Fremde Heimat

Die Integration der sogenannten Umsiedler nach 1945 in Jena

Die Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerungsteile aus dem Osten und Südosten Europas zum Ende des Zweiten Weltkrieges kann zweifellos als eine der größten Wanderbewegungen eines europäischen Volkes in der Geschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden.[1] Schätzungen des Roten Kreuzes zufolge verließen etwa 15 Millionen Deutsche im Zuge von Flucht und Vertreibung ihre Heimat.
Dem Nachkriegsdeutschland fiel nun die Aufgabe zu Millionen Menschen aufzunehmen, zu versorgen und sie dauerhaft in die Gesellschaft zu integrieren. Die hiermit verbundenen Schwierigkeiten, welche die Kommunen zu bewältigen hatten, sollen im Folgenden am Beispiel der Stadt Jena aufgezeigt werden.

Vorrangig war zunächst das Problem der Unterbringung so vieler Menschen zu klären. Bis zu 11 000 Vertriebene wurden in dem Zeitraum von August 1945, dem Beginn der geordneten Umsiedlung der deutschen Bevölkerungsteile aus Polen, Ungarn und der Tschechei, bis Anfang der 1950er Jahre, als das Umsiedler-Problem in der DDR offiziell für gelöst erklärt wurde, von der Stadt Jena aufgenommen. Das entsprach etwa 16% der damaligen einheimischen Bevölkerung.
Zusätzlich wurden mehr als 6 000 auf der Durchreise befindliche Personen vorübergehend von der Stadt versorgt.

Anzahl der Umsiedler in Jena, nach ihren Herkunftsgebieten, April 1946[2]

Herkunftsgebiet Anzahl
Polen (Grenze von 1939)
Schlesien (östl. Lausitzer Neiße)
Brandenburg (östl. Oder-Neiße)
Grenzmark, Posen, Westpreußen
Ostpreußen (ohne Königsberg)
Pommern (östl. Oder)
Königsberger Gebiet
Baltikum
übriges Gebiet der UdSSR
Tschechei
Jugoslawien
Ungarn
Rumänien
Bulgarien
Mandschurei
424
3 282
260
213
508
350
278
22
3
2 988
60
10
20
5
4

Besonders erschwert wurde die Unterbringung der Vertrieben durch die weiträumige kriegsbedingte Zerstörung der Innenstadt Jenas, bei der über 3 000 Wohnungen verloren gingen. Um dem dadurch bedingten Mangel an Wohnraum entgegen zu wirken, und eine, wenn auch vorübergehend provisorische Unterbringung gewährleisten zu können, bereitete die Stadt ab August 1945 die Einrichtung von Notunterkünften vor. Einen Teil der Ankommenden leitete man sofort an den Landkreis Stadtroda bzw. die Dörfer und Ortschaften in der näheren Umgebung weiter.

Verteilung der Vertriebenen aus dem Durchgangslager Jena, 1945[3]

September Oktober Dezember
Isserstedt24
Großschwabhausen41
Kleinschwabhausen38
Cospeda22
Döbritschen15
Nennsdorf19
Osmaritz18
Bucha28
Schorba19
Leutra17
Maua24
Hohlstedt26
Vierzehnheiligen25
Altengönna23
Münchenroda18
Krippendorf21
Coppanz17
Lobeda39
Drackendorf13
Zöllnitz13
Rabis6

Von der Stadtverwaltung Jena wurde, wie auf allen Verwaltungsebenen der sowjetisch besetzten Zone, ein Amt für Umsiedler eingerichtet. Dieses war mit sämtlichen, die Vertriebenen oder Umsiedler, wie sie in der offiziellen politischen Terminologie bezeichnet wurden, betreffenden Fragen betraut. Hierin arbeitete das Amt für Umsiedler mit anderen städtischen Ämtern, wie etwa Wohnungs-, Arbeits- oder Ernährungsamt aber auch mit dem Roten Kreuz und der Volkssolidarität zusammen.

