Alles Religion, oder was?

kreuz, christus, glaube, gott, jesus, wolken, sonne, geralt, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Der mit mehreren Honoris-causa-Doktortiteln geehrte Professor Thomas Luckmann (1927-2016) galt als ein bedeu­tender zeitgenössischer So­ziologe. Bekannt hat ihm sein Buch „Die unsichtbare Religion“ gemacht. Dieses von ihm selber als Essay bezeichnete Werk, erstmals 1967 in New York erschie­nen, wurde bald zu einem Klassi­ker der neueren Reli­gi­onstheorien.

            Längst war ersichtlich, wenn man nicht gar auf FriedrichNietz­sches „Gott ist tot“ zu­rückgreifen wollte, dass nach dem beobachtba­ren Traditionsabbruch in der modernen In­dust­riegesell­schaft, dem Zerfall der Plausibilität herkömmlicher Religi­ons­sys­teme und dem Ab­bröckeln religiöser Institutionen die „Religion“ jedoch nicht ver­schwun­den war. Sie war vielmehr abgewandert, ausgewan­dert und unsichtbar geworden. Wohin aber soll sie sich ver­flüch­tigt haben? Etwa in die Politik als civil reli­gion?Oder in die Alltagserfahrung als Er­fah­run­g mehrfach abgestufter Transzendenzen? Nach der Unterscheidung Luckmanns gibt es drei Arten von Transzendenzen. Hinter der Kleinen Transzendenzen sollen sich Erfahrungen verbergen, die beim Handeln in der All­tagswelt auf Raum und Zeit bezogen sind. Anders formuliert: Erfahrungen von Raum oder Zeit, die außer ‚Reichweite’ sind und auf Grund frü­herer Erfahrungen durch eine Transzendierung in ‚Reichweite’ gebracht werden. Mittlere Transzendenzen: Erfahrung eines gegebenen Mitmenschen. Dem Individuum ist der Andere durch die Gestalt seines Körpers gegeben. Es kann diesen ande­ren Körper jedoch nicht selber erfahren. Durch eine mittlere Transzendenz kann das Individuum auf der Ba­sis der eigenen Körpererfahrung von dem Äußeren des Anderen auf die Er­fahrung im Inneren des Anderen schließen. Und Große Transzendenzen setzen sich aus Erfahrungen zusammen, die Natur und Ge­sellschaft, also die Lebenswelt des Alltags überschreiten. Sie verweisen auf andere Wirk­lichkeiten, in denen pragmati­sche Motive aufgehoben sind. Als Individuum kann man in an­deren Wirklichkeiten nicht wir­ken und han­deln. Zu den anderen Wirklichkeiten gehören z.B. die Welt des Schlafes, der Träume, des Todes.

            Solche Probleme, falls man welche darin sieht, werden auch im 21. Jahrhundert weiter diskutiert. So lief z. B. unter der Lei­tung von WinfriedGebhardtein fränkisches For­schungs­projekt bis März 2002 unter dem Titel: „Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Re­ligion. Formen spiritueller Orientie­rung in der Alltagsreligiosität evangeli­scher und katholi­scher Christen“. Einer der Mitarbeiter, ChristophBochinger,bezog sichausdrück­lich auf Luck­mann,der sich gegen die damals und noch heute weit verbreitete Vor­stellung wandte, „dass die Religion im Zuge der modernen Säkularisierung allmählich aus der Gesellschaft ver­schwinde. Vielmehr handle es sich um einen Verlagerungsprozess. Religion verlagere sich aus ihrem traditionel­len, kirchlich-institutionellen Rahmen in Bereiche der Ge­sellschaft, die traditionell nichts mit Religion zu tun haben. Sie werde in diesem soziologi­schen Sinne ‚un­sichtbar’, dass sie nicht mehr in der überkommenen, institutionalisierten Form verortet wer­den kann. Die Kirchen bleiben sonntags leer, aber Religion findet trotzdem statt, vielleicht auf dem Fußballplatz oder im Theater, vielleicht beim samstäglichen Autowaschen oder bei der Bergtour im Sommerur­laub. Dem liegt ein sehr weiter, funktionalistischer Reli­gionsbegriff zugrunde. Religion hat bei Luckmann die Funktion der Bewältigung von Trans­zendenzerleb­nissen.“ Auch IngoMörth gesteht in seiner Rezension zur Neuauflage der „un­sichtbaren Reli­gion“ Luckmann zu, dass er sowohl theoretisch als empirisch viel in Bewe­gung gesetzt habe: „Theoretisch eine neue Beschäftigung mit Begriff und Funktion von Re­ligion im all­ge­meinen, unabhängig von ihren historisch und kulturell definierten Erschei­nungsformen, und empirisch die Suche nach Spuren der Entwicklung neuer Sozialformen von Religion in der Moderne, nachdem die alten christlich-kirchlichen offensichtlich einem Ver­dunstungsprozess unterlagen (und heute weiterhin unterliegen).“ HubertKnoblauch schließlich, der das Vorwort zur deut­schen Auflage schrieb, hält Luck­manns Arbeit für „eine der wesentlichen Säulen des ‚wis­senssoziologi­schen Ansat­zes’ der Religionssoziologie“, die nicht nur für die deutschsprachige Soziologie Folgen gezei­tigt habe. Der italienische Professor PiergiorgioGrassi sah in Luck­manns „Unsichtbarer Reli­gion“ drei Hauptthemen zusammenströmen: „Die Entwicklung ei­ner Definition der Reli­gion (…); das Schicksal der Religion in den fortgeschrittenen Indust­riegesellschaften und schließ­lich die Ankunft einer neuen Sozialform der Religion…“

            Nicht nur orthodoxe Theologen sehen den christlichen Glauben „in einem Gegensatz zur Ge­sellschaft“ stehen, sondern allen scheint es heute offensichtlich geworden zu sein, dass „die Ent­stehung der modernen Welt mit einem Schwund der Religionen“ einhergeht. Beson­ders deutlich wird dies, um ein aktuelles und unsere Zukunft bestimmendes Bei­spiel hier schon einzuflechten, dass in der Verfassung der Europäischen Union bekanntlich kei­n unmit­telbarer Got­tesbezug geduldet wurde, im Gegensatz zu den Vorstellungen der äl­testen eu­ro­päischen Eini­gungsbewegung „Paneuropa-Union“, die 1922 von Grafen RichardCouden­hove-Kalergi ge­grün­det wurde und der zum Beispiel neben Albert Einstein auch Thomas Mann, Franz Wer­fel, Otto von Habsburg oder der spanische Philosoph Salvador deMada­riaga angehörten; sie sahen allesamt im Christentum die Seele Europas, ohne durch be­sondere fromme Religiosität aufgefallen zu sein.

