Berlins spannendster Maler – Nguyen Xuan Huy – Waiting until Heaven is Done

Nguyen Xuan Huy, A Small Bang in a Small Place, 2019, oil on canvas, 200 x 140 cm

NGUYEN XUAN HUY
Waiting until Heaven is Done
14. September bis 2. November 2019
Galerie Rothamel Erfurt

Eröffnung mit dem Künstler am Samstag, 14. September um 20 Uhr in unserer Erfurter Galerie.

Die provokanteste Position der aktuellen deutschen Malerei vertritt ein in Hanoi geborener Mann: Nguyen Xuan Huy stammt aus einer vietnamesischen Künstlerfamilie. Seine Bilder sind inhaltlich brisant, kunsthistorisch fundiert und technisch perfekt.

Der Künstler in seinem Atelier

Nguyens aktuelle Serie „Waiting until Heaven is Done” ist eine kultiviert und zugleich schonungslos formulierte Analyse der aktuellen Verfassung unseres Kontinents und des Geisteszustands seiner Bewohner. 

Die Gegenwart betrachtet Nguyen aus der Perspektive der Aufklärung. Logische Analysen gelten ihm mehr als ideologische Standpunkte. Oft trifft er seine Aussagen in Form mythologischer, philosophischer oder literarischer Gleichnisse. Er schreibt: „Ich bin kein Fan von Apokalypse oder Ähnlichem. Aber ich stelle mir oft vor: Eines Morgens wache ich wie Gregor Samsa auf und stelle fest, das ich mich „zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ habe. Aber ein Ungeziefer muss es nicht mal zwingend sein. Da gibt es ja so viele Möglichkeiten. Wer gibt mir schon die Zuversicht, dass mir so etwas nicht passieren kann? Oder uns allen? Oder, dass es nicht schon längst stattgefunden hat?“  

Nguyen Xuan Huy, Waiting until Heaven is Done I, 2018, Öl auf Leinwand, 270 x 190 cm

Nguyen Xuan Huy wurde 1976 in Hanoi geboren. Er studierte an der Architekturhochschule Hanoi, an der Ecole des Beaux Arts in Bordeaux und erwarb 2003 sein Diplom der Malerei an der HfKD Burg Giebichenstein in Halle. Er arbeitete am Vermont Studio Center und ist Träger internationaler Kunstpreise. 

RICHARD E. MÜLLER
Interview mit Nguyen Xuan Huy
2019

REM: In deiner Arbeit, seit deinem Studiumabschluss bis heute, sieht man Entwicklungsphasen oder auch sprunghafte Änderungen, sowohl im Stil als auch in der Thematik. Angefangen hast du mit fotorealistischen Bildern, die mehr oder weniger auf Dokumentarfotos basieren. Diese wurden abgelöst von Motiven mißgebildeter Frauengestalten vor leerem Hintergrund und jetzt wird konventionell in allen Ecken ausgemalt, kaum noch Spuren von politischen Symbolen. Wie erklärst du dir diese Veränderungen, wie siehst du das selbst?

Nguyen Xuan Huy, @ any cost, 2007, Öl auf Leinwand, 195 x 585 cm

NXH: Hm. Meine Muse ist launisch. Ich habe wenig Einfluss drauf. Ich meine, die Ideen kommen oft genug aus heiterem Himmel. Ich setze mich nicht etwa vor die Leinwand und sage mir, nun male ich ein Bild zum Thema, was weiß ich, „Krieg und Frieden“ und buchstabiere dann das Thema durch. So funktioniert das nicht bei mir. Die „Verkündung“ taucht oft genug blitzartig in meinem Kopf auf und dann, dann warte ich. Ich lasse die Eingebung erst einmal wirken, denn sie kann auch verführen, täuschen. Und wenn man das erst später, beim Malen merkt, ist es zu spät. Ich warte, ich lasse es wirken und die Intuition nimmt die Spur auf — alles andere folgt. Aber es läuft nicht immer glatt. Die Muse streikt ab und zu, ohne sie ist mein Kopf für die Kunst ein Taugenichts. So kommt es zu Seitensprüngen. Entweder weil das Interesse am Thema erschöpft ist und ich das Gefühl habe dass ich nur noch mich selbst kopiere oder weil meine Muse mich befeuert, weiter und in neue Gebiete einzufallen.