Auf Initiative des Umsiedleramtes begann die Instandsetzung und der Ausbau bereits bestehender Barackenlager, welche ehemals als Wohnlager für Fremd- und Zwangsarbeiter der ortsansässigen Firmen Schott und Zeiss dienten, um die eintreffenden Vertriebenen unterzubringen. Zusätzlich wurden weitere Baracken zur Aufnahme der Umsiedler an zentralen Stellen errichtet, nahe der größeren Durchgangsstraßen oder Bahnanbindungen.
Die Aufnahmekapazität dieser Lager war jedoch bald erschöpft. Um dennoch die seit 1946 verstärkt eintreffenden Umsiedlertransporte unterzubringen, wurden Gastwirtschaften, Pensionen und Hotels, wie etwa der Thüringer Hof zu provisorischen Massenquartieren umfunktioniert.
Diese, als vorübergehende Notlösung geplante Unterbringung schien sich jedoch im Verlauf des Jahres 1946 zu einem Dauerzustand zu entwickeln. Die Sowjetische Militäradministration Thüringens, aber auch die Weimarer Landesstelle für Umsiedler drängten daraufhin verstärkt auf eine Unterbringung der Umsiedler in festem Wohnraum. Direkt nach ihrer Ankunft in Jena sollte künftig den Umsiedlern Wohnungen zugewiesen werden.
Da an größere Neubauprojekte jedoch aufgrund des Mangels an Baumaterial und des knappen finanziellen Budgets der Stadt vorerst nicht zu denken war, musste der vorhandene Wohnraum entsprechend verteilt werden. Das bedeutete die Einquartierung der Umsiedler in die Wohnungen und Häuser der einheimischen Bevölkerung. Von dieser wurde allerdings meist wenig Verständnis für die Lage der Vertriebenen aufgebracht. Vielmehr kam es häufig zu Abwehrreaktionen auf die zwangsweise Einquartierung. Die Folge waren erhöhte Untermietsforderungen, Verweigerung dringend benötigter Einrichtungsgegenstände oder das Untersagen der Mitnutzung von Küche, Bad oder Abstellräumen, wie aus zahlreichen Klagen und Beschwerden ersichtlich wird. Beispielsweise bewohnte eine Umsiedlerin mit ihren drei Kindern im Hause eines einheimischen Ehepaars ein Zimmer, während diesem drei Zimmer zur Verfügung standen. Laut Aussage der Mutter, dürfen die Kinder sich im Haus nicht frei bewegen, das Betreten des Gartens ist verboten, die Wäsche darf nicht in der Waschküche gewaschen werden und Hausratsgegenstände werden nicht zur Verfügung gestellt.[4]
Zusätzlich erschwert wurde die Wohnraumsituation in Jena durch die Unterbringung der russischen Besatzungstruppen und ihren Angehörigen. Die Kommandantur hatte Wohnungen, Häuser, sogar ganze Straßenzüge beschlagnahmt und deren Anwohner zur Räumung gezwungen. Allein im Jahre 1947 wurden 170 Wohnhäuser, 648 Wohnungen und 190 Einzelzimmer beschlagnahmt.[5] Für deren ehemalige Bewohner musste nun auch neuer Wohnraum beschafft werden. In den folgenden Jahren konnte die Wohnraumsituation in Jena nicht zufriedenstellend gelöst werden. Wie eine vom Landesamt für Umsiedler veranlasste Untersuchung der Lebens- und sozialen Situation im Jahre 1948 ergab, lebte eine Vielzahl der Umsiedler weiterhin in schlechten und unzureichenden Verhältnissen.[6]

Ein weiteres Problem, das die zuständigen Behörden zu bewältigen hatten, war die Versorgung der Umsiedler mit Kleidung, Schuhwerk, Einrichtungsgegenständen und Dingen des täglichen Bedarfs. Das Gros der Umsiedler hatte alles Hab und Gut verloren und war lediglich mit dem, was es bei sich trug nach Jena gekommen.
Die dringend benötigte Bekleidung, Hausrat oder Mobiliar wurden durch Sammlungen und Spendenaktionen des Amtes für Umsiedler und der Volkssolidarität beschafft. Dies erforderte allerdings die Unterstützung durch die einheimische Bevölkerung, welche jedoch nicht immer die gewünschten Ausmaße erreichte, im Gegenteil. Häufig wurden nicht genutzte Möbel und dergleichen auf Dachböden oder in Kellerräumen eingelagert, um sie der behördlichen Erfassung zu entziehen.
Zur effektiveren Beschaffung von Einrichtungsgegenständen gründete sich 1946 die städtische Beschaffungs-GmbH. Diese hatte nicht nur für die Anschaffung neuer Möbel zu sorgen, sondern auch für das zu deren Herstellung benötigte Baumaterial. Mit der Anfertigung von Schränken, Betten, Tischen, Stühlen und dergleichen wurde die Tischlerei in Burgau beauftragt, die vorzugsweise an Umsiedler zu liefern hatte. Auch andere örtliche Handwerksbetriebe, wie Schuhmacher oder Schneider erhielten den Auftrag Anfertigungen bzw. Reparaturen für die Umsiedler bevorzugt zu behandeln.