            Soziologisch ist dem Phänomen nach Ansicht Luckmanns jedoch nur beizukommen, wenn man sich der Definition vom Wesen der Religion entzieht, also der substanziellen Defi­nition die funktionale vorzieht, ohne in die „Erklärungsweisen des psychologischen Funktio­nalis­mus“ zu verfallen. Luckmannbezeichnet die uns bekannten Formen der Religion, vom Stammes- und Ah­nen­kult bis hin zu den Kirchen und Sekten, als „symbolische Universa“, die für ihn „sozial ob­jektivierte Sinnsysteme“ ergeben, weil sie „alltägliche Erfahrungen mit einer ‚transzenden­ten’ Wirklichkeitsschicht in Beziehung“ setzten. Alle Sinnsysteme seien „aus Objektivierun­gen konstruiert“. Nebenbei bemerkt: Schon sein Zeitgenosse Niklas Luhmann glaubte mit der Ka­tegorie des Sinnes, der seine eigene Negierbarkeit einschließt, einen Beg­riff gefunden zu ha­ben, der mit relativ wenig Tradition belastet sei, obwohl er „seit mehr als hundert Jahren viel und viel­deutig verwendet“ wurde. Da von ihm die Religion als ein kom­munikatives Ge­sche­hen ver­standen wurde, hielt er auch – im Gegensatz zur Psychologie oder Anthropologie – die Sozio­logie für „die eigentlich zuständige Religionswissenschaft“.

            Doch Luckmann will ja gerade aus der soziologischen Theorie hinaus „auf das Feld der phi­losophischen Anthropologie“. Er will die sozial objektivierten symbolischen Universa im Allge­meinen und den darin enthaltenen „religiösen Kosmos“ im Besonderen mit unseren Alltagserfahrungen konfrontieren, also „die alltägliche Erfahrung mit einer ‚transzendenten’ Wirklichkeitsschicht in Beziehung setzen“. Da alle Sinnsysteme aus Objektivierungen kon­struiert seien, die wiederum als Ergebnisse subjektiver Handlungen, demzufolge auch als „ein Ergebnis sozialer Vorgänge“ anzusehen sind, die sich über Generationen tradieren, hänge das Erfassen der fortlaufend transzendierten Erfahrung von einem Akt des „Stehenbleibens und Nachdenkens“ ab. Das Verhältnis zwischen Erfahrung, Sinn und ihrem Deutungs­schema be­schreibt Luckmann als ein wechselseitig-dynamisches. Ein nur biologisch determi­nier­ter Mensch ginge völlig „in der Unmittelbarkeit seiner ablaufenden Erfahrungen“ auf. Fehlten ihm die „zeitlichen Dimensionen“, könnte er die ablaufenden Erfahrungen weder mit Sinn versehen, noch hätte er eine erinnerliche Vergangenheit oder gar eine „offene“ Zu­kunft. Solch ein Leben könnte keine „zusammenhängende Gestalt als Biographie“, demzu­folge auch keine Identität entwickeln.

            Die Herausbildung des Einzelnen aus dem Allgemeinen zum Be­wusstsein eines gewis­sermaßen unteilbaren Individuums lasse sich nur in gesell­schaftlichen Vorgängen verwirkli­chen. Soziale Vorgänge lösen also den Menschen aus dem Allgemeinen heraus, was wie­derum zur „Konstruktion von Deutungsschemata“ führe, die jene Unmittel­barkeit der Erfah­rung transzendieren und somit Anteilnahme an den Erfahrun­gen der Mitmen­schen ermögli­chen; sie können freilich als Ereignis nur in einem gemeinsa­men Zeit-Raum-Rahmen stattfin­den. Die sich so Begegnenden synchronisieren die persönli­chen Prozesse Schritt für Schritt, was schließlich zu einer Distanz zu sich selber und zu einem Beobachten des Anderen führt, wobei man „beginnt, sich selbst mit den Augen eines Mitmen­schen zu se­hen“. Solches ist nach Luckmann „ursprünglich nur in den wechselseitigen sozia­len Vor­gängen“ auf gleicher Augenhöhe möglich.

            Martin Heidegger gestünde wahrscheinlich dem Bemühen, den Anfang der menschli­chen Entwicklung auf diese Weise zu erklären, durchaus zu, dass eine Orientierung an der Daseinsweise primitiver Zustände die Daseinsanalyse erleichtern könnte, doch er gäbe mit seinem Lehrer Edmund Husserl wohl zu bedenken, dass uns „die Kenntnis der Primitiven durch die Ethnologie bereitgestellt“ wird. „Und diese bewegt sich schon bei der ersten ‚Auf­nahme’ des Materials, seiner Sichtung und Verar­beitung in bestimmten Vor­begriffen und Auslegungen vom menschlichen Dasein überhaupt. Es ist nicht ausgemacht, ob die Alltags­psychologie oder gar die wissenschaftliche Psycholo­gie und Soziologie, die der Ethnologe mitbringt, für eine angemessene Zugangsmöglichkeit, Auslegung und Übermitt­lung der zu durchforschenden Phänomene die wissenschaftliche Ge­währ bieten.“ Heidegger hat sich be­kanntlich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie das „er­kennende Subjekt aus sei­ner inneren ‚Sphäre’ hinaus in eine ‚andere und äußere’“ kommt. Doch „wie kann das Erken­nen“, so fragte er weiter, „überhaupt einen Gegenstand haben, wie muss der Gegenstand selbst gedacht werden, damit am Ende das Subjekt ihn erkennt“? Dessen Seins­weise habe „man doch ständig unausgesprochen immer schon im Thema hat, wenn über sein Erken­nen ge­handelt wird“.