Nguyen Xuan Huy, Waiting until Heaven is Done IV, 2019, Öl auf Leinwand, 270 x 190 cm

REM: Du mystifizierst deinen Arbeitsprozess gerne, oder?

NXH: Ja, zu gerne, meine Lieblingsversion.

REM: Es gibt also noch andere Versionen? Eine konkretere und weniger mystifizierte vielleicht? Am Anfang ließen deine Werke deine Herkunft gut erkennen, jetzt aber kaum noch. Hat das mit deiner Biografie zu tun? Du hast ja jetzt schon mehr als die Hälfte deines Lebens in Deutschland verbracht. Es hat sicherlich eine gewisse Wirkung auf deine Arbeit?

NXH:  Ja, es geht in meiner Kunst immer um mich, um mich allein! Nach mir die Sintflut! (lacht). Ich bin mein eigenes Versuchskaninchen und die Grundfrage des Experiments: Wie ist es, ein Mensch zu sein.  Aber ohne die ganze Welt drumherum gibt es da kein „ich“. Also muss ich mich doch mehr oder weniger mit der ganzen Welt beschäftigen. Und es gibt da diese monumentalen, klassischen Fragen nach dem Sinn des Ganzen – was machen wir Menschen? Wo führt das alles hin? Und diese Grundfragen, sie scheinen mir nie befriedigend genug beantwortet zu sein. Und wenn man ein Atheist ist, gibt es nun mal noch viel mehr Fragen und noch mehr offene Antworten.

Als ich frisch in Deutschland ankam, war ich mir meiner Herkunft bewusster denn je. Ich bekam ja plötzlich das Attribut „Ausländer“ um den Hals gehängt. Alle fragten, woher ich komme und das erste, was ihnen zu meiner Heimat einfiel, war oft der Vietnamkrieg. Ich fing an, mich intensiver mit diesem Teil meiner Identität zu beschäftigen. Nicht, dass ich vorher nicht mal darin gestöbert hatte, aber dieses „Ausländersein“ intensiviert die Fragen nach Identität und der eigenen Geschichte.

Was früher eher verschwommen war, bekam nach und nach deutliche Konturen. Mir fiel ein, was meine Eltern mir erzählt hatten: mein Vater im Krieg, ein verletzter Soldat, der meine Mutter als Krankenschwester im Lazarett kennenlernt. Ergebnis: Wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, gäbe es mich wahrscheinlich auch nicht. Meine Existenz und dieser Krieg hängen direkt zusammen. Mein Vater hat mir auch erzählt, wie glücklich er war, als ich zur Welt kam und alle meine Körperteile so aussahen, wie es die Standardanatomie vorschrieb. Denn im Krieg war er als Soldat in Gebieten unterwegs, wo Agent Orange verstreut wurde. Manche seiner Kameraden hatten nicht das Glück, gesunde Kinder zur Welt zu bringen. Das schockiert mich am meisten. Wenn ich die Opfer von Agent Orange ansehe, denke ich: Verdammt! Mir hätte das auch passieren können. Es ist schwer zu beschreiben, wie ich mich da fühle. Mir ist, als ob ich keinen Boden mehr unter meinen Füßen hätte — die unversehrte Existenz, ein biologischer Zufall im Lotto des Krieges, der nicht aufhören kann. Sicherlich kann ich mich damit beruhigen, dass ich heil davongekommen bin. Aber es ist alles andere als selbstverständlich.

Ich bin ein Jahr nach dem Krieg geboren und im Frieden aufgewachsen, aber mein Dasein wurzelt in diesem Krieg. Dieser Krieg war vorbei und ging doch auf biologischer Ebene weiter, Agent Orange immer noch im Einsatz. Für mich schlimmer als der Tod, eine neue Dimension des Grauens. Leid und Tod im Krieg gab es eh und je, aber Gendefekte, Generationen später, für die, die nichts damit zu tun hatten, noch nicht einmal geboren waren! Eine grausige Erfindung, um das Meisterwerk der Schöpfung noch spektakulärer zu verstümmeln.

