Kriegsmacht Deutschland? Deutschlands erzwungene Abkehr von der militärischen Zurückhaltung

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Die  Sondersitzung des Deutschen Bundestages (27.02.2022) markiert eine fundamentale Wende der deutschen Politik hin zu einer knallharten Realpolitik, ohne dass man heute schon ermessen könnte, welche Aspekte von künftigen Historikern einmal als weitsichtig und welche als katastrophal bewertet werden. Möglicherweise werden manche Historiker später auch zum Ergebnis kommen, „dass die deutsche Politik in vielfältige Zwänge eingemauert war“. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg im Auftrag des russischen Präsidenten gegen die Ukraine seit dem 24. Februar war letztlich Anlass und Auslöser der Sondersitzung des Bundestages, bei der es aber nicht primär um die Ukraine ging, sondern vielmehr um die künftige Rolle Deutschlands in Europa und in der Welt. Die Debatte hatte, ausgelöst durch den Angriff auf die Ukraine, mehrere Ebenen der Betrachtung der Wirklichkeit: Es ging um die Gewährleistung der Energiesicherheit mit Kohle- und Atomkraftwerken, um die „Verpflichtung“ Deutschlands zu einer beschleunigten massiven Aufrüstung, um die Finanzierung dieser Aufrüstung über weitere Schulden und insbesondere auch um die Abkehr von der traditionellen deutschen Außenpolitik der „militärischen Zurückhaltung“. Die Akademie Bergstraße für Ressourcen-, Demokratie- und Friedensforschung hat vor vier Jahren mit dem Buch „Kriegsmacht Deutschland?“ angeregt, über genau das, was Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner gestrigen Regierungserklärung angekündigt hat, frühzeitig gründlich und vertieft zu reflektieren. Ausgelöst durch Putins Krieg wurde nun in Deutschland nicht mehr offen und demokratisch debattiert, sondern nur noch verkündet, dass Deutschland künftig eine führende Rolle als Ordnungsmacht unter anderem in Europa einnehmen wird. In der gestrigen Berichterstattung hieß es, „Olaf Scholz könnte schon bald zum Kriegskanzler werden“ (ZDF/Wulf Schmiese).

Korrektur von Kohle- und Atomausstieg?

Die Frage der Energiesicherheit ist der einfachere Teil der Analyse der Sondersitzung des Bundestages: Den Spitzen von Grünen und SPD wurde im Vorfeld der Zahn gezogen, dass man – ohne verfügbare Langzeitspeicher – mit Wind- und Solaranlagen allein selbstverständlich keine versorgungssichere Energieversorgung organisieren kann.

Unter Verweis auf Putins Krieg könnten SPD und Grüne nun gesichtswahrend den Kohle- und den Atomausstieg korrigieren.

Dies wäre zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit und zur Vermeidung von Blackouts bzw. von regelmäßigen, vorsorglichen Stromabschaltungen im großen Stil ein überfälliger Schritt.

Da der Atomausstieg von Beginn an unter dem selbstverständlichen Vorbehalt stand, dass Versorgungssicherheit und Wohlstand nicht gefährdet werden dürfen (Öko-Institut 1980), wäre eine sich nun abzeichnende, fundamentale Korrektur der Atomenergiepolitik von Grünen und SPD unter den gegebenen Umständen eine vernunftgeleitete Zäsur.

Deutschland als militärische Ordnungsmacht

Sehr viel schwieriger ist die Bewertung der außen- und sicherheitspolitischen Zäsur. Initiiert unter anderem vom heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier wurde vor etlichen Jahren im Umfeld des Auswärtigen Amts eine sehr intensive Debatte über eine Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik geführt. Im Kern ging es dabei um eine Abkehr von der traditionellen „militärischen Zurückhaltung“ Deutschlands.

Die Akademie Bergstraße hat diese Debatte in dem 2018 veröffentlichten Buch „Kriegsmacht Deutschland? Informationen und Handlungsempfehlungen zu brandgefährlichen Internationalen Erwartungen an Deutschland“ dokumentiert und analysiert. Seitdem hätte eine breite demokratische Debatte, insbesondere aber eine tiefe Reflexion darüber stattfinden müssen, was es bedeutet, dass Deutschland künftig als führende Ordnungs- bzw. Kriegsmacht auftreten soll, dass Deutschland in Teilbereichen der Welt an die Stelle der USA als „Weltpolizist“ treten soll – mit allen damit verbundenen Konsequenzen.