            Auch wenn Luckmann selbstverständlich anderen Fragestellungen folgt, bleibt Hei­deg­gers Einwand durchaus beachtenswert, der nämlich von vornherein „das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein“ verstand, während Luckmann aus der Distanz heraus etwas kon­struierte, was den Deutungsrahmen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur Be­dingung persönlicher Identität erklärt. Eine weitere Dimension dieser Identität sei „die Integ­ration des subjektiven Vorgangs der Erinnerung und des Zukunftsentwurfs in die moralische Einheit einer Biographie“. Was soll damit erklärt werden? Wer ist dieser noch nicht individu­alisierte, soziali­sierte, also zivilisierte Mensch? Ein biologischer Prototyp oder Urmensch? Luckmann meidet die ab­waschbare Vokabel „Mensch“ – hier wieder mit Heidegger ver­gleichbar, der stattdessen das „Dasein“ setzte – und erhebt den „menschlichen Organismus“ zum Topos. Jedenfalls hatte dieses menschliche Etwas immerhin schon ein Ge­dächtnis, sam­melte originäre Erfahrungen und müsste dieser Theorie zufolge ein vereinzelter Ein­zelner ge­wesen sein, der erst „in der Be­gegnung mit Mit­menschen“ und der sich dar­aus ergebenden Von-An­gesicht-zu-Ange­sicht-Si­tuation zur „Indi­viduation des Bewusst­seins“ ge­langte, das wie­derum die Vorausset­zung schuf, um an Deutungsschemata von Sinn­syste­men zu gelangen. Aus der Ablösung der aktu­ellen, also nur gegenwärtigen Erfah­rung leite sich die entspre­chende Möglichkeit ab, ge­wis­sermaßen Prä­sens, Präteritum, Imper­fekt, Per­fekt, Plusquamper­fekt, Futur und Fu­turum exactum etc. „in eine sozial definierte, mo­ra­lisch relevante Biogra­phie zu integrieren“. Und nun kommt fortlau­fende Entwicklung im Rah­men sozialer Beziehun­gen ins Spiel, was „zur Ausbildung eines Gewissens“ führe. Wenn das na­turwissen­schaftlich, anthropologisch oder historisch bewiesen wäre, könnte ich nicht mitre­den, wenn es je­doch philosophi­sche Deu­tung sein soll, bin ich sprachlos.

            Immerhin, der so dargestellte Indi­vidua­tionspro­zess, der auf sozialen Vorgängen ba­siere, sei „für sich betrachtet nichts anderes als der iso­lierte Pol eines ‚sinnlosen’ subjektiven Prozes­ses“. Diese surrealistische oder existenzialistische Attitüde stimmt mich fast wieder ver­söhn­lich mit solchem Strukturalismus. Aber das Ganze muss über die Kon­struktion dieses Unter­neh­mens zu einem „Selbst“ werden, indem der „Organismus“ sich mit „den anderen an das Un­ternehmen der Konstruktion eines ’objektiven’ und moralischen Uni­versums von Sinn macht“. Dass er da­bei seine biologische Natur transzendiert, kann durch­aus möglich sein, aber was ist zwingend im Jargon solcher Begrifflichkeit? Was ist eine „elementare Bedeutungs­schicht des Religionsbegriffs“? Wer sich das pro­duktiv entschichten kann, wird einsehen, dass „man das Transzendieren der biologischen Na­tur durch den menschlichen Organismus ein re­ligiöses Phänomen“ nennen muss, welches lediglich „auf der funktionalen Beziehung zwischen Selbst und Gesellschaft“ beruht. Wer dagegen ein­wendet, und ich schließe mich ihm an, dass „Religion nach dieser Auffassung zu einem alles umfassenden Phänomen würde“, bekommt rüde entgegengehalten: „Wir be­haupten, dass die­ser Einwand nicht begründet ist.“ Wer heißt „wir“? Ich verwahre mich jedenfalls ge­gen solche Ver­ein­nah­mung.

            Sollte im Vorangegangenen die „allgemeine Quelle, aus der die historisch differenzier­ten Formen der Religion entsprangen“, untersucht worden sein, die sowohl die universale als auch die „spezifisch anthropologische Bedingung der Religion“ erklärt haben will, dann wird nun in der Forstsetzung behauptet, dass „der Organismus zur Person wird“, indem er erstens mit an­deren „einen innerlich verpflichtenden Kosmos“ bildet und zweitens, dass er „seine Natür­lichkeit transzendiert“. Daraus wird abgeleitet, es handele sich hierbei „um einen grundle­gen­den religiösen Vorgang“.

            Solche Behauptungen muss man wohl erst einmal verarbeiten, auch wenn man von vorn­her­ein dazu neigt, Transzendenz gleich mit Religion in Verbindung zu bringen, da alles Trans­zendente auf ein weites Feld der Philosophie führt. In Immanuel Kants Denken wird be­kanntlich das Adjektiv „transzendent“ als Ausdruck wissenschaftlicher Aussagen ver­wendet, die den Bereich möglicher Erfahrungen überschreiten und deshalb zu keiner Verifi­kation fä­hig sind. Er suchte die Erkenntnis auf den Boden sinnlicher Erfahrung zu stellen, in­dem er die bisherige Metaphysik, die über Gott und die Welt, über Freiheit und Unsterblich­keit nach­dachte, als transzendent erklärte, weil sie die Erfahrung übersteige. Auch wenn Kant zu keiner konsequenten materialistischen Erklärung der Erfahrung gelangt sein sollte, so führte er sie als Lehrsätze der reinen praktischen Vernunft wieder ein. Und so ähnlich wird wohl der Beg­riff „transzendent“ auch heute noch weitgehend verwendet.