Neben der Versorgung mit Wohnraum, Kleidung und Einrichtungsgegenständen, war die Aufnahme von Arbeit ein zentraler Punkt bei der Integration der Umsiedler in die neue Heimat. Sowohl für die deutschen Verwaltungen, als auch für die russischen Besatzer, wie für die Umsiedler selbst war die Eingliederung in den Arbeitsprozess von Bedeutung.
Die Umsiedler konnten sich auf diese Weise eine neue Existenz aufbauen und unabhängig von der öffentlichen Fürsorge für den eigenen Lebensunterhalt sorgen. Die sowjetischen Besatzer hatten vor allem hinsichtlich ihrer Reparationsforderungen Interesse an der Wiederaufnahme der industriellen Produktion und dem Aufleben der deutschen Wirtschaft. Durch den Krieg bedingte Ausfälle innerhalb der Firmenbelegschaften konnten durch die Einstellung von Umsiedlern ausgeglichen und die betriebliche Produktion ausgeweitet werden. Die deutschen Verwaltungen erhofften sich durch die In-Arbeit-Bringung der Umsiedler eine Entlastung der öffentlichen Fürsorge, von der ein Großteil der Umsiedler abhängig war. Darüber hinaus planten die Landesbehörden, durch eine gezielte Ansiedlung von Umsiedler-Fachkräften, Defizite in der Wirtschaftsstruktur Thüringens auszugleichen und den Wiederaufbau voranzutreiben. Die Umsiedler wurden deshalb bereits bei ihrer Ankunft im Quarantänelager gemäß ihrer beruflichen Qualifikation registriert, um sie so besser auf die entsprechenden Aufnahmegebiete zu verteilen.
In der Stadt Jena wurden, angesichts der Kriegschäden, besonders Fachkräfte aus der Baubranche für Reparatur- und Bauarbeiten an Infrastruktur und Gebäuden benötigt. In der Industrie, von den Firmen Schott und Zeiss, wurden verstärkt Arbeitskräfte zur Bewältigung der russischen Reparationsaufträge eingestellt. Bereits im März 1946 beschäftigten beide Firmen zusammen wieder etwa 12 500 Personen. Auch in anderen Bereichen, in Handwerksbetrieben, Handel und Verkehr, im Klinikum etc. fanden die Umsiedler Arbeit.

Eingliederung der Umsiedler in den Arbeitsprozess in Jena, Stand 31.Januar 1946 [7]

Berufszweig GesamtzahlMännerFrauen
Land-, Forstwirtschaft
Industrie
Baugewerbe
Verkehr
Handel
freie Berufe
sonstige
584315
1 704970734
831629202
37429480
766334432
764432
54693453

