Robert Musil oder: Der Versuch über den schwebenden Menschen

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Robert Musil ist der große Ingenieur des Inneren, ein Vermesser des Möglichkeitsraums, ein Kartograph jenes Territoriums, das weder empirisch begangen noch moralisch kartiert werden kann. In ihm begegnen sich Kant und Nietzsche, nicht als Versöhnung, sondern als Spannung – als jene elektrische Spannung, die seine Prosa zum Flirren bringt.

Musil sprengt die Räume

Wo Kant die Vernunft diszipliniert, sie in regulative Ideen bannt, da sprengt Musil die Zäune – aber nicht aus Lust an der Zerstörung, sondern aus dem Bewusstsein, dass jede Begrenzung zugleich Ermächtigung und Gefängnis ist. Musils „Möglichkeitssinn“ ist nicht bloß ein poetisches Ornament, sondern eine radikale Revision des kantischen Apriori: Was, wenn die Kategorien nicht ausreichen? Was, wenn hinter der Kausalität ein Möglichkeitsmeer liegt, das wir nur deshalb nicht sehen, weil wir zu sehr glauben?

Und Nietzsche? Nietzsche steht Musil näher als jeder andere. Nicht im Pathos des Übermenschen, nicht in der Pose des moralischen Sprengmeisters – sondern im existenziellen Ernst, im Verzicht auf letzte Gründe. Musils Ulrich ist ein postnietzscheanischer Held: frei von metaphysischem Fundament, aber nicht zynisch, sondern suchend. Er ist ein Mensch, dem die alten Werte zerbröckeln, ohne dass neue schon greifbar wären. Kein Nihilist, sondern ein Transzendental-Skeptiker: einer, der weiß, dass Werte gemacht, nicht gegeben sind – und dass genau darin ihre Tragik liegt.

Die Welt als Gewebe von Relationen

Musil denkt die Welt nicht als Summe von Fakten, sondern als Gewebe von Relationen – ein zutiefst kantisches Motiv, radikalisiert durch den nihilistischen Gestus Nietzsches. Aus dieser Synthese erwächst seine eigentümliche Ethik: keine Lehre, keine Vorschrift, sondern eine Haltung. Eine Ethik der Offenheit, der Formlosigkeit, der Schwebe. Der Mensch – nicht als Wesen, sondern als Versuchsanordnung.

„Der Mann ohne Eigenschaften“ ist deshalb kein Roman im klassischen Sinn, sondern ein transzendentalphilosophisches Labor, das die Kategorien unserer Selbstverständlichkeit demontiert. Musil schreibt nicht über Menschen, er schreibt über Möglichkeitsräume, über Denkfiguren, über das, was Kant „bloße Ideen der Vernunft“ nannte – und was Nietzsche in ekstatische Aphorismen sprengte.

Radikalität ist die Form

Doch wo Nietzsche wütet, bleibt Musil kühl. Seine Radikalität ist die der Form. Er schreit nicht, er notiert. Keine Götterdämmerung, sondern ein Sonnenuntergang in Millimeterpapier. In dieser lakonischen Präzision liegt seine Größe – und sein Schmerz. Denn Musil weiß, was Kant ahnte und Nietzsche verhöhnte: Dass die Freiheit des Denkens zugleich seine Vereinsamung ist. Dass dort, wo alle Sicherheiten fallen, nicht unbedingt ein neuer Sinn entsteht – sondern vielleicht nur ein Echo.

Robert Musil ist der letzte große Denker des Unfertigen. Ein Aufklärer ohne Teleologie. Ein Romancier ohne Roman. Ein Philosoph ohne System. Und gerade deshalb ist er der unverzichtbare Kompass unserer Zeit – einer Zeit, die sich wieder nach Gewissheit sehnt und doch im Nebel der Möglichkeiten taumelt.

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Über Stefan Groß-Lobkowicz 2217 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".