Der Jackpot des Glücks

Sonnenuntergang am Bodensee, Foto: Stefan Groß

Glück ein äußerst vielschichtiger Begriff, dessen wahrgenommene Existenz entscheidend von den Augen seines Betrachters abhängig ist. „Wahres Glück besteht angeblich darin, aus dem eigenen Selbst herauszutreten; aber das allein reicht nicht, denn man muss draußen bleiben, und um dies zu schaffen, braucht man eine Aufgabe, die einen ganz in Anspruch nimmt.“ Diese klugen Worte schrieb der amerikanische Schriftsteller Henry James in seinem frühen Werk „Roderick Hudson“. Nun tritt der amerikanische Schriftsteller Richard Powers aus dem eigenen Selbst heraus, um einen unverstellten Blick auf diesen fest verankerten Bestandteil im Leben der Menschheit zu werfen.


Gerade in unserer heutigen Leistungsgesellschaft nimmt das subjektive Glücksstreben einen immer höheren Stellenwert für den Einzelnen ein. Als originäres individuelles Freiheitsrecht hat es sogar Eingang in das Gründungsdokument der ersten neuzeitlichen Demokratie, in die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, gefunden (Pursuit of Happiness). Dessen Förderung ist vielfältiger Gegenstand von Forschung und Beratung unter soziologischen, philosophischen, psychotherapeutischen und neurobiologischen Gesichtspunkten. So meinte man zum Beispiel nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms auch dem Glücksgen auf dem 17. Chromosom auf die Spur gekommen zu sein, das dort durch Beeinflussung des Serotonin- und Dopamintransports im Gehirn den Träger vor Stress und Depressionen schützt. Fortan, so die Schlagzeile, sei es ein Leichtes, allzeit gesunde und glückliche Menschen zu „erzeugen“. Zwar konnte sich diese Behauptung nicht manifestieren, aber Powers, gelernter Physiker und Informatiker, verarbeitet diese wissenschaftliche Entdeckung in seinem jüngsten, äußerst komplexen Roman.
Der Autor siedelt die Handlung in einer nicht näher definierten Zukunft in Chicago oder eher einem Parallel-Chicago an. „Dieses Chicago ist Chicagos Retortenbaby, genetisch verändert, um flexibler zu sein“, erklärt er selbst in seinem Buch.
Im Mittelpunkt des über 400 Seiten starken Plots steht Thassadit Amzwar, eine junge Berberin aus Algerien und Studentin am Mesquakie College. Trotz tragischer persönlicher Schicksalsschläge ist sie eine durch und durch fröhliche, lebensbejahende junge Frau. „Zehn Jahre eines organisierten Blutbads haben ein Land von der Größe Westeuropas auf einen wandelnden Leichnam reduziert. Und Thassa ist aus diesem Land hervorgegangen, als wäre sie eine glückselige Mystikerin. (…) Ihre Heiterkeit gleicht einem Tanz. Dieses Etwas, das sie an sich hat, verschlägt ihm die Sprache. Glückliche Menschen müssen etwas kennen, das niemand anderer kennt. Irgendein Geheimnis des Lebendigseins, hart erarbeitet und rätselhaft, fast außer Reichweite.“ Durch ihre fast unheimliche Zufriedenheit und intensive Glücksausstrahlung fällt sie Russell Stone, ihrem Dozenten für kreatives Schreiben, auf. Fasziniert von ihrer Persönlichkeit, gleichzeitig jedoch beunruhigt von ihrem ansteckenden Frohsinns, tippt er auf eine Krankheit: Hyperthymie.
Stone zieht die am gleichen College beschäftigte Psychologin Candace Weld zu Rate. Dabei kommen sich beide näher. Gleichzeitig entwickeln beide zu Thassadit ein tief freundschaftliches, ja beinahe elterliches Verhältnis.
Doch das angeborene Stimmungshoch der Berberin dringt an die Öffentlichkeit und löst einen unglaublichen Medienhype aus. Sie wird in Talkshows herumgereicht und Forschungsgegenstand des Stargenetikers Dr. Thomas Kurton.
Langsam verwandelt sich das große Glück in ein zunehmendes Unglück.
Erneut wartet Powers mit einem raffinierten, doppelbödigen Plot auf („Wenn man zu wissen glaubt, was man sieht, sollte man noch einmal genauer hinschauen.“), der auf mehreren Ebenen agiert und in den er verschieden stark kontrastierende Handlungsfäden einwebt. So offenbart die alles überspannende Rahmenhandlung das Aufzeigen des nicht immer einfachen Weges eines Schriftstellers von der Idee bis zur Fertigstellung seines Romans, sein ständiges Ringen, seine Zweifel, aber und vor allem auch die Einsamkeit , die über allem liegt. Powers gibt diesen Part einem namenlosen Ich-Erzähler, der vor allem zu Beginn und am Ende des Romans als Art Figurenerfinder eingesetzt wird. Im Mittelteil des Buches hält sich dieser fast gänzlich aus dem Geschehen heraus und kehrt nur gelegentlich als „Wirklichkeitsinformant“ zurück
Den größten Teil der Handlung nimmt die teilweise sehr konträre Dialogführung von Wissenschaft und Literatur ein. Powers stellt die beiden Lager gegenüber und versucht immer wieder die Frage zu beantworten, wessen Sichtweise die Wirklichkeit genauer erfasst. „Ja, da gibt es eine gewisse Feindseligkeit“, meint er in einem Interview. „Aber ich war schon immer amüsiert und auch erstaunt darüber, dass Literatur und Wissenschaft als zwei derart voneinander getrennte Welten gesehen werden. Literatur untersucht, wer wir sind und wo wir sind. Aber ich kann mir niemanden vorstellen, der leugnet, dass auch Wissenschaften (…) an den Antworten auf diese Fragen beteiligt sind.“
Entstanden ist ein äußerst intellektuelles Buch, das mit einer detailversessenen und überbordenden Fülle fachspezifischer Kenntnisse aus dem Bereich der Genetik und Biotechnologie aufwartet. Kurze, beinahe wie aus einem Blog gerissene Satzsequenzen wechseln sich mit längeren, beschreibenden Abschnitten ab. Die Sprache ist geschliffen und kraftvoll, jedoch relativ kühl und distanziert. Aber gerade dadurch wird die scharfsinnige Sezierung des Gesellschaftszustandes verstärkt. Denn, so Powers in seinem Roman, „wir glauben aufgrund unserer Beschaffenheit, dass uns die Dinge, die wir haben wollen, glücklich machen werden. Aber wir sind auch so beschaffen, dass das Glück der Wunscherfüllung nur von sehr kurzer Dauer ist. Sobald wir haben, sehnen wir uns nach dem Glück des Wünschens zurück.“ Doch „Glück ist keine Belohnung für Tugend: Das Glück ist die Tugend.“, lässt und die Erzählerstimme aus diesem klugen Roman wissen.

Bibliografische Angabe:
Richard Powers: Das größere Glück.
Übersetzt aus dem Englischen von Henning Ahrens
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009.
415 Seiten, 22,95 EUR
ISBN-13: 9783100590244

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.