Die behördlichen Maßnahmen waren jedoch nicht nur auf die Unterbringung männlicher Arbeitskräfte gerichtet. Ebenso mussten für eine Vielzahl von Frauen und JugendlichenArbeitsplätze und Ausbildungsmöglichkeiten beschafft werden. Die Stadt veranlasste deshalb die Einrichtung einer Lehr- und Umschulungswerkstatt auf dem Gelände der Firma Zeiss, die vor allem in Handwerks- und Bauberufen ausbildete. Ähnliche Projekte entstanden auch durch die Initiative ortsansässiger Firmen und Betriebe. Die Firma Känel beispielsweise errichtete eine Lehrwerkstätte für Konfektionsnäherei und Schneiderei, und von der Firma Schott wurde eine regelrechte Werbekampagne für den Ausbildungsberuf des Hohlglasmachers gestartet. Durch Aushänge, Prospekte und Zeitungsannoncen wurden die Lehrlinge angeworben.
Viele der Frauen fanden als Bürokraft, in der Qualitätskontrolle oder anderen Bereichen bei den Firmen Schott und Zeiss eine Anstellung. Andere kamen im kaufmännischen Gewerbe unter, arbeiteten im Klinikum, als Schneiderinnen oder in Heimarbeit. Um den Frauen, die allein mit ihren Kindern nach Jena gekommen waren, die Arbeitsaufnahme zu erleichtern, wurde neben städtischen Betreuungsstellen die Einrichtung betriebseigener Kindergärten für die Kinder der Angestellten angestrengt.
Die städtischen Behörden unterstützten die Umsiedler nicht nur bei der Suche nach Arbeit, sondern auch bei der Gründung einer selbständigen Existenz, vor allem bei der Beschaffung der benötigten Maschinen, Rohstoffe und Kredite. Bis zum Mai 1948 entstanden in Jena drei größere von Umsiedlern betriebene Firmen: die Autowerkstatt Blache & Vogt mit 8 Mitarbeitern, die Kammfabrik Heinrich Czerney mit 17 Mitarbeitern und die Firma Kurt Aloe, Handel und Kosmetik mit 77 Beschäftigten. Darüber hinaus gab es unter den selbständigen Umsiedlern in Jena 63 Handwerker, 70 Gewerbetreibende und 20 Freiberufler.[8]

Für die langfristige Integration der Umsiedler war jedoch nicht nur ihre Unterbringung in festen Wohnraum und Eingliederung in den Arbeitsprozess entscheidend. Sie mussten auch mit den gesellschaftlichen und kulturellen Gepflogenheiten ihrer neuen Heimat vertraut gemacht werden. Hierbei war die Mithilfe von sozialen, kirchlichen und politischen Organisationen von Bedeutung.
Die Volkssolidarität veranstaltete regelmäßig in den Umsiedlerlagern bunte Abende zum besseren Kennenlernen der neuen Umgebung, ihrer Gebräuche und Einwohner. Sie organisierte auch Feierlichkeiten, wie etwa zu Weihnachten, die bei den Umsiedlern für etwas Normalität und Zerstreuung sorgen sollten. Das Amt für Umsiedler unterstützte derartige Veranstaltungen und organisierte selbst kostenlose Besuche kultureller Einrichtungen, wie etwa des Stadttheaters Jenas.[9]
Eine emotionale Stütze waren besonders die Kirchengemeinden der Stadt, zu denen viele der gläubigen Umsiedler von sich aus Kontakt suchten. Hier fanden sie Aufnahme, Beistand und Unterstützung. Nach Angaben eines Pfarrers der Neuapostolischen Gemeinde haben schon viele Neubürger im Kreise der Gemeinde bei ihren Glaubensgenossen, als Träger des gleichen Glaubens, ihre Heimat wiedergefunden.[10]
Die Betreuung der Umsiedler bei der Eingewöhnung in das veränderte politische System war Aufgabe der Parteien und politischen Organisationen, welche durch entsprechende Veranstaltungen Aufklärungsarbeit betrieben. Bei den Vertriebenen sollte mittels Propaganda und Agitation (…) die Akzeptanz des sowjetzonalen Systems und die Bereitschaft zur Mitwirkung an der antifaschistischen-demokratischen Umwälzung erreicht werden.[11]
Forderungen der Umsiedler nach einer Rückkehr in die alte Heimat oder nach Entschädigung für den Verlust von Hab und Gut, sowie die Ablehnung der Oder-Neiße-Grenze wurden als revanchistisch und nationalistisch diffamiert. Das öffentliche Erinnern an die alte Heimat und deren Verlust wurden, ebenso wie die Bildung von Vertriebenenorganisationen und Landsmannschaften, wie sie in der Bundesrepublik entstanden, kriminalisiert und die Umsiedler durch polizeiliche Behörden, später auch durch die Staatssicherheit, überwacht. Bereits im April 1946 wurde die Überwachung der Umsiedlerlager beschlossen, um eine landsmannschaftliche Sektenbildung zu unterbinden.[12] Dennoch konnten Versammlungen von Vertriebenen nicht gänzlich verhindert werden, wie die in einem Polizeibericht erwähnten illegalen Treffen von Schlesiern, Ostpreußen und Sudetendeutschen im Martinshof in Jena zeigen.[13]

