Für die Zeitbombe Migration braucht es in den USA und Deutschland eine zeitnahe Lösung

Amerika, du hast es auch nicht besser!

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„Amerika, du hast es besser als unser Kontinent, der alte,
hast keine verfallenen Schlösser und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern zu lebendiger Zeit
unnützes Erinnern und vergeblicher Streit.“

So reimte vor fast zweihundert Jahren unser Dichterfürst Goethe. Das ist lange her und Amerika hat es auch nicht mehr besser als der alte Kontinent. Beim Thema Migration hat die aktuelle innenpolitische Diskussion der USA erheblich mehr mit den deutschen und europäischen Debatten gemeinsam, als es unsere Medien widerspiegeln, selbst die weltoffeneren. Bei uns verläuft die Frontlinie zwischen den Befürwortern einer sogenannten Willkommenskultur und den Warnern vor deren Folgen. Erstere sind vorwiegend in links-grünen Milieus zu Hause und sehen in den Warnern nur Rechtsextreme oder sogar Nazis, auf keinen Fall aber Partner, mit denen man über politische Alternativen oder Lösungsmöglichkeiten diskutieren kann. Wie immer bei solchen Debatten: Je weiter man selbst links steht desto mehr Rechte sieht man und umgekehrt.

In den USA sind die Fronten ähnlich verhärtet und ideologisch unvereinbar, nämlich weitgehend zwischen Republikanern und Demokraten und ihren jeweiligen Anhängern. Der große historische Unterschied, dass die Vereinigten Staaten  immer ein Einwanderungsland waren und Deutschland erst in den letzten Jahrzehnten, scheint inzwischen irrelevant. Diskriminiert wurden Immigranten in den USA schon immer, besonders eklatant die Iren, Juden und Chinesen sowie in und nach den beiden Weltkriegen auch Deutsche. In den letzten Jahren rächt sich so manche Politik der USA in ihrem „backyard“ Mittel- und Südamerika durch ansteigende Migrationszahlen aus dieser Region. Politische und militärische Interventionen in den „Bananenrepubliken“ und das Ignorieren ihrer wirtschaftlichen Probleme haben zu einer Armutsmigration geführt, die in den letzten Jahren immer weiter angeschwollen ist. Von den rund 330 Millionen Amerikanern gelten 62 Millionen als „Hispanics“ und damit als am schnellsten wachsende Minderheit gegenüber nur noch 190 Millionen als Gruppe stagnierende „Weiße“. Seit Jahrzehnten haben die Hispanics schlecht bezahlte Jobs in der Landwirtschaft und im Service übernommen, haben Englisch gelernt und ihre Kinder in die Schule geschickt. Da viele relativ hellhäutig sind und zudem katholisch gelang ihnen die Integration oft leichter und schneller als anderen Minderheiten. Aber Parallelgesellschaften hat es in den USA praktisch immer gegeben, von den Chinatowns bis  zu schwarzen Ghettos, aber auch deutsche oder polnische und weitere ethnische Siedlungsgebiete.