Nguyen Xuan Huy, Banana Garden, 2004, Öl auf Leinwand, 195 x 134 cm

Der Vietnamkrieg bedeutete für mich persönlich eine Geburtsstunde, damit fing die Reise an. In meinen Arbeiten zeigte ich damals keine Kampfszenen, nur die Stille danach. Ich benutzte oft Dokumentarfotos, als eine Brücke zur Realität. Man braucht schließlich Geburtsurkunden, um nachweisen zu können, dass man tatsächlich da ist.

Der Geburt folgt das Aufwachsen, die Erziehung, damit du bloß ein „soziales Wesen“ wirst und kein „Tier“. Oder „Gott“ (lacht). Ich bin in einem sozialistischen Land aufgewachsen und dort zur Schule gegangen. Das Schulwesen war ein treuer Handlanger der Propagandamaschine, der kommunistischen Partei. Das Volk soll erzogen werden, da fängt man am besten mit Kindern an. Bei mir hat es damals funktioniert. Bereits im zarten Alter war ich ein überzeugter Kommunist und ein glühender Patriot, mit einem sehr naiven Weltbild von Gut und Böse. Erst in Deutschland hatte ich die Gelegenheit, all das mit anderen Augen zu sehen. Diese ideologische Zurichtung, eine eigene Züchtung, hat für mich in gewisser Hinsicht Parallelen zu Agent Orange — das eine bringt körperliche, das andere geistige Mißbildungen hervor. So kam ich auf die Idee, beides in meinen Bildern zu kombinieren. Ich wollte ein fiktive Welt ausmalen, wo Träume und oder Alpträume Tatsachen werden, wahr sind. Träume zeugen Ideale und umgekehrt, die Praxis brütet Alpträume aus. Beim diesem Transfer zwischen Ideal und Praxis gerät etwas außer Kontrolle, Grenzen, Nebenwirkungen geraden durcheinander, werden verwischt und dann — tja, dann.

Nguyen Xuan Huy, Chickenwings Company 2008  Öl auf Leinwand 195 x 395 cm

REM: Träume? Wer träumt denn so was?

NXH:  Große Tiere. Aber so groß sind die dann auch nicht. Auch ich träumte als Kind davon, die Welt nach meinen Vorstellung umzukrempeln, notfalls mit Gewalt. Meine Idole waren Typen wie Dschingis Khan, Alexander der Große, Napoleon …Mao Zedong, Ho Chi Minh – die Ahnenreihe großer Tiere.

REM: Na so was. Und diesen Traum hast du aufgegeben? Man sieht ja, dass du doch kein Möchtegern-Welteroberer geworden bist. Oder glaubst du etwa, mit deiner Kunst die Welt erobern und verändern zu können?

NXH:  Ich habe keine Lust, über Leichen zu gehen! Als Kind sah ich nur die eine Seite der Medaille. Über den Vietnamkrieg beispielsweise sollte ich nur wissen, wie heldenhaft die Vietnamesen gegen die ausländischen Aggressoren gekämpft hatten. Hohe Verluste unterstrichen nur das Heldenhafte des Sieges. Jetzt erspare ich der Menschheit lieber einen Held mehr. Ich mache das, was keinem weh tut. Was meine Kunst angeht, verfolge ich keine Absichten. Es gibt da außer Eitelkeit vor allem das nackte Bedürfnis, etwas zu malen, etwas sichtbar zu machen, etwas in Bilder zu fassen. Wozu es darüberhinaus gut ist, das weiß ich nicht.

Mit aller Vorsicht würde ich nur sagen: Wenn meine Malerei tatsächlich zu etwas taugt, dann vielleicht als ein Ergänzungsangebot zum „Bildnis der Menschheit“. Was an sich nichts Neues ist und zugleich doch ein krasser Anspruch, aber davon kann man aus meiner Sicht nie genug reden, eine Sisyphusarbeit. Aber diese großen Theorien, die helfen mir nicht beim Malen, eher Kleinigkeiten: der Geruch der Ölfarbe, die leere Leinwand, die Sinnlichkeit des Mediums. Diese Tätigkeit, das Malen, kommt mir manchmal vor wie eine Weltflucht. Und doch gibt es sie nicht, keine Zuflucht, dem In-der-Welt-Sein entkomme ich nicht, nirgendwo entkomme ich der Realität.

