsche Politiker berufen, die Glückssuche als Menschenrecht proklamieren. Einer von ihnen ist der Stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner, der in einer der Demokratie simulierenden Talkshows kundtat, dieses Recht – das Streben nach Glück (the pursuit of happiness) – stehe bereits in der amerikanischen Verfassung. Der Harvard-Absolvent (Master of Public Administration) verwechselte – vielleicht aus innerer Überzeugung – die Verfassung mit der zum Auftakt der Amerikanischen Revolution proklamierten Unabhängigkeitserklärung. [Fußnote: Deren Autor Thomas Jefferson, sklavenbesitzender Herr auf Monticello, betrachtete als dritter Präsident der USA (1801-1809) eine relativ homogene Bevölkerung als Voraussetzung für das Gedeihen der jungen Republik.]

Zwar waren die USA von Anbeginn das von Millionen hoffnungsvoller Europäer ersehnte Einwanderungsland. Doch erst im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts öffneten die USA mit dem Einwanderungsgesetz von 1965 die Tür für Einwanderer aus allen Regionen der Welt. Die Bevölkerung verdoppelte sich seither auf ca. 328 Millionen. Was die amerikanische Ideologie betrifft, so hat sich die Interpretation des im Großen Siegel enthaltenen Wahlspruchs e pluribus unum von der Vorstellung des ›melting pot‹ zur multikulturell gemischten ›salad bowl‹ gewandelt. Nichtsdestoweniger praktizieren die USA nicht erst seit der von Donald Trump angestrebten Großen Mauer ein Regime rigider Grenzkontrollen. Was deutsche Asyl-Aktivisten nicht wahrhaben wollen: Auch der Begriff ›Asyl‹ wird jenseits des Atlantik äußerst restriktiv gehandhabt.

3.

Vor dem Hintergrund unverminderter illegaler Einwanderung – das Argument vom ›signifikanten‹ Rückgang der ›Zuwanderung‹ überzeugt angesichts der realen Zahlen nur politisch Wundergläubige – kam es Mitte März unter Federführung von Vera Lengsfeld zu dem als ›Gemeinsame Erklärung 2018‹ bekannt gewordenen Einspruch gegen die Regierungspolitik.

Erwartungsgemäß rief die ›Erklärung 2018‹ die Wächter der bundesrepublikanischen Diskursverwaltung auf den Plan. Sie überprüften die Namensliste, um die Protestation als perfides Unternehmen von ›rechts‹ zu ›entlarven‹ – angesichts der Namen Henryk M. Broder, Uwe Tellkamp, Thilo Sarrazin, Bassam Tibi und vieler anderer ein etwas krampfhafter Versuch – selbst wenn Karlheinz Weißmann, einer der 34 Erstunterzeichner, sich als Protagonist einer rechten Intelligentsija versteht. Prompt sammelte der Berliner Journalist Klaus Farin Unterschriften unter eine ›Gegenerklärung‹.

Die als ›Unsere Antwort für Demokratie und Menschenrechte‹ übertitelte Zurückweisung der ›Erklärung 2018‹ besteht aus folgendem Passus: »Die Menschenrechte enden an keiner Grenze dieser Welt. Wir solidarisieren uns mit allen Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Armut in unserem Land Zuflucht suchen, und wenden uns gegen jede Ausgrenzung.«

Mit derlei Sätzen – soweit nicht perfekte Leerformeln – proklamieren die Gegenerklärer einen moralischen Überlegenheitsanspruch und offenbaren zugleich ihre Weltsicht. Grenzenloser Universalismus verkennt die komplexe politische Realität des konfliktreichen Planeten. Er ignoriert die numerischen Grenzen von unendlicher Humanität. Die ›Gegenerklärung‹ proklamiert die Einladung zu fortdauernder ›Migration‹. Sie setzt sich über das Faktum hinweg, dass in begriffsneutraler ›Migration‹ – auf den von Schlepperbanden kontrollierten Routen wie in den Gesellschaften der Aufnahmeländer – darwinistische Begriffe als inhumane Wirklichkeit zur Anschauung kommen.

4.

Dass Proklamationen höherer Moral vielerorts Beifall finden, macht sie nicht besser. Richard Schröder gebührt Dank, dass er in seinem Globkult-Aufsatz (›Bin ich mit Blindheit geschlagen? Die Erklärung 2018 und ihre Feinde‹) die von Vera Lengsfeld initiierte ›Gemeinsame Erklärung 2018‹ gegen Suggestionen verteidigt: ›Rassismus und Menschenverachtung kann ich in den Sätzen nicht finden.‹

Wer eine fundierte Kritik der ›Gegenerklärung‹ sucht, findet sie in seinem Aufsatz. Schröder geht es um Begriffsklärung. Insbesondere widerlegt er die in ›Unsere Antwort‹ verkündete Vorstellung von Immigration als Menschenrecht. Zudem bietet er eine detaillierte Darstellung der vermeintlich durch Dublin III definierten, realiter weithin ignorierten Rechtslage. Fazit: »Das Grenzregime an den Außengrenzen der EU entspricht derzeit nicht rechtsstaatlichen Standards.« Obgleich »die Situation verwirrt und verrückt« ist, äußert Schröder noch die Hoffnung, dass die Lage »in europäischem Einvernehmen und durch Abkommen mit der EU zu verbessern« sei.