Am 27. Februar 2022 hat Kanzler Scholz ohne vorherige Debatten in Öffentlichkeit und Parlament verkündet, dass Deutschland diese Rolle nun übernehmen wird.

Widerstände in den Apparaten

Gegen eine solche 180-Grad-Wende weg von der „militärischen Zurückhaltung“ gab und gibt es seit Jahrzehnten Widerstände in den Regierungsapparaten und in der Politik.

Deutschland galt bis zuletzt als eine „Vormacht wider Willen“, wie es der Politologe Stephan Bierling in einem Buchtitel treffend auf den Punkt brachte.

Bis zuletzt verweigerte sich die deutsche Politik immer wieder der Erwartung, sich an Kriegseinsätzen beteiligen zu sollen, so unter anderem im Irak und in Libyen. Insider wissen, wie kreativ, „trickreich“ und konsequent die deutsche Politik der militärischen Zurückhaltung bis in die jüngste Vergangenheit hinein in vielen kleinen Detail-Entscheidungen umgesetzt wurde.

Das Versprechen, dass von Deutschland nie wieder Krieg ausgehen sollte, wurde offenbar auf vielen Ebenen – soweit als möglich – sehr konsequent umgesetzt, ohne dass die Öffentlichkeit davon allzuviel erfuhr, es insofern auch kaum honorieren konnte.

Deutschland soll an die Stelle „überdehnter“ Mächte treten

Nun aber ist alles anders. Seit Jahren schon sieht sich die deutsche Politik einem massivem Druck ausgesetzt, eben diese Zurückhaltung aufzugeben.

Es heißt – pointiert dargestellt -, der weitere wirtschaftliche Erfolg Deutschlands auf den internationalen Märkten hänge davon ab, dass Deutschland bereit sei, anstelle bisheriger, „überdehnter“ Kriegsmächte wie insbesondere den USA, aber auch Großbritannien und Frankreich, in Teilen der Welt als Ordnungsmacht zu fungieren.

„Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muss“

Die Logik scheint zu sein:

Wer weiterhin Güter exportieren und Wohlstand generieren will, wer ökonomisch überleben will, der muss bereit sein, auch mit militärischen Mitteln daran mitzuwirken, eine wie auch immer geartete Weltordnung durchzusetzen. Andernfalls droht möglicherweise ein ökonomischer Niedergang.

Der stellvertretende Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“, Bernd Ulrich, schrieb schon 2011 in seinem Buch „Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muss“:

Es gebe eine „Weltordnungsarmee“ bzw. eine globale „Polizeiarmee“, an der sich Deutschland beteiligen „muss“. Ist es also keine wirklich freie, demokratische Entscheidung mehr, Krieg zu führen oder nicht?

Erzwingt Putin eine Modifikation der deutschen Außen- und Sicherheitspolitk ohne Debatte?

Der brutale und völkerrechtswidrige Angriff der von Präsident Putin befohlenen Streitkräfte auf die Menschen in der Ukraine hat nun möglicherweise dazu geführt, dass die deutsche Politik „wider Willen“ genötigt wird, urplötzlich weitreichendste Entscheidungen zu treffen.

Diese mit der Regierungserklärung von Bundeskanzler Scholz vom 27. Februar 2022 vorgezeichneten, extrem weitreichenden, potenziellen Entscheidungen wurden bislang in keiner Weise dem normalen demokratischen Entscheidungsfindungsprozess unterworfen.

Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass einem fundamentalen Richtungswechsel, zumal in der Außen- und Sicherheitspolitik, mindestens monatelange, eigentlich aber jahrelange intensive Abwägungsprozesse vorausgehen, in die – auch in einer repräsentativen Demokratie – die breite Öffentlichkeit frühzeitig und intensiv einzubeziehen ist.

Schließlich ist es am Ende immer die Bevölkerung, die in jeglicher Hinsicht die Konsequenzen staatlichen Handelns zu tragen hat – wobei manche Politiker meinen, „wir“ seien „gemeinsam“ bereit, beliebig von oben Verordnetes mitzutragen.

Weitere Informationen

Kriegsmacht Deutschland? Informationen und Handlungsempfehlungen zu brandgefährlichen „Internationalen Erwartungen an Deutschland“ (2018)

Anleitung gegen den Krieg (2016)

Kriegstreiber Energiekonzerne? Energiewirtschaftliche Weichenstellungen im Ukraine-Krieg (2015)

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