REM: Realität? Deine aktuellen, surreal wirkenden Arbeiten scheinen ja eher der Realität zu entsagen. Wo liegt dein Bezug zur Realität?

Nguyen Xuan Huy, A Small Bang in a Small Place, 2019, oil on canvas, 200 x 140 cm

NXH:  Eine philosophische Auseinandersetzung mit der Frage, was Realität ist, würde ich lieber nicht eingehen, schon versucht, ein weites Feld ist das! Ich bin jedoch überzeugt, dass meine Bilderwelt gar nicht so weltfremd oder surreal ist, wie sie scheint. Die Bilder sind nur etwas anders angeordnet, verwirrter vielleicht, die Alltagslogik durcheinander, der Fokus verschoben, um den Sinn des Ganzen zu sezieren – aber ein Meisterchirurg bin ich nicht. Eher komme ich mir manchmal wie ein Trottel vor, einer, der von allem Notiz nimmt, was ihm wichtig vorkommt, aber nicht in der Lage ist, das Puzzle zusammenzusetzen — er sieht die Teile, erkennt aber das Ordnungssystem nicht. Ich denke an dies, an das, aber mein Denken hat kein System, das zu systematischen Ergebnissen führt. Das Hauptergebnis ist wohl das Scheitern des vermessenen Versuchs, ein klares, übersichtliches Weltbild zu schaffen.

Und die Mythologie — so überirdisch sie sein mag, sie drückt doch schließlich menschliche Gedanken, Gefühle aus. Ich male auch nur Menschen, keine Aliens. Meine Bilder sehen oft wie Szenen aus verdrehten Träumen aus. Ich bin in der Tat ein fleißiger Träumer, und viele meiner Träume übertreffen alle surrealistischen Geschichten, die ich kenne. Aber genau genommen sind es ja bloß meine Erfahrungen im wirklichen Leben, im Schlaf durcheinandergeraten und nach einer anderen Ordnung miteinander verknüpft. Das Ergebnis ist oft verwirrend, rätselhaft oder einfach sinnlos. Aber all das gehört zu einem Komplex, in dem das Reale und das Irreale, der Sinn und der Unsinn ineinander verwoben und gleichberechtigt sind. Der Traum als ein Widerstand, der eine einfache Erklärung der Welt ablehnt, zweifelt, sie umformt. Die Fetzen der Realitäten suchen nach ihrer Bedeutung, die es vielleicht gar nicht gibt, aber entscheidend ist das nicht. Die Suche an sich ist die Hauptattraktion! Denn letztendlich ist nicht eine plausible, einleuchtende Geschichte zu erwarten, sondern ein Ausdruck dessen, wie der Verstand im Dunkel tappt, über Steine stolpert und flucht: Verdammt! Wo bleibt mein Reiseführer! (Lacht)

Nguyen Xuan Huy, Invasion2.0, 2019, Öl auf Leinwand, 270 x 390 cm

REM: Und wie würdest du diese Phase bezeichnen, wenn du vorher von Geburt, Aufwachsen und Erziehung gesprochen hast?

NXH:  Aufklärung.

REM: Aufklärung? Sie sieht bei dir aber düster aus!

NXH:  Das kann sein, aber ein Pessimist bin ich nicht. Eher ein Realist. Ich versuche es jedenfalls. Ich möchte keine Apokalypse prophezeien, doch wer sagt, dass jenseits der Illusionen ein Paradies auf dich wartet?

Ich bin kein Fan von Apokalypse oder Ähnlichem. Aber ich stelle mir oft vor: Eines Morgens wache ich wie Gregor Samsa auf und stelle fest, das ich mich „zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ habe. Aber ein Ungeziefer muss es nicht mal zwingend sein . Da gibt es ja so viele Möglichkeiten. Wer gibt mir schon die Zuversicht, dass mir so etwas nicht passieren kann? Oder uns allen? Oder, dass es nicht schon längst stattgefunden hat? Harry Potter sicher nicht.

REM: Es riecht eher nach Verzweiflung als nach Aufklärung.