Die Lösung des Umsiedler-Problems wurde von der SED erstmals 1948, endgültig 1952/53 proklamiert und es erfolgte die Auflösung der Ämter für Umsiedler. Ab diesem Zeitpunkt waren die Umsiedler nicht länger als eigenständige Personengruppe in statistischen Erhebungen, behördlichen Berichten oder dergleichen offiziellen Angaben aufgeführt. Auch die Bezeichnung Umsiedler, wie die Flüchtlinge und Vertriebenen seit 1945 offiziell genannt wurden, sollte aus dem Sprachgebrauch gestrichen werden, um die Lösung des Umsiedler-Problems zu bekräftigen.
Mit dem Terminus Umsiedler hatte man den negativen Beigeschmack der Begriffe Flüchtling oder Vertriebener vermeiden wollen, da er den östlichen Nachbarstaaten sowie den sowjetischen Besatzern, die doch als Befreier galten, die Begehung eines Unrechts unterstellte und die betroffenen Deutschen in die Rolle des Opfers transferierte. Dies passte nicht zu der Vorstellung der SED von der Umsiedlung als einer gerechtfertigten Strafe für die von den Nationalsozialisten verübten Verbrechen. Gleichzeitig wurde seitens der SED auf die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom August 1945 verwiesen, nach denen eine geordnete Umsiedlung der deutschen Bevölkerungsteile stattfand und diese somit nicht als Flüchtlinge oder gar als wahllos aus ihrer Heimat Vertriebene zu bezeichnen seien.
Um zu verdeutlichen, dass der Zustand der Umsiedlung lediglich vorübergehend war, wurden weitere Ersatzbegriffe eingeführt. In Thüringen beispielsweise wurde ab 1946 aus dem Umsiedler mit dem Verlassen des Quarantänelagers und dem Eintreten in die örtliche Gemeinschaft, und damit in die neue Heimat, offiziell der sogenannte Neubürger. Die Integration sollte so verbal beschleunigt werden.[14] Mit dem Wegfall der gesonderten Erfassung der Umsiedler bzw. Neubürger als eigenständige Personengruppe in offiziellen Berichten und Statistiken, sollten auch diese Ersatzbegriffe auf Anweisung der SED aus dem Sprachgebrauch verschwinden. Ab Anfang der 1950er Jahre war nur noch vereinzelt von ehemaligen Umsiedlern/Neubürgern die Rede.
Abgesehen vom begrifflichen Wegdefinieren, wurde auch das Schicksal der ca. 4,2 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen in der DDR, etwa 24,2% der Bevölkerung, nicht öffentlich benannt oder diskutiert. Die Erinnerung an Flucht, Vertreibung und die verlorene Heimat wurde höchstens im privaten Bereich, von den Betroffenen selbst aufrecht erhalten, durch Erzählungen oder die Pflege von Traditionen bei Feierlichkeiten, wie zu Geburtstagen oder Weihnachten.

Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik Flucht, Vertreibung und Integration war in der DDR nur unter bestimmten, der marxistisch-leninistischen Doktrin entsprechenden Gesichtspunkten gestattet. Neben dieser doktrinären Einengung wurde die Forschung zusätzlich erschwert durch zum Teil fehlende Kenntnisse des internationalen Forschungsstandes, durch den begrenzten Zugang zu den ohnehin vorzensierten Akten sowie durch die ab Anfang der 1950er Jahre fehlende statistische Erfassung der Umsiedler als eigenständige Personengruppe.[15] Empirische Erhebungen durch eine direkte Befragung der Betroffenen wäre nur mit einer offiziellen staatlichen Genehmigung möglich gewesen, wobei sich der Antragsteller jedoch verdächtig gemacht hätte.
Integrationsforschung wurde in der DDR in Ansätzen seit Ende der 1960er Jahre betrieben. Sie konzentrierte sich vornehmlich auf einzelne Problembereiche, wie die Unterbringung der Umsiedler in festen Wohnraum, die Vermittlung in Arbeit oder die soziale Unterstützung und Betreuung. Hierbei wurden besonders die Leistungen des politischen Systems herausgestellt. Als einer der Ersten stellte der Wirtschaftshistoriker Horst Barthel Ende der 1960er Jahre die Eingliederung der Vertriebenen in den Arbeitsprozess und ihre Bedeutung für den wirtschaftlichen Aufbau der DDR dar. Anfang der 1970er Jahre wurde von Hans-Ulrich Krellenberg die Integration der Vertriebenen in die Aufnahmegesellschaft des Landes Mecklenburg-Vorpommern bearbeitet und die vielfältigen Bemühungen um Aufnahme, Unterbringung und Einbürgerung der Umsiedler aufgezeigt.
Eine kontinuierliche und systematische Beschäftigung mit der Integrations-Problematik begann in den 1980er Jahren an der Humboldt-Universität Berlin und an der Pädagogischen Hochschule Magdeburg. Die Magdeburger Forschungsgruppe um Manfred Wille hatte sich zum Ziel gesetzt, die Aufnahme und beginnende Integration der Umsiedler auf Ebene der einzelnen Territorien und nicht im Gesamten für die DDR zu erforschen. Die Ergebnisse sollten als Grundlage für weiterführende und vergleichende Untersuchungen dienen. Die von Wolfgang Meinicke geleitete Berliner Forschergruppe konzentrierte sich vor allem auf die Haltung von Parteien und Gewerkschaften zur Vertriebenenfrage.
Mit der politischen und gesellschaftlichen Wende ergaben sich neue Bedingungen und Möglichkeiten für die Integrationsforschung. Durch den Wegfall der doktrinären Einengung, die Öffnung der Archive und dem Zugang zu westdeutschen und internationalen Ergebnissen konnte die Forschung zu der Thematik Flucht, Vertreibung und Integration intensiviert werden. Die Perspektive ist hierbei einerseits auf den Vergleich Osten-Westen im Umgang mit der Integrationsproblematik und andererseits auf die Erlebnisse und Erinnerungen der Vertriebenen gerichtet.

In letzter Zeit ist die Erinnerung an Flucht und Vertreibung besonders durch die literarische und mediale Auseinandersetzung mit der Thematik verstärkt ins Blickfeld der Öffentlichkeit gelangt und somit nicht länger auf die private Tradierung bzw. die Erinnerungsmilieus der Vertriebenenvereine und Landsmannschaften beschränkt.
Heute stellt sich die Frage, inwieweit und vor allem in welcher Form die doch eher subjektive Erinnerung Eingang in das kollektive Gedächtnis der Deutschen finden sollte, wie die Debatten um das vom Bund der Vertriebenen initiierte Zentrum gegen Vertreibungen zeigen. Die Diskussionspunkte betrafen nicht nur Trägerschaft und Standort, sondern auch das ursprüngliche Konzept eines solchen Zentrums. Kritisiert wurden besonders die Herauslösung des Themas aus dem historischen und europäischen Kontext, sowie die meist einseitig auf die Leiden der Deutschen gerichtete Darstellung. Die alliierten Siegermächte und die Vertreiberstaaten werden dadurch in die Rolle des Täters gedrängt, während den Deutschen die Rolle des Opfers zukommt.
Die traumatischen Erlebnisse der Betroffenen sollten zwar nicht verharmlost, vielmehr ihrem Schicksal gedacht werden. Es ist jedoch auch klar, dass es kein streng abgrenzbares nationales Erinnern geben kann, sondern das dieses im europäischen Kontext geschehen sollte. Denn betrachtet man die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, ist ersichtlich, dass Millionen Menschen verschiedener Nationalitäten, und nicht nur Deutsche, von Flucht und Vertreibung bzw. zwangsweiser Umsiedlung betroffen waren. Auch der kausale Zusammenhang von nationalsozialistischer Expansions- und Vernichtungspolitik und der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus dem Osten und Südosten Europas sollte dabei nicht außer Acht gelassen werden.
Ein objektiver und verantwortungsvoller Umgang mit dem Thema Flucht und Vertreibung kann nur im historischen und europäischen Gesamtkontext stattfinden und sollte neben dem Gedenken auch auf den internationalen Austausch und Dialog gerichtet sein.