Ausgrenzung und Abschottung

Präsident Trumps Pläne, die Grenze zu Mexiko mit einem gigantischen Zaun gegen illegale Migranten abzudichten, gingen in Deutschland eher als Kuriosum und Trump-Fantasien durch die Medien. Aber inzwischen werden ähnliche Projekte in Polen, im Baltikum oder an der türkischen Grenze längst real und werden als Wunderwaffe auch an Europas Südgrenzen ernsthaft diskutiert. Präsident Biden, der „menschlicher“ vorgehen wollte und einige Verschärfungen der Trump-Ära zurückgenommen hatte, sah sich mit erheblichen Klagen gegen seine als zu lasch empfundene Migrationspolitik konfrontiert. Einen Einblick in die praktischen Probleme gab im April eine ungewöhnlich offene Pressekonferenz des New Yorker Bürgermeisters  Eric Adams mit konkreten Zahlen. Im Vorjahr, so Adams, seien 57.000 Asylbewerber nach New York gekommen und 2023 seien es weitere 200 pro Tag. Um sie unterzubringen hätte die Stadt 103 Hotels als Notunterkunft anmieten müssen. Zudem mussten 14.000 Migrantenkinder in den öffentlichen Schulen aufgenommen werden. Die Gesamtkosten von 4,2 Milliarden Dollar in den letzten zwei Jahren hätten den Finanzhaushalt so belastet, dass in vielen anderen Bereichen erheblich eingespart werden muss. Der Demokrat Adams, eigentlich ein Unterstützter Bidens, griff den Präsidenten und die Bundesregierung scharf für das Versagen in der Migrationspolitik an, ein eher ungewöhnlicher Akt in der bitteren Auseinandersetzung zwischen Demokraten und Republikanern. Seit Biden am 11. Mai die als „Title 42“ bekannte und von Trump eingeführte Grenzschutzregelung zur Ausweisung illegaler Einwanderer beendet hatte, sind die Zahlen angeschwollen wie nie zuvor. Und der Widerstand geht deutlich über die Parteigrenzen hinaus. Unter „Title 42“ hatte die Grenzpolizei mehr als zwei Millionen Migranten zurück nach Mexiko geschickt, trotzdem gelangten mehr als eine Million mit vorläufigen Aufenthaltstiteln und langfristigen Terminen bei den Einwanderungsgerichten ins Land. Bürgermeister und Gouverneure riefen den Notstand aus und schickten Migranten in Bussen nach New York oder in demokratisch regierte Bundesstaaten. Das Elend auf der mexikanischen Seite war entsprechend dramatisch mit zehntausenden von Migranten in überfüllten Lagern oder im Freien kampierend und von Mafiabanden ausgeraubt. Während die ersten großen Wellen aus Kuba, Haiti, Nicaragua und Venezuela kamen, wächst inzwischen auch die Zahl der Schutz und bessere Lebenschancen Suchenden aus Brasilien, Kolumbien, Ekuador und Peru exponentiell.

Wie in Europa wird auch in den USA das geltende Asylrecht als Problem angesehen. Knapp fünfzig Jahre alt, war es als Schleuse konzipiert, um in Einzelfallverfahren die Fluchtgründe der Antragsteller zu überprüfen und herauszufinden, ob sie ausreichend nachweisen können, dass sie bedroht oder verfolgt werden. Mitte 2023 sind noch mindestens 800.000 Fälle anhängig und die Immigrationsgerichte damit erheblich überfordert. Auf der Webseite des Justizministeriums ist eine Liste der mehr als 60 Gerichte und mehr als 600 Richter einzusehen. Es handelt sich um Zivilgerichte, die nach dem 14. Amendment der Verfassung allen Personen auf amerikanischem Boden, auch Migranten, das Recht auf Anhörung und ein ordentliches Verfahren garantieren. Interessant ist, dass die Anhörung auch per E-Mail oder Telefon ermöglicht wird. Im Durchschnitt dauern die Verfahren vier Jahre, die Ergebnisse sind allerdings nicht ermutigend. 2022 wurde in 22,311 Fällen Asyl gewährt, in 26,000 abgelehnt. Die Zahl der tatsächlich ins Land strömenden Migranten ist so viel grösser, dass dieses geordnete Asylverfahren eigentlich unwirksam ist.

Den aktuell in Deutschland diskutierten Lösungsansätzen verblüffend ähnlich sind die Maßnahmen der Biden-Regierung, um die illegale und unkontrollierbare Migration zu erschweren. Seit der Abschaffung des „Title 42“ im Mai setzt die Regierung auf ein System, legale Wege zur Einwanderung schon an den Außengrenzen zu öffnen. In diesem neuen Programm können Asylbewerber per Telefon-App einen Termin an einem autorisierten Grenzübergang beantragen, illegale Grenzgänger werden weiterhin abgeschoben. Dazu wurde auch der Grenzschutz an der mexikanischen Grenze gerade um 1500 Mann aufgestockt. Applaus für den Präsidenten hat es dafür nicht gegeben. Für die Migrationsgegner tut er zu wenig und öffnet die Grenzen angeblich für Kriminelle, Rauschgifthändler und chinesische Spione, für die Befürworter hat er fundamentale Rechte und moralische Werte verraten  und tut in dieser Hinsicht zu wenig.

Wie kann es mit den „Festungen“ Europa und USA weitergehen?