            Luckmann fügt seiner vorangegangenen Analyse hinzu, dass „die Sinnsysteme ‚histo­risch’ je­dem konkreten menschlichen Organismus vorgegeben“ seien, was heißen soll: Die Men­schen schaffen sich ihren Kosmos nicht jeweils von neuem, sondern „werden vielmehr hin­eingeboren“. Der in Sozialisierungsprozessen herangereifte menschliche Organismus darf nun Person genannt werden, die „zugleich eine geschichtlich vorgegebene gesellschaftliche Ord­nung“ vorfindet. Auch sie soll „grundsätzlich einen religiösen Charakter“ haben, da Sozi­alisa­tion u. a. auch auf den anthropologischen Konzessionen der Religion beruhen würde. Über die Heraussonderung des Einzelnen aus dem Allgemeinen, über die Entwicklung des Bewusstseins und des Gewissens bildet sich ein Sinnzusammenhang heraus, der fortan „Welt­ansicht“ genannt wird, die wiederum zu höherer Transzendenz führen kann, obwohl oder weil sie dem Individuum vorausgeht. Sie führt, verkürzt gesagt, zur Ablösung von der unmittelba­ren Lebenswelt und damit hin zur Sinntradition. Die in einer dialektischen Beziehung zur So­zialstruktur stehende Weltansicht ist eine „historische und ge­sellschaftliche Wirklichkeit“, dazu natürlich eine „objektive“, die „eine elementare religiöse Funktion“ erfüllt. So lässt sich jede menschliche Gesellschaft „bestimmen als die grundle­gende Sozialform der Reli­gion“. Da die Weltansicht auch ein „übergreifendes Sinn­system“ ist, in dem zum Beispiel „Zeit, Raum, Kausalität und Zweck“ den spezifischeren Deutungsschemata übergeordnet sind, be­kommt sie das segmentierte Gepräge einer „natürli­chen“ Logik und zugleich die ebenso „na­türliche“ Einordnung in ein biologisches System. Bei­des, sowohl die „Logik“ als auch die „Taxonomie“, können nur in einer stabilen Gesellschaft als Weltansicht verpflich­tend dauern. Gesellschaftlich Anerkanntes und Bedeutungsvolles neigt zur Stilisierung und wird somit transportabel. So werden auch moralische Vorstellungen – aufgezählt werden da zum Beispiel Flaggen, Ikonen oder Totems – von Generation zu Generation weitergegeben. Freilich, über die Moral von Flaggen ließe sich wohl lange nachdenken.

Sprache als wichtigste Objektivierung der Weltansicht

Jeder wird zugeben, dass in einer Sprache wohl die differenziertesten und auch umfassendsten Potenzen sowohl zur Deutung der Welt als auch zur gesellschaftlichen Kommunikation ste­cken. In der Sprache bewahren sich „alle Erfahrungen aller Gesellschaftsmitglieder“ auf. Die der Weltansicht zugrunde liegende Logik und Taxonomie sind in der Syntax und seman­ti­schen Struktur der Sprache ebenso verfestigt, wie zugleich in ihrer objektivierenden Funktion deutlich wird, dass „die semantische und syntaktische Sprachebene von größerer Bedeutung ist als die phonetische“. Die Sprache steht faktisch jedem offen, der nicht behindert ist oder wird. Ihr Erlernen ist ein In-sich-Aufnehmen. Sprachregeln, Kodifizierungen und „die kon­textuellen Elemente der linguistischen Analyse“ sollen als Bild der inneren Sprachform ein „umfassendes Modell des Universums“ darstellen.

            Über die Muttermilch, soll heißen: über die Muttersprache bekommt man faktisch die „natür­liche“ Logik und die Einordnung ins System einer geschichtlichen Weltansicht vererbt, die also ein „Reservoir vorgefertigter Problemlö­sungen und eine Matrix von Verfahren zur Lö­sung neuer Probleme“ darstellt. Unsere Wahr­nehmungen, unser Verhalten, ja, sogar das Den­ken sollen somit über die Vermittlerrolle der Sprache einen Stabilitätsrahmen und zugleich eine routinierte Geschicklichkeit erhalten. Die kodifizierten Regeln der inneren Sprach­form sollen „Objektivierungen im strengen Sinne des Wortes“ sein.

            Die sprachliche Diktion des Heiligen Kosmos baut auf der sinnbildlichen Fähigkeit der Spra­che auf, die in der Personifizierung von Attraktionen, der Hervorbringung von Göt­ternamen und der Gewinnung „anderer“ Realitäten mit Hilfe der figurativen Stellvertretung zum Tra­gen kommt. Zusammen mit rituellen Akten und Ikonen dient die Sprache der „Arti­kulation des Heiligen Kosmos“ So, wie der Heilige Kosmos als Ausschnitt der objektiven so­zialen Wirk­lichkeit in Beziehung zur gesamten Sozialstruktur steht, ist auch die Sprache das wich­tigste Instrument „zur Objektivation der Weltansicht im allgemeinen wie auch des Heili­gen Kos­mos“.

Weltansicht, Religion und persönliche Identität

Die Gleichsetzung von dem, was Luckmann Weltansicht nennt, mit Religion und persönlicher Identität dürfte die wichtigste Gleichung der Aussagen sein, so sehr sie sich auch in Einzel­heiten und Redundanzen verlieren mögen. Nicht aus den einzelnen Deutungs­schemata lassen sich die religiösen Funktionen ableiten, sondern: „Es ist vielmehr die Weltan­sicht als ganze, als ein­heitliche Sinnmatrix. Sie bildet den historischen Rahmen, in dem menschliche Orga­nismen Identität ausbilden und dabei ihre biologische Natur transzendie­ren.“ Da die von ihm ge­meinte Weltansicht universal ist, versteht sich von selber, dass die dar­aus abgeleitete Reli­gio­sität unspezifisch ist. Es taucht die Frage auf, wie sich aus dieser Weltansicht schließlich ein Sinnbereich herauskristallisieren kann, der spezifisch „religiös“ genannt werden muss. Solch ein Bereich, erklärt Luckmann, enthält Symbole, die freilich auch eine „struktu­relle“, also wesentliche Eigenart der gesamten Weltansicht bedeuten, des­sen ungeachtet auch „stell­ver­tre­tend für die religiöse Funktion“ einstehen. Das heißt: be­stimmte Ebenen der universalen Welt­ansicht übernehmen auch die Symbolisierung der trans­zendie­renden Grundfunktion: „Die Symbole, die für die Wirklichkeit des Heiligen Kosmos stehen, können religiöse Reprä­sentanten genannt werden, weil sie auf eine jeweils spezifische und komprimierte Weise die religiöse Funktion der Weltansicht als Ganzes erfüllen.“ Alles, was die eine Weltansicht um­fasst, sind „in Bedeutungshierarchien eingeordnete Sinneinhei­ten“. Schon allein die Be­deu­tungshierarchie ist vielschichtig; das ist sozusagen ein „strukturel­les“ Merkmal der Welt­an­sicht, die grundsätzlich einen objektiven, freilich nur mittelbaren Aus­druck finden kann.