Quellen- und Literaturauswahl:
Aktenbände des Jenaer Stadtarchivs: Bd. F0012, Bd. F0166, Bd. F0369, Bd. F0371, Bd. F0376, Bd.F0377, Bd. F0382, Bd. F0383, Bd. F0390.
Aktenbände des UA Schott Jenaer Glas GmbH: Bd. 10/21, Bd. 10/35, Bd. 10/50, Bd. 10/56.
Beer, Mathias: Umsiedlungen, Deportationen und Vertreibungen im Europa des 20. Jahrhunderts, in Bingen, Dieter/Borodziej, Wlodzimierz/Troebst, Stefan (Hrsg.): Vertreibungen europäisch erinnern, Wiesbaden 2003.
Benz, Wolfgang: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ergebnisse, Folgen, 3.Aufl., Frankfurt/M.1995.
Benz, Wolfgang (Hrsg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949/55, Berlin 1999;
Naimark, Norman: Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert und die Problematik eines deutschen Zentrums gegen Vertreibungen in Faulenbach, Bernd/Helle, Andreas (Hrsg.): Zwangsmigration in Europa, Essen 2005.
Plato, Alexander von/ Meinicke, Wolfgang: Alte Heimat-neue Zeit. Flüchtlinge, Umgesiedelte, Vertriebene in der Sowjetischen Beatzungszone und der DDR, Berlin 1991.
Schwartz, Michael: Vom Umsiedler zum Staatsbürger. Totalitäres und Subversives in der Sprachpolitik der SBZ/DDR, in Hoffmann, Dierk/Krauss, Marita/Schwartz, Michael (Hrsg.): Vertriebene in Deutschland, München 2000.
Schwartz, Michael: Umsiedler– Flüchtlinge und Vertriebene in der SBZ/DDR, Bonn 2006.
Wille, Manfred: Die Umsiedler-Problematik in der DDR-Geschichtsschreibung, in Wille, Manfred/Hoffmann, Johannes/Meinicke, Wolfgang (Hrsg.): Sie hatten alles verloren. Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Wiesbaden 1993.
Wille, Manfred: Die Vertriebenen und das politisch-staatliche System der SBZ/DDR, in Hoffmann, Dierk/Krauss, Marita/Schwartz, Michael (Hrsg.): Vertriebene in Deutschland, München 2000.
Wille, Manfred: Gehasst und umsorgt. Aufnahme und Eingliederung der Vertriebenen in Thüringen, Stadtroda 2006.


[1]Vgl. Norman Naimark: Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert und die Problematik eines deutschen „Zentrums gegen Vertreibungen“, in Bernd Faulenbach/Andreas Helle (Hrsg.): Zwangsmigration in Europa. Zur wissenschaftlichenAuseinandersetzung um die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Essen 2005.
[2]Stadtarchiv Jena, Amt für Umsiedler, Bd. F0383.
[3]Stadtarchiv Jena, Amt für Umsiedler, Bd. F0382.
[4]Stadtarchiv Jena, Büro des Oberbürgermeisters, Bd. F0166.
[5]Stadtarchiv Jena, Amt für Umsiedler, Bd. F0376.
[6]Stadtarchiv Jena, Büro des Oberbürgermeisters, Bd. F0166.
[7]Stadtarchiv Jena, Amt für Umsiedler, Bd. F0383.
[8]Stadtarchiv Jena, Amt für Umsiedler, Bd. F0369.
[9]Stadtarchiv Jena, Amt für Umsiedler, Bd. F0377.
[10]Stadtarchiv Jena, Büro des Oberbürgermeisters, Bd. F0166.
[11]Manfred Wille: Die Vertriebenen und das politisch-staatliche System der SBZ/DDR, in Dierk Hoffmann/ Marita Krauss/Michael Schwartz (Hrsg.): Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungs-Perspektiven, München 2000, S.204.
[12]Stadtarchiv Jena, Amt für Umsiedler, Bd. F0371.
[13]Manfred Wille: Gehasst und umsorgt. Aufnahme und Eingliederung der Vertriebenen in Thüringen, Stadtroda 2006, S.37.
[14]Vgl. Michael Schwartz: Vom Umsiedler zum Staatsbürger. Totalitäres uns Subversives in der Sprachpolitik der SBZ/DDR, in Dierk Hoffmann/ Marita Krauss/Michael Schwartz (Hrsg.): Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, München 2000.
[15]Vgl. Manfred Wille: Die Umsiedler-Problematik in der DDR-Geschichtsschreibung, in Manfred Wille/Johannes Hoffmann/Wolfgang Meinicke (Hrsg.): Sie hatten alles verloren. Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Wiesbaden 1993.

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