„Rathenow präsentiert in Jena sein neues Buch, in dem auch sein Geburtsort immer wieder vorkommt. Dies dürfte der erste Gedichtband sein, der eine Triggerwarnung enthält; die selbst zum Prosagedicht wird, in dem der Autor sich selbst und die bei jungen Frauen erfolgreichen „New adult“-Romane ironisiert. Zwar handelt es sich um neue Gedichte, aber seine Eltern in Jena kommen genauso vor wie der Opa, der gern mit dem Luftgewehr einen Federball aus dem Baumästen schoß. Jena, Dresden, Berlin: Jemand bewegt sich als Dichter durch Innen- und Außenwelten. Er baut ein Labyrinth aus lauter Ausgängen und das in einem Gesamtkunstwerk eines handwerklich versierten Verlegers mit prägnanten Holzschnitten der Leipziger Buchkünstlerin Katja Zwirnmann. Nach seinem erfolgreichen Prosaband „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten“ (2022) ein neuer Versuch in zielgerichteteter Verzettelungslust. Wie erhält sich einer die Neugier auf die Gegenwart?
Eines der fünf Kapitel dürfte für Leser in Jena besonders interessant sein: Es enthält lauter Gedichte über diese Stadt, seit Anfang der siebziger Jahre im letzten Jahrhundert. Die Gleichzeitigkeit linker antiimperialistisch inspirierter Versuche (fast DDRnah) und der schon deutliche Ekel an der DDR verblüffen.
Die Lesung wird von Katharina Kempen moderiert.
Der Eintritt ist frei.
Veranstaltungsort
Ernst-Abbe-Bücherei Jena
Engelplatz 2
07743 Jena
Veranstalter
Ernst-Abbe-Bücherei Jena““
Quelle: Text Jena-Kultur
Lutz Rathenow, früher ist morgen. Einhundertelf Gedichte mit Holzschnitten von Katja Zwirnmann. Weilerswist: Liebe, 2025. 151 S.
von Irmgard Hunt
Auf eine Weise ist diese Besprechung von Lutz Rathenows neuem Lyrikband eine Antwort auf eine Kritik in TRANS-LIT2 XXXI/1, 2025. Nach wiederholtem Lesen der Gedichte sowie deren Rezension scheint mir jene Kritik allzu streng. Sie rügt das Fehlen der „normalen Logik und rationalen Syntax.“ In der Lyrik?, will man da fragen.
An Lutz Rathenows Lyrik scheiden sich die Geister. Schon vor etwa einem Dutzend Jahren hatte ich über seine Publikationen einen Austausch mit dem Dichter Dieter M. Gräf, der mir in einer langen, leider unauffindbaren Mail erklärte, was sein Missfallen an Rathenows Werk ausmacht. Ich denke, was an-eckt und kontrovers bleibt, ist wertvoll und läuft nicht nur so dahin, versickert nicht im Sand, ins Vergessen gefallen. Rathenow präsentiert seinen neuen, wunderschön gebundenen Band in fünf Teilen mit fantasievollen, neugierig machenden Überschriften: „Die Zeit berühren“, „Tauschen wir die Geheimnisse wie früher die kleinen Bilder“, „Erwachsen genug, Kind zu sein . . .?“, „Gezwitscher, Getöse, Gelächter: wie Thüringen ist Jena . . .“ und „Die Texte laufen in verschiedene Richtungen davon und treffen sich plötzlich wieder“ – unverkennbare Rathenow-Sprache.
Wer schon im ersten Gedicht die Eingangs-Idee „Die Welt / bellt mich an“ (7) nicht versteht, dem fehlt es womöglich an Fantasie. Ebenso ein paar Seiten weiter: „ … Es wird / fallen gelassen“ ist klar; es fehlt hier kein Wer oder Was. Viele Beispiele irritieren den Rezensenten, weil ihm Klarheit oder Logik in ihnen fehlen, obwohl sie doch ein Fenster für eigene Fantasie öffnen. Das ist es, was den Leser an diesen Gedichten fasziniert, der offen an sie herangeht oder gewillt ist, mitzuspielen, offen für Fragen, Sprachversuche, Wortspiele, Sinn, Sinnsuche und selbst Unsinn. Auch absurde Gedichte sind Gedichte. „Ich glaube“ ist ein philosophisches Gebilde, während ihm gegenüber „Ins Offene“ pure Spielerei ist. (24-25) Auf solche Weise unterhält uns der Dichter Seite für Seite, mit einer Mischung aus ernst und dem, was auf den ersten Blick albern scheinen mag. Das ist Rathenow-Kunst. Ihm gelingt auch ein Gedicht zur Natur, „Umweltbeglückt“, das, trotz allem Baum-Grün-Lob am Ende bissig und bitterernst zugreift. (30) Auch politisches Klima finden wir vor: Vier Leute „lesen in derselben Wochenzeitung / den gleichen Artikel. Zwei lächeln nicht.“ (33)
Teil II beginnt mit einer philosophischen Überlegung, was ein wirklicher Dichter ist – man lese es selbst nach. Ein ausnehmend gutes Gedicht über Ende und Tod folgt; „Eine Frau“ ist einfach schön, „Eine“ etwas gewagt; „Lesevergnügen“ bedichtet, was eine Mischung aus Stasiakten und Liebesbriefen ergeben kann; die folgenden kleinen Liebesgedichte sind hübsch, „Plagiatserschleichung“ (59) clever. Ein treffendes Berlin-Bild – Demo natürlich – ergibt sich im Langgedicht „Der 1. Mai 2001“ (62). Seinem Mitautor Harald Hauswald widmet Rathenow „Die Liebe zum Bild“ (67). Mit dem Fofografen gab LR vor Jahren einen höchst erfolgreichen und vielmals aufgelegten Band Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall heraus. Eine Postkarte erinnert den Dichter an Glasskulpturen unter Himmel und Licht, in einer Wiederholung von Worten in umgekehrter Folge (Epanodos), einer Stilform, deren sich Rathenow häufig bedient.
