Franz Kafka und der „Prager Frühling“ Literaturtagung mit politischen Folgen

Sonnenuntergang am Mittelmeer, Foto: Stefan Groß

Aus Sicht der im Ostblock bis 1989/90 herrschenden Kommunisten gab es unabweisbare Gründe, die Werke des Prager Schriftstellers Franz Kafka (1883-1924) nicht zu veröffentlichen. Seine düsteren Romane und Erzählungen machten die Leser hellhörig und feinfühlig für die politischen Verfolgungen, deren sie während der Stalin-Zeit ausgesetzt waren und ausgesetzt blieben über den Tod des Moskauer Diktators 1953 hinaus. Wer den ersten Satz des Romans „Der Prozess“ (1925) las, erschauerte und fühlte sich an Selbsterlebtes erinnert: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“

Niemand konnte im Frühjahr 1963 ahnen, welche Wirkung von der zweitägigen Kafka-Konferenz am 27./28 Mai ausgehen sollte, zu der der Prager Germanist Eduard Goldstücker (1913-2000) in das Barockschloss Liblice eingeladen hatte. Es ging darum, so stand es im Einladungstext, die „Bedeutung des Werkes Franz Kafkas unter den marxistischen Wissenschaftlern zu klären.“ Ein durchaus legitimes Unterfangen, zumal sich der Tagungsleiter ideologisch dadurch abzusichern suchte, dass er sich auf die Enthüllungen des XX. Parteitags der Sowjetkommunisten vom Februar 1956 berief und Franz Kafka, der seine Werke in deutscher Sprache geschrieben hatte, zum „Opfer des Personenkults“ im Stalinismus erklärte.

Eingeladen waren auch fünf DDR-Germanisten, die offensichtlich die Aufgabe hatten, Franz Kafkas Texte zu historisieren. Zwei von ihnen, Klaus Hermsdorf 1959 in Ostberlin und Helmut Richter 1961 in Leipzig, hatten ihre Dissertationen über das Erzählwerk des Prager Autors geschrieben, was insofern mit einem „kafkaesken“ Beigeschmack versehen war, weil die Originaltexte Franz Kafkas bis dahin in keinem DDR-Verlag erschienen waren.

Als sechster DDR-Teilnehmer war die Schriftstellerin Anna Seghers (1900-1983) aus Ostberlin angereist, deren Exilroman „Transit“ (1943) über die Flucht deutscher Emigranten aus dem besetzten Paris 1940/41 nach Marseille deutlich erkennen ließ, dass sie mit den Werken des Prager Autors vertraut war. Enttäuscht verließ sie die Tagung vorzeitig und schrieb schon am 29. Mai an Georg Lukacs in Budapest: „Diese Leute sind gegen Kafka, also bin ich für ihn.“

Der neuralgische Punkt dieser Konferenz war erreicht, als der Wiener Marxist Ernst Fischer (1899-1972) die Frage aufwarf, ob der von Karl Marx geprägte Begriff der Entfremdung des Menschen im Kapitalismus, deren literarischer Ausdruck Franz Kafkas Romane wären, nicht auch auf die sozialistische Gesellschaftsordnung angewandt werden müsste. Hier freilich war eine Grenze überschritten, die diese Literaturtagung zum Politikum machte. Besonders deutlich konnte man das an der Reaktion der Ostberliner SED-Dogmatiker erkennen. Wurde auf Schloss Liblice mit leiser Hoffnung geäußert, Franz Kafka wäre, wenn seine Werke denn endlich veröffentlich würden, eine Schwalbe, die den Frühling, die Auflösung also der ideologischen Erstarrung, ankündigte, so erklärte Alfred Kurella (1895-1975), Mitglied der „Ideologischen Kommission beim ZK der SED“, den ungeliebten Autor zu Federmaus, zum Vorboten der einbrechenden Nacht.

Das die Kafka-Konferenz 1963 ein Präludium des „Prager Frühlings“ von 1968 war, wird aus dem zeitlichen Abstand von 55 Jahren immer klarer. Nach Liblice wurden nicht nur Franz Kafkas Werke ins Tschechische und Slowakische übersetzt, auch Leben und Werk des Schriftstellers wurden in Presse, Hörfunk und Bühnenfassungen seiner Werke aufgeführt; selbst am Grab wurden ehrende Worte gesprochen. Schließlich flog 1964 Max Brod (1884-1968), der Jugendfreund, von Israel nach Prag, um eine Kafka-Ausstellung zu eröffnen.

Es war das politische Klima, das sich seit 1963 sukzessiv veränderte, bis die Zeit schließlich reif war für den Prager Reformkommunismus von 1968. Dieser unerhörte Vorgang bis zum Einmarsch am 21. August lässt sich vielleicht mit einem Zitat aus Alexander Solschenizyns „Offenem Brief“ an die Sowjetführung umschreiben: „Ziehen Sie die Vorhänge zurück, draußen ist heller Tag!“

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Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.