Leipzig: Der musikalische Kontext eines politischen Wahnwitzes

Universitaetskirche in Leipzig, Foto. Stefan Groß

In Leipzig gelingt es mit finanzieller Unterstützung der Stadtverwaltung – 2018 mit Steuergeld in sechsstelliger Größenordnung – noch immer, durch Aktivitäten des Kurt-Masur-Institutes schwerwiegende Fakten, die zweifelsfrei als persönliche, politisch-moralische Verfehlungen des weltweit bekannten Maestros gewertet werden müssen, in der Musikgeschichte erfolgreich zu verschweigen. Den Kontext der aktuellen Gysi-Einladung bildet eine Klitterung der Leipziger Musikgeschichte, die im eBook „Kurt Masur entzaubert“ (unter Yumpu kostenfrei lesbar) beschrieben und die verallgemeinert auf die deutsche Musikwissenschaft in Büchern des Berliner Musikphilosophen und Komponisten H. Johannes Wallmann veröffentlicht ist – mehr dazu im Internet unter dem Namen des Autors.
Kurt Masur war nicht „nur“ im Jahr 1970 einer der „SED-Ehrenwächter“ am aufgebahrten Leichnam des gefürchteten SED-Berziksdiktators Paul Fröhlich, jenem Paul Fröhlich, der zwei Jahre zuvor die barbarische Sprengung der intakten Paulinerkirche und auch den Leipziger Schießbefehl mit mehrfacher Todesfolge zum 17. Juni 1953 zu verantworten hatte. Masur hat sich noch kurz vor dem Zusammenbruch der SED-Diktatur am 7. Mai 1989 zur DDR-Kommunalwahl als Kandidat der „Nationalen [SED-]Front“ zur Verfügung gestellt, die Formulierung „imperialistischer Aggressor USA“ unterschrieben, ein Komsomol-FDJ-Orchester unter dem Lenin-Emblem dirigiert und – es ist nicht mehr zu fassen – dem SED-Diktator Honecker noch nach dessen vom Volk erzwungener Abdankung (18.10.1989) einen Dankesbrief geschrieben. Weil der reingewaschene Maestro mit diesen hochbrisanten, verschwiegenen Verfehlungen noch heute in Leipzig als „Held“ der Friedlichen Revolution von 1989 gefeiert wird, ist auch Gysi zum 9. Oktober 2019 folgerichtig ein „geeigneter“ Festredner. Als Physiker weiß ich, dass in verschiedenen Bezugssystemen die Wahrheitswerte „richtig“ und „falsch“ vollkommen anders zugeordnet werden (müssen).
Auf meine Frage zu den schweren moralischen Verfehlungen bekam ich am 25.10.2018 während des 1. Kurt-Masur-Forums vom Gesprächsmoderator nur die kurze Verwarnung: Diese Veranstaltung habe das Ziel, Fugen zu schließen und nicht aufzubrechen! Im gleichen Moment wurde die Diskussion abgebrochen und das Forum beendet.
An der Leipziger Hochschule für Musik und Theater wird die hochproblematische politische Vergangenheit nicht aufgearbeitet (dazu auch das o. g. eBook). Zum musikalischen Kontext gehört auch, dass der Rektor dieser Hochschule meinen vorgelegten Text zur Leipziger Musikgeschichte seinen „Bachelorstudenten um die Ohren hauen“ würde; einen Text, der unmittelbar nach dieser unverschämten Abwertung in der Österreichischen Musikzeitschrift (ÖMZ 3/2016) veröffentlicht wurde.
Die Leipziger Internetzeitung hat am 17. Juni 2019 den Artikel „Kurt Masur entzaubert: Roland Meys Streitschrift deutlich erweitert im Buchhandel“ und der Deutschlandfunk das Interview „Kurt Masur und seine Beziehung zum System DDR“ (vom 18.02.2019) online gestellt. Selbst der vorhandene DDR-Stimmzettel mit dem Namen des Maestros und der authentischen Aufschrift „Gegenstimme“ wird von den interviewten Vertretern aus Rathaus und Gewandhaus infrage gestellt.
Wer sich unter dieser speziellen Leipziger Realität noch über den politischen Wahnwitz „Gysi als Festredner zum 9. Oktober in Leipzig“ wundert, der ignoriert die uns täglich begleitende Relativität. Dieser Musiker-Wunsch ist nämlich das Ergebnis einer zwangsläufigen Leipziger Entwicklungsfolge, gegen die nun endlich fundamental und allumfassend mit der Veröffentlichung der vollständigen (auch persönlichen) Wahrheit über die Vergangenheit der Zukunft zuliebe vorgegangen werden muss.
Meine Überzeugung ist: Wenn der letzte SED-Chef Gregor Gysi am 9. Oktober 2019 in Leipzig die Festrede zur Ode „An die Freiheit“ hält, diesmal Katharina Witt anstelle von Kurt Masur als ehemalige DDR-Repräsentantin mit ihrer Aussage, „von diesem Staat [DDR] überzeugt“ gewesen zu sein , in der 1. Reihe sitzt und das Verschweigen personenbezogener, politisch relevanter Fakten der Musikgeschichte weiterhin akzeptiert wird, dann wird auch die von der AfD betriebene Klitterung der deutschen Vergangenheit immer mehr Anerkennung erfahren und unsere Demokratie in absehbarer Zeit am Ende sein.
Beethoven muss am 9. Oktober zu seiner genialen Musik auch das letzte Wort erhalten. Er hat für unser aller Leben bereits ca. 150 Jahre vor NS-Diktatur und SED-Diktatur die moralische Legende formuliert: „Die Kreuze im Leben des Menschen sind wie die Kreuze in der Musik: Sie erhöhen.“ Demzufolge sollten die durch die politischen Kreuze dieser Diktaturen „Erhöhten“ (und nicht ehemalige Opportunisten) am 9. Oktober 2019 in der ersten Reihe sitzen und einer von ihnen die Festrede halten.
Roland Mey, Leipzig
Mitglied des Bürgerkomitee Leipzig 1989/90