Buchrezension: „Dr. phil. Oskar Ostersetzer (1867 – 1945) – Industriepionier und Familienmensch“

Das neue Buch von Tilmann Bechert

Tilmann Bechert, Dr. phil. Oskar Ostersetzer (1867 – 1945), Industriepionier und Familienmensch, Leipzig / Berlin 2023, 154 S., Klappenbroschur, zahlreiche Abb., ISBN 978-3-95565-565-5, 20 Euro.

Vergangen und doch so vertraut – so erscheint sie uns, die Welt, in der der Chemiker, Unternehmer und Familienmensch Oskar Ostersetzer lebte. Mit gutem Grund nahm der Verlag Hentrich & Hentrich nun die Biographie dieses bemerkenswerten Mannes ins Programm. Der renommierte Archäologie und Autor Tilmann Bechert hat sie verfasst.

Die Lebensgeschichte Oskar Ostersetzer sollte mit dem Exil in London enden, 1945, auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus. Das ist umso bedrückender, als sie eigentlich ganz anders hätte verlaufen können. Und so beginnt sie denn auch – im Glanz der späten Habsburgerjahre in Österreich-Ungarn, in einer sehr traditionellen, galizisch-jüdischen Familie Rapoport, in die der kleine Oskar 1867 hineingeboren wurde. Die Kulisse seiner Kinderjahre waren sein Geburtshaus im Schatten des Stephansdomes, das Palais Rothschild, der Prater und das Burgtheater.

Die Chemie hatte es Oskar Ostersetzer angetan, und er forschte als Student in seiner Heimatstadt, in Wien. Als Akademiker jüdischen Glaubens focht er eine Säbelmensur gegen einen Wiener Burschenschafter, obwohl er nach heutigem Kenntnisstand keiner Verbindung angehörte – ob der Grund eine antisemitische Beleidigung war? Gut möglich. Ostersetzer legte ausgesprochenermaßen Wert darauf, „ein freier akademischer Bürger zu sein“. Das alles erfahren wir bei Tilmann Bechert, dem Autor dieser Biographie.

Ostersetzer wechselte in die preußische Provinz, ins niederschlesische Sagan – nach dem Glanz der Wiener Kinderzeit fiel ihm dieser Schritt offenkundig schwer. Auch dort war der jüdische Glaube zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende ein Problem. Zwar hören wie bei Bechert nichts von direktem Antisemitismus, aber vor seiner Hochzeit konvertierte er dann doch zum christlichen Glauben, zum Luthertum. Das war ganz offensichtlich eine Voraussetzung, um seine Verlobte heiraten, also im wörtlichen Sinne „zum Altar führen“ zu dürfen.

Sehr schön, reich bebildert und vor allem auch mit ausgezeichneten Bildquellen versehen schildert Bechert, er ist ein Enkel Ostersetzers, sodann einen höchst erfolgreichen beruflichen Werdegang und zugleich ein harmonisches und glückliches Familienleben, das Schloß Ochelhermsdorf, heute Ochla, im damaligen Kreis Grünberg gehörte dazu. Mit seiner Deutschen Wollwaren-Manufaktur war er ein äußerst erfolgreicher Unternehmer, und die akademische Sphäre kam auch jetzt nicht zu kurz: maßgeblich war Ostersetzer an der Gründung eines „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Faserstoffchemie“.

Voll Tragik endete Ostersetzers Leben. Noch zu seinen Lebzeiten wurde die Welt, in der er beheimatet war, durch Antisemitismus, Sozialismus und hier speziell den Nationalsozialismus zerstört. Er wurde gewarnt, konnte in letzter Minute fliehen, überlebte im Exil in London. Tilmann Bechert hat diesem bemerkenswerten Menschen jetzt in einem sehr renommierten Verlag ein bewegendes Denkmal gesetzt, das durch eine abschließend abgedruckte Briefsammlung auf anrührende Weise viel Nähe zu Oskar Ostersetzer und seiner Familie schafft.

Doch es ist nicht nur das. Ein rundum schönes, fröhliches und gelungenes Lebensbild in Tilmann Bechert gelungen, bei dem Qualität und Reichhaltigkeit der Bebilderung hervorsticht. Seinen Platz im Programm des derzeit wohl renommiertesten jüdischen Verlages in Deutschland hat dieses Werk absolut verdient! Und so interessant die Aspekte der jüdischen Herkunft und des Glanzes der k.u-k.-Monarchie auch sein mögen – die Schilderung des alten Schlesiens mit seinem vorbildlich handelnden, wohlverstanden lebenden, immer fleißigen und trotz Schloßbesitzes bescheiden genießenden Bürgertums ist vordringlich lesenswert.

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Über Sebastian Sigler 78 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.