            Der Weltansicht liegt eine Bedeutungshierarchie zugrunde, die spezifische Repräsentati­onen verkörpert: „Diese Repräsentationen hängen implizit mit dem umfassenden Sinn der Weltan­sicht zusammen, explizit aber beziehen sie sich auf einen anderen Wirklich­keitsbereich – je­nen Bereich, in dem die ‚letzte Bedeutung’ angesiedelt ist.“ Solch ein Be­reich, der den ge­wöhnlichen Alltag transzendiert, „wird als geheimnisvoll und andersartig er­fahren“, so den profanen Alltag von der Besonderheit des „Heiligen“ trennend. Die Gewohn­heit des Alltägli­chen kann schnell zusammenbrechen, so dass zwischen Angst und Ekstase viele Sinnschich­ten erfahren werden können. Die Bandbreite des Ausdrucks beginnt bei heili­gen Kalendern oder Orten, rituellen Inszenierungen der sakralen Tradition oder jener Rituale, „in denen dem Lebenslauf des einzelnen ein sakraler Sinn verliehen wird“, und sie erstreckt sich bis zu den „Verdichtungen kritischer Probleme des einzelnen Lebens in Gestalt von Tän­zen, Epen und Dramen“.

            Der Heilige Kosmos ist zwar nur ein Teil der Weltansicht, aber er steht zur gesamten Sozial­struktur in Beziehung. Seine Repräsentation beglaubigt das Verhalten in allen sozialen Kons­tellationen. Je komplexer Gesellschaften werden, umso mehr bringen sie eigene Institu­tionen hervor, „die die Objektivität und soziale Geltung des Heiligen Kosmos tragen und stüt­zen“. Am weitesten soll die institutionelle Spezialisierung jedoch in der jüdisch-christlichen, also abendländischen Tradition gediehen sein. Je arbeitsteiliger und differenzierter ein Gesell­schaftssystem wird, desto mehr nimmt das Wissen aller an der Weltansicht ab und das Fach­wissen zu. So können sich verschiedene Versionen des Heiligen Kosmos unter verschiedenen Berufsgruppen oder sozialen Schichten gründen, zumal die Arbeitsteilung auch „die Freistel­lung der religiösen Experten von der Produktion“ zulässt. Je ungleicher jedoch die Potenzen religiöser Repräsentation in der Gesellschaft verteilt sind, desto weniger kann der Heilige Kosmos darin seine integrierende Rolle wahrnehmen. Es kommt daher zur Vereinheitlichung eines verpflichtenden Dogmas, das im Rahmen einer „inneren Logik“ allen einsichtig er­scheint. Doch von Generation zu Generation wird die innere Logik weiterentwickelt oder verschlimmbessert, sodass sich am Ende verschieden institutionalisierte Schulen, Theologien und Kirchen gegenüber stehen. Aber nicht nur das, denn es bildet sich parallel dazu auch ein Gegensatz zwischen Religion und Gesellschaft heraus. Die einst integrative Gesellschafts­komponente kann zum Konfliktherd nicht nur zwischen sich und der Welt, sondern auch zwi­schen den differenzierten Richtungen untereinander werden. Andererseits kann dieser Ge­gen­satz auch „als Katalysator sozialen Wandels wirken“. Persönliche Identität konnte so auch zum dogmatischen Spezialistentum verkommen.

Die individuelle Religiosität

Das, was bei Luckmann aus der Sicht von außen Religion genannt wird, ist, wie wir schon mehrfach verstanden haben, schlicht das Transzendieren der biologischen Natur durch den „menschlichen Organismus“. Die Situation der Wechselseitigkeit des intersubjektiven Von-Angesicht-zu-Angesicht-Blickens begründet solche Vorgänge, die zur Konstruktion einer ob­jektiven Weltansicht, zur Artikulation eines heiligen Kosmos und schließlich unter bestimm­ten Bedingungen zur Institution der Religion, also z.B. zur Herausbildung von Kirchen füh­ren. Dabei wird die „Individuation des Bewusstseins und des Gewissens historischer Indivi­duen in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Formen determiniert“. Das heißt: Der jeweils in eine Gesellschaft Hineingeborene bekommt die Weltansicht, die sich in ihm verinnerlicht, als ein objektives Sinnsystem durch seine Mitmenschen vermittelt. „Aus der objektiven Weltsicht wird ein subjektives Orientierungssystem in der objektiven Wirklichkeit.“ 

            In Konflikten der individuellen Vorlieben oder eigenen Erfahrungen und Bewusstsein­ströme mit der jeder Weltansicht zugrunde liegenden Bedeutungshierarchie wird sich das Be­wusst­sein und Gewissen eines historischen Individuums stets unter- oder einordnen, so dass die persönliche Identität zum „subjektiven Ausdruck einer historischen Weltansicht“ werden muss und sich daher die Identität „als eine universale Form der individuellen Religiosität“ deuten lässt. Dort, wo ein Heiliger Kosmos zur objektiven Wirklichkeit gezählt wird, wird der Hineingeborene diesen „in Gestalt bestimmter religiöser Repräsentationen verinnerli­chen“ Das heißt, dass im Idealfall das gesellschaftliche Modell der gesetzlich gewordenen Religion mit dem individuellen Sinnsystem letzter Relevanzen und zugleich mit den Vorlie­ben der meisten Individuen völlig übereinstimmt. Solche Zeiten und Situationen, die diesem Ideal nahe kamen, wo also nur wenige Ketzer existierten, sollen sich ja nicht nur in der Geschichte finden, sondern gibt es noch immer irgendwo auf der weiten Welt.

