Ohne Zeugen meiner Gedanken

„Ich bin nicht mehr die, die ich war.
Der Haken ist nur, auch wenn ich es nicht mehr bin, kann ich oft nicht vergessen, was ich war, und dann ist mir schlichtweg mein Name zuwider, und ich wünschte, ich wäre nicht ich.“
So hätte der neue Roman von Javier Marías beginnen können. Aber der wohl bekannteste zeitgenössische Autor Spaniens lässt seine in der Ich-Form erzählende Protagonistin María, eine Verlagsangestellte Mitte dreißig, diesen beklemmenden Satz erst gegen Ende seiner Erzählung äußern, nachdem sie in einen Strudel von diffusen Erlebnissen gerät, die ihr weiteres Leben stark beeinflussen sollen.
Auslöser ist der gewaltsame Tod eines Mannes, von dem der Leser im nun wirklich ersten Satz erfährt: „Das letzte Mal sah ich Miguel Desvern oder Deverne, als ihn auch seine Frau Luisa zum letzten Mal sah, was eigentlich seltsam, ja ungerecht ist, denn sie war seine Frau und ich nur eine Unbekannte, die nie ein Wort mit ihm gewechselt hatte.“ Gänzlich unbekannt ist María der Tote allerdings nicht. Jeden Morgen beobachtet sie heimlich Miguel und Luisa in einem kleinen Café beim Frühstück. Das Pärchen, welches dort in liebevoller Harmonie den Tag beginnt, ist in seiner Verbundenheit beinahe so etwas wie ein Tagesglücksgarant für María. Aus dem stillen Betrachten schöpft sie Kraft für den Tag. Als die Beiden plötzlich ausbleiben und María aus der Zeitung erfährt, dass Miguel auf offener Straße von einem Verrückten erstochen wurde, nimmt ihr Leben eine nahezu dramatische Wendung.
Javier María, der 1996 mit seinem Bestseller „Mein Herz so weiß“ bereits ein bedeutungsvolles Achtungszeichen setzte und Marcel Reich-Ranicki zu Begeisterungsstürmen animierte („Dies ist ein Meisterwerk, es ist ein ganz großes Meisterwerk.“), gelingt erneut ein großer Wurf. Abermals ist der Tod eines Menschen Reflexionsthema und Sujet. Der Spanier setzt Menschen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, „die nichts als schemenhafte Statisten sind, Randfiguren, die einen Winkel, den dunklen Hintergrund des Bildes bewohnen und die wir nicht vermissen, wenn sie verschwinden“, die aber dennoch unser Leben durcheinander wirbeln und in völlig andere Bahnen lenken können.
Liebe, Neid, Verlangen, Verrat und Glück sind die Themen, mit denen sich Javier Marías auseinandersetzt. Indes über allem steht das beherrschende Thema: der Tod. „Wenn man an den Tod denkt und sich vor Augen führt, welche Wirkung er auf die Lebenden hat, dann muss man sich ab und an fragen, was nach dem unseren geschehen wird, in welcher Lage die Menschen zurückbleiben, für die wir wichtig sind, wie sehr es sie mitnehmen wird. (…) Was dauert, verdirbt und verrottet am Ende, langweilt, wendet sich gegen uns, macht überdrüssig, müde.“ Sein Interesse gilt den Eventualitäten und imaginären Möglichkeiten. Dabei betritt er immer wieder Zwischen- und Grenzräume und versucht diese auszuloten. Denn nie „können wir sicher sein, was sich für uns als lebensnotwendig, wer sich für uns als wichtig erweisen wird. Unsere Überzeugungen sind schwankend und schwach, für so stark wir sie auch halten mögen. Ebenso unsere Gefühle.“ Blinde Flecken und Widersprüche, Schatten oder Lücken gehören zum Leben eines jeden Menschen. Javier Marías taucht in diese ein.
Honore de Balzacs Erzählung „Oberst Chabert“ und Alexandre Dumas „Die vier Musketiere“ geben dem Roman sein Rahmengerüst und werden immer wieder eingeflochten.
„Die sterblich Verliebten“ ist eine subtile, mehrdeutige und kluge Erzählung, die sich ständig gabelt, in latenten Abschweifungen multipliziert und spiegelgleich reflektiert.
Javier Marías Sprache ist poetisch und schön, seine Überlegungen beinahe philosophisch. Man wiegt sich schier in seinen Worten, die von Susanne Lange kongenial und gefühlvoll ins Deutsche übertragen wurden. Gleichzeitig erzählt der spanische Autor mit einer Detailverliebtheit, die kaum zu übertreffen ist. Eine Szene, die sich in wenigen Sekunden abspielt, dehnt er mühelos auf mehrere Buchseiten aus. Seine Schilderungen konzentrieren sich nicht nur auf Handlungen, sondern sie erfassen jedes Minenspiel, jede Assoziation, die dadurch ausgelöst wird. Ausschweifend und trotzdem pointiert, entwickeln sich diese mitunter zu anschwellenden Gedankenkaskaden. Ein Satz über ein, zwei Seiten stellt dabei keine Seltenheit dar. Ein bisschen ähnelt sein Stil dem großartigen österreichischen Autor Thomas Bernhard, der gleichfalls ein Meister dieser Schreibweise war.
„Es ist riskant, sich in einen anderen hineinzuversetzen, manchmal findet man nur mit Mühe wieder hinaus.“ Nicht nur der Protagonistin María ergeht es derart. Auch der Leser wird in diesen intensiven, auf hohem Niveau geschriebenen Plot hineingezogen und kann sich nur schwer aus dem Text lösen. „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“, steht irgendwo in der Bibel. Javier Marías' Herz – so scheint es – ist übervoll. „Die sterblich Verliebten“ erweisen sich als fesselnde und brillante Lektüre. Ein reflexiver Roman, der wie in allen guten Bücher, nicht versucht, Antworten zu finden, sondern Fragen aufzuwerfen.

Javier Marías
Die sterblich Verliebten
Originaltitel: Los enamoramientos
Aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Lange
S. Fischer Verlag, Frankfurt (Februar 2012)
432 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100478312
ISBN-13: 978-3100478313

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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