NXH:  Ja, da sind schon einige Stolpersteine, in verschiedener Größe, auf diesem Weg zur Aufklärung. Verzweiflung gehört dazu, Größe: XXXL. Daher sollte ich auch eher von einem Aufklärungsversuch sprechen. Das ist treffender. Das Ziel bleibt eine Fata Morgana, man kommt nie an. Ich jedenfalls nicht. Aber ich gebe mir Mühe, Sysiphus zuliebe.

REM: Nun, diese Version deiner Schaffengsperioden klingt plausibel, zu schön, um wahr zu sein – alles vorher durchdacht und über Jahre erarbeitet?

NXH:  Nein, sicher nicht. Ich weiß nie, was ich als Nächstes tun werde. „Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen“. Und erst dann fragst du dich, was das war. Intuition ist mir beim Malen das A und O, irgendwann meldet sich jedoch der Kontrolleur. Aber ich würde das Bauchgefühl nicht vom Verstand trennen. Vielleicht gibt es so eine Grenze gar nicht und das eine ist ein Effekt des anderen.

DAS EWIG WEIBLICHE

REM: Der Frauenakt ist in deinen früheren Arbeiten sehr präsent. Warum?

NXH:  Oh, das weiß ich nicht so genau. Es ist mir selbst ein Rätsel. Wirklich, ohne Scheiß. Ich frage mich schon öfter, warum ich kaum Verlangen danach habe, beispielsweise ein Landschaftsbild oder etwas in der Art zu malen. Natürlich habe ich schon alles Mögliche  versucht, aber es wollte und wollte nicht gelingen. Das „ewig Weibliche“ hingegen…Ja und nicht zuletzt, ich habe eine Schwäche für Sinnlichkeit, mag es eine Sünde sein, ich kann die Finger nicht davon lassen (lacht).

REM: Meinst du „das ewig Weibliche zieht uns hinan“ oder „hinab“, denn deine Werke scheinen nicht nach „Höherem“ zu streben?

NXH:  Es geht mir gar nicht darum, in welcher Richtung das Männliche sich bewegt (lacht). Vermutlich eher darum eine „Gegenspielerin“ zu haben. Ohne sie kann ich das Spiel nicht anfangen. Sie ist meine essentielle Verbindung mit dieser Welt, wie Schwerkraft. Ohne sie würde ich ziellos herumschweben oder wäre selbstgenügsam wie ein Gott (lacht).

Die meisten Frauenfiguren in meinen Bildern sind für mich keine real existierenden Personen, sondern Trugbilder. Oder vielleicht eine Armee von Avataren meiner Anima auf dem Schlachtfeld eines Selbstgespräches. In der vietnamesischen Poesie Anfang des 20. Jahrhundert haben die Dichter oft mit einer imaginären Geliebten geplaudert, um ihr eigenes Unbehagen zum Ausdruck zu bringen. Diese Geliebte gab es in der Wirklichkeit nicht, sie wurde erfunden, damit der Dichter einen Anlass hat, sich zu äußern. Diese Figuren in meinen Bildern haben vielleicht eine ähnliche Funktion.

Nguyen Xuan Huy, Nguyen Xuan Huy, Waiting until a Fish Takes the Bait, 2019, oil on canvas, 270 x 140 cm

REM: Deine Avatare?

NXH:  Ehm… ja!

REM: Das Wort „Avatar“ kommt ja aus dem Sanskrit und bedeutet „Abstieg“, was sich auf das Herabsteigen einer Gottheit in irdische Sphären bezieht.

H: Oh, das wußte ich nicht.

REM: Sind wir da nicht wieder mittendrin in deiner „privaten Mythologie“?

NXH:  Ich kenne das Wort nur im Zusammenhang mit der virtuellen Welt. Die Frauenfiguren in meinen Bildern erinnern mich oft an eine Art Nymphen. Sie bevölkern diese merkwürdige Idylle, deshalb sind sie wohl oft so „losgelöst“. Sie sind nackt, aber nicht im Sinne der Entblößung, sondern im Sinne eines Naturzustandes oder im Sinne der Unschuld. Ja, und die Heiterkeit nicht zu vergessen! Wenn sie so unschuldig sind, können sie auch, ab und zu, glücklich sein.