            Alles, das Alltägliche bis hin zu den schlimmsten Lebenskrisen, hat sich in einem trans­zen­denten Sinnzusammenhang verinnerlichter religiöser Repräsentation zu einem System letzter Instanzen und Relevanzen verdichtet, das zu einem grundlegenden Element der We­sensein­heit eines menschlichen Organismus geworden ist. So, wie sich der Heilige Kosmos zur Welt­ansicht als Ganzem verhält, so steht der religiöse Anteil des individuellen Bewusst­seins in ei­nem Verhältnis zur persönlichen Identität; wobei hier die nebensächliche Frage auftaucht, ob es auch eine „unpersönliche“ Identität geben kann oder von welcher außerper­sönlichen Iden­tität noch sinnvoll die Rede sein könnte – vielleicht von einer sozialen Identität?   Das könnte weiterführen im Verständnis des Textes, denn wenn Normen bleiben, Zei­ten sich jedoch ändern, kommt es nicht selten zu Spannungen; oft besonders drastisch, wenn es sich „um mit geheiligtem Sinn versehene Normen“ handelt. Luckmann zählt hier als Bei­spiele auf: Vaterschaft, Ritterlichkeit, Kastenstolz, Nationalstolz. Solche „religiösen Reprä­sentatio­nen“ können jedoch ihre „allgemeine Geltung und überge­ordnete Bedeutung“ beibe­hal­ten, sozusagen in symbolischer oder hohler Form. Leidet darunter die Identität des Indivi­duums? In den vorsäkularisierten Gesellschaften war die Ausbildung der Identität „notwendi­gerweise von dem vorgefertigten ‚offiziellen’ Modell der Religion abhängig“, das wiederum von ei­ner spezialisierten Institution geprägt wurde, die wir noch heute Kirche nennen. So wurde bald der Heilige Kosmos über eine Doktrin vermittelt, die ihre heiligen Texte von Fachleuten in Gesetzesbüchern zusammenfassen und kommentieren ließ. Es bildeten sich ei­gene Traditi­onen heraus, „die in ihrem Selbstverständnis und in unabdingbaren Rechten der Verwaltungs­bürokratien und Machteliten wurzeln“. So wird die Religion allein schon über ihre zum Teil imposanten Gebäude bald zu einem weithin sichtbaren Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit, in der den Religionsstiftern, Propheten, heiligen Texten, Theologien und Ritua­len auch pragma­tischere Elemente gegenüberstehen, als da sind: Kirchensteuerbeamte, Klin­gelbeutel, Sonn­tagsschulen, Totengräber und Pfarrersfrauen.

            In diesem geschlossenen Überbau von institutioneller Spezialisierung der Religion sol­len die Menschen in das „offizielle“ Modell der Religion hineinsozialisiert werden, um dort ihre all­gemein gültigen Deutungen und Verhaltensnormen, die ihre „existenziellen Routinen und Krisen beherrschen“, von Fachleuten empfangen zu können. Da Fachleute selber speziali­siert sind, beginnen deren Bereiche, wie z. B. Dogma, Liturgie oder Sozialethik, sich inner­halb des bisher Ganzen zu verselbständigen. Und die Teile des Fußvolkes können sich mal mehr zu dem oder jenem hingezogen fühlen; aber zugleich vergrößerte sich die Gefahr des Untereinanderausspie­lens der entstandenen kirchlichen Körperschaften, die sich auch „weltli­chen“ Dingen stellen. „Das tatsächlich wirksame System subjektiver Präferenzen kann sich ablösen von den ‚letzten’ Bedeutungen, wie sie im ‚offiziellen’ Modell festgelegt sind.“ Es wird schier unmöglich, die verschiedenen Elemente „des subjektiven Systems ‚letzter’ Be­deutun­gen“ ohne Verluste ins Ganze einzufügen. Der Preis der Spezialisierung wird gewisser­ma­ßen mit einer Pluralisierung bezahlt, die besonders die Anstrengungen jener er­höht, die vom Altar leben, um den Laien „aufkommende unterschiedliche Versionen des Hei­ligen Kosmos in eine einheitliche Konzeption zu integrieren“. Doch die Kluft zwischen den Haupt­amtli­chen und den Gläubigen hatte ambivalente Folgen. Einerseits leitete sie die Säku­larisie­rung ein und schuf Raum für eine vorsichtige, jedoch später immer weiter um sich grei­fende indivi­duelle Religiosität, andererseits war und ist diese Kluft oder „Zerrissenheit“, von der Heideggerspricht, durch ihren „Riss offen für den Einlass des Absoluten“. Auch oder be­son­ders für das Denken gilt ihm: „Die Zerrissenheit hält den Weg offen in das Metaphysi­sche.“ Solches zu folgern wird freilich Luckmann und vielen Wissenschaftlern nicht schme­cken.

Fazit und Kritik

In unserer modernen Konsumgesellschaft, in der vielen langsam die Luft auszugehen scheint, sieht Thomas Luckmann klar, dass der Einzelne „gegenüber der Kultur und dem Heiligen Kosmos als ‚Käufer’ auftritt. Ist die Religion erst einmal zur ‚Privatsache’ geworden, kann das Indivi­duum nach freiem Belieben aus dem Angebot ‚letzter’ Bedeutungen wählen“.

            Dieses vorläufige Ergebnis haben wir der anthropologischen Bedingung der Religion zu ver­danken, denn sie wurzelt in der Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, die natur­gemäß auch die Abläufe der Individuation unseres Gewissens und Bewusstseins durch­kreuzt. Das führt wiederum zur Objektivierung einer Weltansicht, die dem ungezügelten Be­wusst­seinsstrom „eine ihm ‚transzendente’ Bedeutungshierarchie verleiht“ Die Weltansicht als uni­versale, jedoch unspezifische Religionsform findet ihre subjektive Ergänzung im Sys­tem der verinnerlichten Bedeutungsmacht. Sie soll die Grundlage persönlicher Identität bil­den.

            Luckmanns Analyse sucht die Bedingungen aufzudecken, unter denen spezielle Gesell­schaftsformen aus der universalen Religionsform hervorgehen, die sich über die ge­samte Ge­sellschaft verbreitet hatten. Die Religion herrscht in besonderen sozialen Formen, die in der Artikulation eines Heiligen Kosmos genauso zu finden sind wie in einer Weltan­sicht, „die bis zur institutionellen Spezialisierung der Religion reicht“ und schließlich über die Entstehung der Kirchlichkeit die Säkularisierung einläutet. Die Gegenstandsfelder der un­sichtbaren Reli­gion, die sich vor über 40 Jahren, als der Essay entstand, schon abzeichneten – Natur, Sexua­lität, Ernährung, Familie, Sport und vor allem das, was unter dem Mega-Begriff „Selbstver­wirklichung“ daherkommt, sind heute um vieles ver­mehrt und flächendeckend mächtig. Sie sind ironischerweise die Einlösung des avant­gardistischen Versprechens von der Versöh­nung von Kunst und Leben, wie sie die Ästhetisie­rung der Lebens- und Arbeitswelt mittler­weile darstellt. 

