WIEDERGELESEN „Lenz, die Geniezeit ist vorbei“ – Zu Volker Ebersbachs „Fünf Etüden über eine Eseley – Goethe und Lenz“

Salveschild, Foto: Stefan Groß

 

Im Jahre 1994 erschien als Nummert 8 der „Winsener Hefte – Literarische Mosaiksteinchen“ eine knapp 20-seitige Publikation zu Goethe und Lenz. Geschrieben hat sie der 1942 geborene Leipziger Schriftsteller Volker Ebersbach.

Thüringen hat den Autor entscheidend geprägt. In Jena studierte Ebersbach in den sechziger Jahren Germanistik und Altertumswissenschaft. Mit einer Arbeit über den römischen Satiriker Petronius Arbiter wurde er 1967 an der Friedrich-Schiller-Universität promoviert. Während seiner Studienzeit lebte Ebersbach in Cospeda. In dem Roman „Kinder des Narziß“ und einem Sachbuch hat er darüber geschrieben. Sein in den frühen neunziger Jahre gewählter Stoff ist gleichfalls mit Thüringen verbunden: Auch Volker Ebersbach interessiert die letztlich ungeklärte Frage, wie es zu dem Zerwürfnis zwischen Goethe und Lenz kam und warum letzterer am 1. Dezember 1776 Weimar für immer verlassen musste.

Erst die Forschungslücke setzt die Phantasie des Schriftstellers frei. Strukturiert ist der Text, den der Autor eine „Erzählung“ nennt, wie ein klassisches Drama – in fünf Teile. Bei Ebersbach sind es „Etüden“, Übungsstücke, Versuche, schrittweise hinter das Geheimnis dieser vieldiskutierten „Eseley“ zu kommen. Es ist ein halb erzählender, halb dramatischer Text. In essayistisch-assoziierender Prosa setzt das Werk ein und es mündet in Dialogen zwischen Lenz und Goethe. Der wache Leser dieses dichten und anspruchsvollen Textes muss selbst erspüren, welche Redeanteile von Goethe und welche von dem nicht nach Weimar eingeladenen Jakob Lenz stammen. Man sollte fast gelernter Musikwissenschaftler sein, um die verschiedenen Tempi der fünf Etüden zu erkennen, zumal sie mitunter in der Verkleinerungsform daherkommen: Allegretto, Andantino, Adagietto, Moderato und Presto / Coda. Den Text von Volker Ebersbach hat die Lenz-Forschung – eigene Bemühungen eingeschlossen – bislang regelrecht stiefmütterlich behandelt.

Die fünf Etüden sind chronologisch angeordnet. Der Autor setzt mit Lenzens Reise und Ankunft in Weimar ein (am 1., nicht am 2. April 1776). Dann wird im Andantino Goethes erster Frühling in Thüringen thematisiert, den der „Liebling der Götter“ zum Teil bereits mit Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) verbringt. Erste Differenzen zwischen den Poeten, die in Straßburg Freunde wurden, treten hervor. Am Ende steht ein Zitat, das den Thesen des Psychoanalytikers K.R. Eissler nahe kommt. Goethe spürt: „Lenz ist ein Mensch, der sein Verhängnis sucht. Seine stieren Augen, sein entzündetes Blut. Oh! Es ist mein Wahnsinn! Mein Wahnsinn bricht an ihm aus!“ /S. 8/ (Die Mehrheit der Forscher geht davon aus, dass man erst seit 1777 von Lenzens Wahnsinn sprechen kann.)

Lenz kommt nach Weimar nicht als „Schmarotzer“, sondern mit dem Plan, sich etwa als Vorleser, Englischlehrer oder Militärreformer nützlich zu machen. „Warum“, fragt Ebersbach, „geht er nicht nach Dessau, ans Philanthropin, wohin ihn Basedow gerufen hat? Vom Hofmeister zum Schulmeister, das ist freilich keine Laufbahn.“ (S.8) Ebersbach These, wonach Lenzens Wirken in Dessau ein beruflicher Abstieg gewesen wäre, ist interessant. Die Absage des Dichters hat indessen vor allem mit Basedows umstrittenem Bildungskonzept zu tun, wie ich anderswo gezeigt habe. (vgl. Mitteldeutsches Jahrbuch 2019)

In der Mitte des Textes begegnet uns Lenz in seiner Berkaer „Einsiedelei“, Ende Juni, „zur Atemwende des Jahres“. Goethe, von Ämtern überhäuft, überlässt Lenzen das Dichten. Der „Waldbruder“ entsteht, ein kleiner Briefroman, der sich am „Werther“ orientiert, an seinem Reformprojekt „Über das Soldatenwesen“ arbeitet er, gegen Willen Goethes, weiter. Doch der Einsiedler empfindet im Leben wie im Schreiben nunmehr ein „einziges Mißlingen“. Jahre vorher hatte Lenz in Straßburg mit dem „Hofmeister“ und später mit den „Soldaten“ seine größten Erfolge als Dramatiker.