REM: Stimmt: Merkwürdige Schönheiten schweifen umher, führen Tänze auf, jagen Wild. Eine heile Welt ist es allerdings nicht.

NXH:  Nein, wohl nicht. Meine Lieblingsdramaturgie geht so: Meine Protagonisten sind wie in eine entfremdete Welt geraten, quasi in einen falschen Film. Sie wissen nicht, was mit ihnen geschieht oder was sie gerade tun. Sie können es nicht wissen oder wollen es nicht. Ich stehe ihnen zur Seite und gebe mir Mühe, ihnen trotz allem eine schöne heile Welt zu schaffen, zu malen. Aber das Ergebnis ist nicht wie erwartet, da gewisse Mächte wirken, die guten Absichten sind sabotiert. Etwas läuft schief — der Idealismus bekommt eine Ohrfeige verpasst.

REM:  Und wie erträgst du selbst diese Ohrfeige?

NXH:  Mit einer gewissen Ironie am liebsten. Was kann man sonst tun? Wenn Bilder Pathos produzieren, kann ich es nicht ertragen, also grinse ich dem Pathos ins Gesicht. So funktioniert es am besten, wenn es fehl am Platz ist.

OST UND WEST

REM: Viele deiner Bilder beziehen sich auf bekannte, ikonische Werke der Kunstgeschichte — der westlichen Kunstgeschichte, um es genauer zu sagen. Warum? Hat hier dein Studium und dein Leben in Deutschland und Europa Spuren hinterlassen?

NXH:  Ein kalkuliertes Konzept steckt nicht dahinter. Wenn ich in Vietnam geblieben wäre, hätte ich diesbezüglich vielleicht auch das Gleiche getan. Ich war bereits als Kind in Vietnam sehr an der westlichen Malerei interessiert. Viel mehr als am Holzschnitt oder der Tuschmalerei oder der Lackmalerei, was das Angebot der heimischen Traditionen gewesen wäre. Frage mich nicht warum! Vielleicht wegen der realistischen und sinnlichen Darstellung des menschlichen Körpers, was in der östlichen Tradition eher nicht erwünscht war.

So kam es, dass westliche Ikonen der Malerei auch damals schon zu meinen Ikonen wurden. Damals hatte ich den großen Wunsch, wie europäische alte Meister malen zu können. Ich sah keinen Grund, warum ich als Asiate nicht genau wie ein westlicher Künstler hätte malen sollen. Was für mich persönlich gut ist, ist gut, egal ob es horizontal von Ost oder West oder gar senkrecht von den Aliens daher kommt. Sonst müsste ich ja eventuell in die „Wiege der Menschheit“, ins uralte Afrika zurückkehren, um meine „wahre“ Ur-Identität bloß nicht von fremdem Einfluß verderben zu lassen.

Als Jugendlicher habe ich bereits einige Bilder der alten europäischen Meister kopiert, um zu lernen, obwohl ich damals nur schlechte Abbildungen davon zur Verfügung hatte. Sie inspirieren mich bis heute immer noch. Ich betrachte sie noch heute ab und zu wieder und gerate oft ins Träumen, wie ein verrücktes Kopiergerät, das etwas ganz anderes ausspuckt, als es eben eingescannt hat. Ich weiß nicht, wer der Hersteller ist, ich kann nicht reklamieren (lacht).

Nguyen Xuan Huy, Waiting until Heaven is Done III, 2018, Öl auf Leinwand, 270 x 190 cm

REM: Siehst du dich selbst nach all den Jahren als einen vietnamesischen Künstler oder als einen deutschen?

NXH:  Sowohl als auch. Oder besser gesagt: Es ist mir ziemlich egal. Am Anfang habe ich mich häufig mit Fragen meiner Identität beschäftigt, irgendwann habe ich es hinter mir gelassen. Es ist für mich einfach nicht mehr wichtig. Mich interessiert die Gattung Mensch, die Humangeographie ist nicht mein Fachgebiet, die Geburtsurkunden nicht mein Amtsbereich. Der Vogel — oder der, der einen Vogel im Kopf hat (lacht) —  missachtet alle politischen Grenzen, der braucht kein Visum oder Abstammungspapiere. Er landet dort, wo er sich wohl fühlt.

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