            Freilich, der Versuch, immer schneller neue, maßgeblich außerkirchliche Religiositä­ten wie die „Popreligi­osität“, um ein schon wieder veraltetes Beispiel zu bringen, als Alterna­tive ge­gen angeblich überkommene Deutungsmuster der Religion auf die Beine zu stellen, könnte auch eine Entkernung des Religionsbegriffs verdecken wollen, die mit einer Verram­schung des Prädikats „Religion“ einhergeht. Diese In­strumentalisierung von Religion, wenden Kriti­ker ein, wird ja vor allem von Theologen selber betrieben mit Unterstützung durch nam­hafte Religionssoziologen, die mit einem funktionalen Religionsbegriff hantieren, der mitt­lerweile so unscharf geworden ist, dass man nunmehr in allen Sparten der Popkultur, der Werbung und des Sports Religiöses anzutreffen vermeint. Beim Kirchentag in Dortmund 2019 konnte sich jeder auch zum „Vulven malen“ in einen Workshop anmelden. Solche funktionalen Reli­gionsbe­stimmungen, de­ren inhaltlicher Bezug gegen Null tendiert, machen am Ende praktische Reli­gion unmöglich. Denn was sich wissenschaftlich offenbart, ist eine Aushöhlung des Religi­onsbegriffes, in der die Religion zur Karikatur wird. Dem entspricht eine konsumgerechte, vom Marketingvoka­bular geprägte Tendenz, nach der dann Religion den wechselnden Be­dürfnissen angepasst und kundenorientiert aufbereitet wird. In Anbiederung an aktuelle Be­findlichkeiten und „Be­dürf­nisse“, vorherrschende „Nachfrage“ und entsprechende „Werbung“ werden „traditio­nelle“ Glaubensinhalte und reflektiertes Glau­benswissen zurückgedrängt. Die von Individua­lisie­rung, Privatisierung und De-Institutionali­sierung bestimmte jeweils neueste Religion zielt auf innere Stimmigkeit und Selbsterfahrung und führt in der Konsequenz zu ei­ner Religion ohne Gottesbezug, damit religiöse Gefühle will­kürlich ausgelebt werden können. Ähnliches gibt es in der Entwicklung der modernen Kunst zu beobachten. Die Kunsttempel der Gegenwarts­kunst sind in der Regel leer, die Menschen erfüllen sich ihre ästhetischen Be­dürfnisse lieber in „schön“ gestalteten Kaufhäusern. Die Kirchen sind leer, wie es oben schon hieß, die Massen leben ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft und Kult in den Fußballstadien oder in den Zelten des Oktoberfestes aus. Kunsthonig und Bienenhonig unterscheiden sich je­doch qualitativ so sehr, dass es ei­gentlich impertinent ist, Kunsthonig Honig zu nennen.

            Wolfhart Pannenberg, immerhin einer der wichtigsten Theologen der Gegen­wart, stellt der wissenschaftlichen Anthropologie eine theologische entgegen, die den Men­schen „im Lichte der Theologie“ zeigen will, da er der Meinung ist, dass die Wissenschaften mit ihren Men­schenbildern nie den tatsächlichen Menschen erreichen, „weder die biologische noch die Kulturanthropologie, weder die Soziologie noch die Rechtsanthropologie und gewiss auch nicht die Existenzialontologie. Ihre Bilder vom Menschen sind Abstraktionen.“ Frei­lich lässt sich Wissenschaft ohne Abstraktionen nicht leisten, aber auch eine Wissenschaft, die sich mit dem Heiligen Kosmos, dem Absoluten, dem Schöpfer der Welt und dem Ewigen be­schäftigt, hat nichts von solchen göttlichen Attributen an sich, sondern bleibt wie alle positive Wissen­schaft etwas Vor­läufi­ges, denn „die zentrale Thematik der Religion ist jedoch meta­physischer Art und entzieht sich damit dem Mikroskop“.

Erfahrung soll sinnlos sein?

Thomas Luckmann sagte noch 1964 kurz und unmissverständlich, und das gegen alle Empi­risten, aber auch gegen Husserl oder Heidegger gerichtet: „Die unmittelbare Erfahrung ist we­sent­lich sinnlos.“ Sinn ergebe sich nur in der Interpretation unmittelbarer Erfahrung, an­hand eines Wissens- und Wertschemas, „also in einem erfahrungstranszendenten Bezug“. Im Jahr 2000 klang dasschon moderater, alserander Theologischen Fakultät Leipzigdie Frage zu beantworten suchte, wo in modernen Gesellschaften Moral noch öffentlich kommu­niziert würde und nach welchem Muster. Sein Thema sei, räumte er dort einleitend ein, wis­sen­schaftlich schwerer als viele andere gesellschaftliche Erscheinungen auf den Begriff zu be­kommen, weil unser tägliches Handeln unmittelbar in diesen Erscheinungen verfangen sei. Das erschwere den theoretischen Abstand zu unserer selbstverständlichen Praxis. Freilich, ein Wertschema aufzustellen, ein Modell zu erdenken, eine Idee zu haben ist das eine; das andere, wie es gelingen kann, solches dann der Welt oder der Sache überzustülpen. Zu viele Soziolo­gen oder Wissenschaftler schwärmen noch immer wie Politiker, Techniker oder Militärs da­von, alles in den Griff zu bekommen. „Allen Erfahrungen ist gemeinsam“, heißt es in Herders Kleinem philo­sophischem Lexikon von 1958, „dass sie als solche zwar umschrie­ben, nicht aber in dem un­mittelbaren Gehalt ihrer Selbstbezeugung mitgeteilt und gegenwär­tig gemacht werden kön­nen. Sie sind deshalb auf rationellem Wege nicht widerlegbar, son­dern können nur durch tie­fere Erfahrungen eingeschränkt oder überholt werden.“