Bei einem Besuch in Berka scheint Goethe den Freund aus Livland, den er nicht selten „Lenzchen“ zu nennen pflegt, zunächst zu beneiden. „Du Glücklicher! Du lebst wie ein Poet. Hälst dich im Hintergrund. Da bleibt man frei. Wirst nicht von großen und wichtigen Geschäften ausgezehrt. Brauchst dich nicht überall hinzupassen, mußt nicht aus allem Vorteil ziehen.“ (S.10) Lenz lebe, meint Goethe, nicht in der „wahren Welt“. Lächelnd erwidert Lenz, dass er sich diese nicht leisten könne. Am Ende spricht Goethe nüchterner, realistischer: „Ruhmlosigkeit ist für den Dichter tödlich.“ Ebersbach, Feuchtwanger-Preisträger des Jahres 1985, lässt den Dialog mit einem überlieferten Goethe-Wort ausklingen. „Lenz, du dauerst mich.“ (S.11)

Der „mäßig schnelle“ 4.Teil („Moderato“) ist den 50 Tagen gewidmet, die Lenz im Hebst 1776 bei der Hofdame Charlotte von Stein auf dem Kochberger Wasserschloss verbringen durfte. Im abschließenden hektischen Presto, in Ebersbachs fünfter Etüde, geht es für Lenz und Goethe um die verheerenden Folgen dieses Besuchs. Es kommt zum Bruch, zum tragischen Ende einer Freundschaft zwischen einstmals gleichrangigen Dichtern. Bevor (in der Version Ebersbachs) die Katstrophe zischen den Poeten ausbricht, greift Lenz Goethe scharf als Höfling an. „Bruder, du bist in einem Jahr um ein Jahrzehnt gealtert.“ Worte wie „einschleimen“, „Lakai“ und „Nachsicht mit Scheißkerlen“ fallen. Goethe geht auf diese Vorwürfe nicht ein. Erst fragend, dann bestimmter will er Privates wissen, auch zur Frau von Stein. Fast beiläufig heißt es: „Komm, Lenz, erzähl von Kochberg.“ Lenz, von allen guten Geistern verlassen, erwidert: „Ich habe sie gehabt“ und fährt fort: „Du etwa nicht?“ Goethe hält diese Provokation für einen üblen Scherz. Jakob Lenz bereut wenig später seine falsche Aussage. Er ist nicht bereit, sich bei Hofe für diese Eseley zu entschuldigen. „Ich habe nur dich beleidigt und …SIE, die Göttin sollten wir doch verschonen“, sagt Lenz. Das letzte Wort hat selbstredend Goethe. „Dann, Lenz, musst du fort… Lenz es reicht!“ (S.17f.)

Der fiktionale Text ist zu großen Teilen auch eine geschickte Textcollage aus authentischen Briefen und Dramen des Sturm und Drang, von Goethe, Lenz und Klinger. Auch aus „Dido“, einem Trauerspiel der Charlotte von Stein, wird zitiert. Dies alles vermerkt Volker Ebersbach am Ende seiner Etüden selbst.

Was er nicht expliziert hervorhebt, ahnt der sensible Leser: Bis heute gibt es arrivierte Dichter und solche, die – trotz ihres Talents – scheitern, ewig im Schatten stehen und von ihrer Arbeit nicht menschenwürdig leben können…

Volker Ebersbach, Fünf Etüden über eine Eseley – Goethe und Lenz. Winsen / Luhe und Weimar 1994, 19 Seiten. ISBN 3-928788-10-8.

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PD. Dr. Ulrich Kaufmann wurde 1951 in Berlin geboren u. lebt seit 1962 in Jena. Hier hat er nach dem Abitur 1970 Germanistik und Geschichte studiert. 1978 wurde er in Jena über O.M.Graf promoviert u. 1992 über Georg Büchner hablitiert. Von 1978 bis 1980 war Kaufmann als Aulandsgermanist im polnischen Lublin tätig.Von 1999 bis 2016 Gymnasiallehrer für Deutsch u. Geschichte. Er hat 10 Bücher über die deutsche Literatur verfasst.