Im Internationalen oder Völkerrecht ist bereits die Definition eines Flüchtlingsstatus, ausgehend von der Flüchtlingskonvention von 1951, nicht einheitlich, abgesehen von einem fehlenden Konsens zur Einheit der Teilgebiete Flüchtlingsrechte, allgemeine Menschenrechte und Kriegsvölkerrecht. Insofern ist es kein Wunder, dass die meisten Länder Migration und temporäre Aufnahme von Flüchtlingen höchst unterschiedlich bewerten und administrativ organisieren. Aber auch Länder mit hochentwickelten Rechtssystemen wie die USA und die meisten europäischen Staaten finden keine politisch akzeptable oder konsensfähige Lösung für dieses zentrale Problem unserer Zeit. Nach den neuesten Angaben der Vereinten Nationen zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni sind weltweit 108,4 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Armut oder auf der Suche nach besseren Lebenschancen. Das sind Dimensionen, die weit über die spätantike Völkerwanderung hinausgehen, als Germanen, Alanen und Hunnen immer mehr die militärischen Schutzwälle wie den Limes in Deutschland überwanden und in das eigentlich multi-ethnische römische Reich eindrangen. Für Rom waren sie alle „Barbaren“, eine Bezeichnung, die von uns deutschen Barbaren-Abkömmlingen heute fast schon sinngemäß mit dem Begriff „Ausländer“ ersetzt wird. Immerhin wird noch zwischen guten (weißen) Ausländern und dem unerwünschten Rest unterschieden, nur minimal unterlaufen vom internationalen Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte. Letztere finden sich natürlich selten unter denen, die mit ein paar Habseligkeiten auf der Flucht sind, sondern dezimieren eher die Eliten der schwierigen Länder, die sie verlassen. Bei über 100 Millionen Migranten wird sich das Festungs- und Abschottungsprinzip nicht ewig durchhalten lassen, zumal der Bevölkerungsdruck in den ärmeren Ländern einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung in den reichen Ländern gegenübersteht. Humanitär orientierte Kritiker weisen auch auf die psychologischen Folgen der Abschottungspolitik für die einheimischen „Bio-Einwohner“ hin. Sie erzeugt oder fördert ein Gruppendenken mit Einschätzung der „anderen“ als minderwertig und gefährlich, was im deutschen Alltag leider zu oft bestätigt wird, von kriminellen Clans und Rauschgifthändlern über Massenschlägereien bis zu sexuellen Übergriffen. Vermutlich prägt die Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft auch die Einstellungen der Migranten und fördert ihre Abgrenzung in Parallelgesellschaften. Regelrechter Hass auf die anderen entsteht sowohl zwischen Migranten und Alteingesessenen als auch unter verschiedenen Migrantengruppen sowie unter den Befürwortern der Migration und denen, die sie ablehnen und bekämpfen. Die üblichen politischen Lösungsvorschläge wie „Bekämpfung der Fluchtursachen“, „Asylverfahren außerhalb unserer Grenzen“ oder gar der britische Versuch, die Migranten nach Ruanda zu schicken und erst dort eine Asylprüfung durchzuführen, sind eher Zeichen der politischen Hilflosigkeit. Den Strom der Millionen aufhalten können alle nicht; die Vorschläge zielen eher auf eine Beruhigung der eigenen Wähler. Die Realitäten im Alltag und die Probleme der überforderten Kommunen widersprechen allen Beruhigungsversuchen der Politik, und solange die Steuerquellen sprudeln können nicht einmal die steigenden Unterbringungskosten die allgegenwärtige Improvisation als Durchwursteln entlarven. So klare Zahlenangaben wie in der oben erwähnten Pressekonferenz des New Yorker Bürgermeisters, 4,3 Milliarden Dollar in den letzten zwei Jahren, sind in Deutschland schwer zu finden. Das beruhigt die Migrationsgegner aber wenig und bietet nur noch mehr Spielraum für Spekulationen und schwindendes Vertrauen in die Politik. Die Zersplitterung der Parteiensysteme in Europa hat die Regierungs- und Koalitionsbildung erheblich erschwert und damit auch die Erwartungen an praktikable Problemlösungen durch die Politik. Die Zeitbombe Migration braucht aber dringend wenigstens eine Aussicht auf Lösungen, in den USA wie in Europa.

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