            Husserl, der eben gegen Luckmanns „Interpretation unmittelbarer Erfahrung“ bekannt­lich die Sachen selber zum Sprechen bringen wollte, empfahl stets „epoché“, soll heißen: sich zu­rück zu nehmen. Damit forderte er die Philosophen auf, sich der vorschnellen Weltdeutung zu ent­halten und sich bei der analytischen Betrachtung der Dinge an das zu halten, was dem Be­wusstsein unmittelbar erscheint. Aus der durch die Enthaltung gewonnenen Neutralität her­aus sei es dann möglich, zum Wesen einer Sache, beziehungsweise „zu den Sachen selber“ vor­zudringen. Jetzt seien nur noch die Bewusstseinsakte Gegenstand einer Betrachtung. Das Vorhandensein eines Gegenstandes wird auf diese Weise „transzendiert“ Was übrigbleibe, könne die „absolute Seinsregion des Bewusstseins“ selber sein. Mit dieser eidetischen Reduk­tion, also der gedanklich durchgespielten Variation eines Bewusstseinsphänomens, gelinge eine Wesensschau, die uns zeige, wie sich die Welt im Bewusstsein errichte und begründe. Doch was nützen solche Einsichten, wenn sie vor allem von jenen nicht umgesetzt werden, deren Beruf es sein müsste? Besonders nach 1945 fielen Intellektuelle dadurch auf, immer deutlicher werden zu lassen, religiös mindestens ebenso „unmusikalisch“ zu sein wie Jürgen Habermas. Dass es Religion in der Welt gibt, die nicht einfach abstirbt, hat Tho­mas Luck­manngut herausgearbeitet; denn wer das denkt oder fordert, überlässt das Thema Religion leichtfertig den Kräften der Unterwelt. Erstaunlich bleibt jedoch, dass die Soziologie bisher kaum erklärte, wie durch die beiden Diktaturen in Deutschland der traditionellen Religio­nen und ihren Kirchen faktisch der Garaus gemacht werden konnte. Michael Hesemannweist in dem Buch „Hitlers Religion“ nach, dass Hitlerdie „verjudete Kirche“ nicht nur hasste; er wusste auch, dass bloße Sticheleien ihr hätten nichts anhaben können, deshalb verfolgte er eine systematische Deprogrammierung der Deutschen. Nie vorher und nie raffinierter wurde die Entchristlichung einer Nation fanatischer betrieben als in den beiden sozialistischen Dik­taturen: mit eigenen Sakramenten, Riten, Orden und einem komplexen Credo, ganz abgesehen von immer neuen Gottesdiensten. Hitlers erste Rede nach der Machtergreifung feierte schon das „neue deut­sche Reich der Größe und der Ehre und der Kraft und der Herrlichkeit und der Gerechtigkeit. Amen!“ Was war schon eine Messe im Kölner Dom gegen Speers Lichtdome? Im Bund Deutscher Mädel lernte man ein neues Vaterunser auswendig: „Adolf Hitler, Dein Reich macht die Feinde erzittern, Dein Drittes Reich komme, Dein Wille sei allein Gesetz auf Er­den…“  Hitlers Projekt war eine absonderlich dämonische Gegenkirche. Der Kulturbruch der Nationalsozialisten, zuvor schon durch die Kommunisten begangen und nach dem II. Welt­krieg skrupellos fortgeführt, war eine rabenschwarze und eiskalt berechnete Satansmesse, dem in nur 12 Jahren Millionen von Juden und Christen zum Opfer fielen. Die religiöse Ent­wurzelung unter den Kommunisten war noch abgefeimter, effizienter und kam fast ohne Lei­chen aus. Was die Jakobiner in der Neuzeit grausam begannen, Karl Marx mit seinem sprich­wörtlichen Hass gegen die Religion geistig untermauerte, suchte Hitler umzuset­zen: „Wir be­enden einen Irr­weg der Menschheit. Die Tafeln vom Sinai haben ihre Gültigkeit verloren. Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung…“ Das, was am meisten verwundern müsste, ist die von der Soziolo­gie vernachlässigte Tatsache, dass der Siegeszug dieser grau­envollen Überzeu­gung erst nach 1968 so richtig in Schwung kam. 

            Ich glaube – und ich sage bewusst „glaube“ –, dass weder einer sichtbaren, noch einer un­sichtbaren Religion mit historischen, so­ziologischen, naturwissenschaftlichen, ja, nicht einmal mit philosophischen oder theologi­schen Erklärungen beizukommen ist. Religion, die ja viel mit unmittelbarer Wahrnehmung und davon abgeleiteter Erfahrung zu tun hat und fast immer auch nach einem „Leben in der Wahr­heit“ (Václav Havel) sucht, sperrt sich, ähnlich der Lie­beserfahrung, allen intellektuellen Deutungsschemata; deshalb haben es selbst wort­gewaltige Mystiker so schwer, ihre Glau­benserfahrungen auszudrücken, so sie es denn über­haupt für nötig erachten. Sogar das kriti­sche, also das unter der Zensur der Vernunft betonte Lesen der Heiligen Schrift stiftet mehr Verwirrung als Ein-Tracht mit dem, an den oder an das man zu glauben glaubt. Ist die Dreiheit „Glaube, Liebe, Hoffnung“ wirklich analysier­bar? Hei­degger sagte: „Das Religiöse wird niemals durch die Logik zerstört, sondern immer nur da­durch, dass der Gott sich ent­zieht.“ Ich entnehme dem Text Luckmanns die Erkennt­nis, ohne es aus­drücklich herausgelesen zu haben, dass derjenige, der am identischsten ist, auch Gott (oderdem Heiligen Kosmos, um im Sprachduktus der Vorlage zu bleiben) am nächsten steht. Au­ßerdem nehme ich an, auch einiges über die „unsichtbare Vernunft“ einer­seits und anderer­seits über die „sichtbare Unvernunft“ unse­rer menschlichen Gattung und ih­rer anthro­pologi­schen und religiösen Entwicklung erkannt zu haben. 

Über Siegmar Faust 46 Artikel
Siegmar Faust, geboren 1944, studierte Kunsterziehung und Geschichte in Leipzig. Seit Ende der 1980er Jahre ist Faust Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), heute als Kuratoriums-Mitglied. Von 1987 bis 1990 war er Chefredakteur der von der IGFM herausgegebenen Zeitschrift „DDR heute“ sowie Mitherausgeber der Zeitschrift des Brüsewitz-Zentrums, „Christen drüben“. Faust war zeitweise Geschäftsführer des Menschenrechtszentrums Cottbus e. V. und arbeitete dort auch als Besucherreferent, ebenso in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Er ist aus dem Vorstand des Menschenrechtszentrums ausgetreten und gehört nur noch der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik und der Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft an.