Diese Hoffnung mag man teilen oder auch nicht. An der ›Erklärung 2018‹ bemängelt Schröder die unklare Formulierung bezüglich der Wiederherstellung »rechtsstaatlichen Ordnung an den Grenzen unseres Landes«. Der Einwand erscheint anhand seiner ausführlichen Darlegung des – unbefriedigenden – Zustands plausibel. Zum anderen äußert er Bedenken gegen den zweiten Teil der ›Erklärung 2018‹, wo Solidarität mit den gegen die Regierungspolitik gerichteten Demonstrationen bekundet wird. Mit ›Ausländer raus‹-Krakeelern möchte Schröder verständlicherweise nichts zu tun haben. Auch die Parole ›Merkel muss weg!‹ hält er für üble Stimmungsmache, gerichtet gegen das Verfassungsprinzip eines konstruktiven Misstrauensvotums im Parlament.

Über Qualität und Sinn einer Kampfparole lässt sich streiten. Ein Quäntchen Berechtigung könnte darin liegen, dass dank großkoalitionärer Übereinkünfte eine Bundeskanzlerin Merkel, die laut Urteil hochangesehener Juristen mit der ›Grenzöffnung‹ einen Rechtsbruch begangen hat, im Bundestag ungehindert weiter regieren konnte. Auch die Wahlen im September 2017 brachten keinen Kanzlerwechsel, sondern nach langem Gezerre nur die Fortsetzung der Großen Koalition. Die Verantwortung für diese fortgesetzte Legitimation politisch unverantwortlichen Handelns liegt bei den Parteien im Parlament. Hätte Sigmar Gabriel im September 2015 die Koalition aufgekündigt, wäre die SPD nicht nur ihrer politischen Verantwortung nachgekommen, sondern wäre 2017 als klarer Sieger aus den Bundestagswahlen hervorgegangen. Stattdessen übernahm die ›rechtspopulistische‹ AfD – zusammen mit vereinzelten Stimmen wie Sarah Wagenknecht von der ›Linken‹ – die Rolle einer bislang wirkungslosen Opposition.

Es ist nach Lage der Dinge unvermeidlich, dass im Gefolge von ›Pegida‹ an den Demonstrationen gegen Merkel auch ein paar unerfreuliche, von rechtsaußen kommende Figuren teilnehmen. Was in der Berichterstattung über die Proteste gegen Gewalttaten in Kandel und anderswo indes überspielt wird, ist der Charakter der von Politikern und sonstigen Verteidigern der ›Flüchtlingspolitik‹ inszenierten Gegendemonstrationen. Hier dürfen sich selbsternannte ›Antifaschisten‹, sprich: gewalttätige Aktivisten, als Verteidiger der Demokratie gerieren.

5.

Als einer der Erstunterzeichner der ›Gemeinsamen Erklärung 2018‹ – an zwölfter Stelle hinter dem noch vor ein paar Jahren von der Friedrich-Ebert-Stiftung preisgekrönten ›Ex-Linken‹ Frank Böckelmann – wurde ich von der Redaktion der Zeitschrift ›Cato‹ gebeten, eine Begründung zu verfassen. Ich zitiere aus meiner Antwort:

»Es ist evident, dass die seit Jahrzehnten in den westeuropäischen Ländern verfolgte ›Einwanderungspolitik‹ kulturell-soziale Verwerfungen mit sich bringt, die das Konzept von freiheitlicher Demokratie, von Rechts- und Sozialstaat gefährden. Wenn sich die Prozesse kulturell-sozialer Desintegration fortsetzen, zeichnet sich das Bild eines autoritären, mafiotisch durchsetzten Staates ab. Diese Gefahren waren schon lange vor der in einem Anfall von Kopflosigkeit verfügten Merkelschen Grenzöffnung im September 2015 und der daraus resultierenden ›Flüchtlingskrise‹ erkennbar.

Die ›Migrationspolitik‹ kostet Menschenleben. Sie gefährdet die Würde und Integrität von Frauen, gefährdet die Zukunft unserer Kinder. Die politisch-mediale Klasse der Bundesrepublik setzt sich über die aus der Bevölkerung (hier: aus der nicht-organisierten ›Zivilgesellschaft‹) kommende Ablehnung ihrer destruktiven Politik hinweg. Gegenüber der Arroganz der Funktions-, Macht- und vermeintlichen Moraleliten unterstütze ich die von Vera Lengsfeld initiierte ›Erklärung 2018‹ mit meiner Unterschrift.«

Quelle: Globkult

 

Über Herbert Ammon 86 Artikel
Herbert Ammon (Studienrat a.D.) ist Historiker und Publizist. Bis 2003 lehrte er Geschichte und Soziologie am Studienkolleg für ausländische Studierende der FU Berlin. Seine Publikationen erscheinen hauptsächlich auf GlobKult (dort auch sein Blog https://herbert-ammon.blogspot.com/), auf Die Achse des Guten sowie Tichys Einblick.