Teil III erweist sich als Spielwiese. Witzig und spritzig geht es hier zu, immer wieder in origineller Rathenow-Sprache, gereimt oder ungereimt: Als Erwachsener Kind spielen. Aberwitziges, Unlogisches, Absurdes ist erlaubt und verlangt Humor. Und dann ein höchst hintergründiges Gedicht, „Wütend sein und schunkeln“ (81), eines der besten in der Sammlung. Faszinierend auch ein weiteres Epanodos-Gedicht über Krise und Chance (83); es zwingt zum zwei, drei Mal lesen und zum Nachdenken.
Die IV. Sektion enthält mehrere wiederentdeckte Gedichte aus den 70er und 80er Jahren – vielleicht überarbeitet –, die so viel später sehr gut dastehen. Auffallend bei LR ist allgemein das Auf und Nieder der Qualität oder Ernsthaftigkeit der Gedichte; oft stehen sie Seite an Seite und tragen zum generellen Eindruck des Inkongruenten, Nicht-Zusammenpassenden bei, das manchen Leser stören mag. Für andere ist es die Einladung zum Überdenken dessen, was Lyrik kann und darf. Das Auschwitz -Gedicht – folgend auf „Falttag“, das zur Aktion einlädt – zeigt, dass Stillsein und Schweigen nicht dasselbe sind, und welche Art wo und wann nötig ist (100, 101). Gegen Ende des Teiles stellen die Einträge immer lebhafter Jugend und Thüringen dar. Der Dichter der 70er Jahre zeigt hier die einstmalige DDR eindrucksvoll und dunkel.
Teil V schließlich beginnt wieder mit anscheinend widersprüchlichen Zusammensetzungen: schnell/langsam, salzig/süß, verschieden/identisch – eine von LRs idiosynkratischen, charakteristischen Stilmitteln, außer der Intertextualität (z.B. der Grass-Subtext der rasenden Schnecke). In „Selbsttäuschungslabyrinth“ (121) wird wegen der Windmühlen Don Quixote bemüht. „Das Leuchten . . .“ (123) kann Metapher für Sterne sein – oder umgekehrt. „Der Tod“ und „Der Tod schon wieder“ (124, 126) als Zwillingspaar stellen diesen super-realistisch dar, das erste Mal witzig, das zweite Mal ernst. Den Goethe-Gedichtanfang „Edel sei der Mensch . . . „ (127) haben Dichter zahlreich verwendet. „Sprache zerredet /sich in Realitäten“ (128) – Beispiel typischer LR- Sprache. Die ,Widersprüchlichkeitsgedichte’ laufen weiter. „Hölderlin und der Wolf“ (133) verknüpft die klirrenden Fahnen mit der Zukunft. „Weihnachten ist immer“ (135) ist eine Satire über die Jahreszeiten und unsere (in uns) festgeschriebenen Feste. „Utopie“(138) verführt clever, einige Fragen neu zu überdenken.Wetter, Klima und Jahreszeiten erfahren in der LR-Lyrik allgemein große Wichtigkeit – mit ihnen leben wir. Der Buchtitel wird am Ende erweitert: „früher ist morgen und heute ist weg“ (140). Dieses Spiel mit der Zeit scheint geheimnisvoll, und insgesamt darf summiert werden: Die wirklichen Geheimnisse behält der Dichter für sich. Aber er deutet sie zwingend zum Weiterdenken an.
Lutz Rathenows Gedichte sind geheimnisvoll, oft rätselhaft, laut oder leise, albern oder todernst, verspielt oder tiefsinnig. Es wechselt. Es lädt ein zum Mitspielen, auch, wenn etwas sperrt und der Zugang manchmal schwer sein will. Die eigene Fantasie darf und soll mitsprechen. Ja, da ist Spiel mit Worten. Lautmalerei und vielerlei Stilmittel sind erlaubt. Das Buch ist ein Geschenk, weil es etwas fordert: Rathenow lesen verlangt Offenheit, Humor und Fantasie, um genau die Lücken auszufüllen, die ein Gedicht „unlogisch“ scheinen lassen. Gedichte sollen und dürfen befremden, sogar verstören. Außerdem: Wer sagte doch, ein Gedicht muss nicht logisch sein – ? Rathenow bringt es uns erneut bei.