Das amerikanische Taj Mahal

„Manchmal besiegt die Liebe sogar den Tod“ – unbekannt

Es ist kein Haus wie ein anderes – das Winchester Mystery House in San Jose, Kalifornien. Einst war es die Residenz von Sarah Winchester, der Witwe des Gewehrfabrikanten William Winchester. 

Die umfangreichen Bauarbeiten an der Villa begannen im Jahr 1884 und endeten erst mit dem Tod Sarah Winchesters am 5. September 1922. 

Das Gebäude hat 161 Räume unterschiedlicher Größe, darunter allein 40 Schlafzimmer auf 4 Etagen, 47 Kamine, 17 Schornsteine, mehrere Geheimgänge und 1000 Fenster. Vor dem großen Erdbeben von San Francisco im Jahr 1906, bei dem es arg beschädigt wurde, verfügte das Haus sogar über 7 Stockwerke.

In der labyrinthischen Villa befinden sich mehrere kuriose Anlagen, so etwa blinde Türen, hinter denen nichts als eine Wand ist, eine Treppe, die erst sieben Stufen hinab und dann wieder elf hinauf führt, eine andere Treppe, welche einfach in der Decke endet und eine Tür, die zu einem Abgrund von 3 Etagen führt. 

Das Gebäude wurde Stück für Stück errichtet. Bis zu Sarah Winchesters Tod kamen ständig neue Räume hinzu. Ein ursprünglicher Bauplan existierte entweder nicht, oder ist verloren gegangen.

Lokalen Legenden nach soll Sarah Winchester von manischer Furcht besessen gewesen sein, die Geister der mit Winchester-Gewehren Getöteten würden sie im Schlaf heimsuchen, und furchtbare Rache nehmen. Daher habe sie ihre Villa wie ein riesiges Labyrinth bauen lassen. Außerdem übernachtete sie täglich in anderen Zimmern, um nicht von den Geistern gefunden zu werden. 

Bereits ab 1895 begannen Zeitungen über das Verhalten Winchesters und ihre Motive für den Bau des Hauses zu spekulieren. Das meiste davon waren Tratsch und böswillige Gerüchte. Erst nach dem furchtbaren Erdbeben von 1906 in San Francisco wurden Vermutungen über okkulte Phänomene  und den angeblichen Wahnsinn der Witwe laut. Demnach soll sie auf Anweisung eines nicht näher bekannten Mediums gehandelt haben, welches den Geist ihres viel zu früh verstorbenen Ehemannes channelte. Auf diese Weise erhielt sie angeblich aus der Geisterwelt immer wieder Hinweise für den steten Ausbau der Villa, deren labyrinthartige Räume negative Energien, Dämonen und bösartige Geister verwirren sollten.  

War Sarah Winchester tatsächlich von der Furcht vor Dämonen so besessen, daß sie 24 Stunden am Tage und 7 Tage die Woche ununterbrochen an ihrem Landhaus bauen ließ, um sich vor bösen Geistern zu schützen?

Ein Blick auf das Leben und den Charakter Sarah Winchesters lohnen sich.

Sie wurde im Jahr 1840 in New Haven, Connecticut, als Sarah Lockwood Pardee geboren, und wuchs zu einer begabten und überaus intelligenten jungen Dame heran. Sarah beherrschte fließend mehrere Sprachen, spielte 3 Instrumente und dichtete. Ihre Interessen für Naturwissenschaften und ökonomische Belange waren ebenso ausgeprägt. 

Bereits im Alter von 22 Jahren heiratete sie William Wirt Winchester, den Sohn des bekannten Büchsenmachers Oliver Winchester, der als erster Repetiergewehre in Serie fertigte. 

Vier Jahr später gebar Sarah ihre Tochter Annie. Sie sollte das einzige Kind des Paares bleiben. Annie verstarb bereits sechs Wochen nach der Geburt an einer seltenen, zu dieser Zeit nicht heilbaren Kinderkrankheit. 

Nachdem ihr Schwiegervater Oliver Winchester, mit dem sie sich sehr gut verstand, bereits im Herbst 1880 verstorben war, verlor Sarah im März 1881 auch noch ihren Ehemann Wiliam. Er starb in viel zu jungen Jahren an Tuberkulose, einer damals recht häufigen Krankheit, die weder Arm noch Reich verschonte. 

William Winchester hinterließ Sarah 20 Millionen US Dollar in bar und den 50prozentigen Anteil an seiner Firma Winchester Repeating Arms Co.

Sie verwandte einen Teil des ererbten Vermögens für die Gründung der Winchester Chest Clinic im New Haven Yale Hospital. Diese medizinische Einrichtung existiert bis heute. Danach entschloß sich die Witwe Winschester, näher bei ihren Verwandten zu siedeln. Ihre Wahl fiel auf San Jose in Kalifornien. Das trockene Klima hier linderte auch die schwere rheumatische Arthritis, an der sie litt. 

Hier erwarb sie ein bescheidenes Landhaus mit ursprünglich 8 Zimmern, aus dem während der 38jährigen ununterbrochenen Bauzeit das Winchester Mystery House werden sollte. 

Sara Winchesters Geschichte hat selbst Hollywood fasziniert. In diesem Jahr erscheint der Film „Winchester – das Haus der Verdammten“ mit Oscar Preisträgerin Helen Mirren als Sarah. Regie führten die Spierig Brüder, welche mit ihrem “Jigsaw” Gemetzeln schon zweifelhaften Filmruhm ernteten. Entsprechend dämonisch dürfte es im neuen Streifen zugehen. 

Mirren sieht das Ganze aber eher psychologisierend:

„Es gibt viele Wege, sie zu verstehen,“ verriet die Schauspielerin der L.A. Times während eines Interviews im Winchester Haus. „War sie eine Rosenkreuzerin? Oder eine tiefgläubige Christin? War sie von den Toten verflucht, oder einfach nur verrückt?“

„Wenn man sein Vermögen mit dem Tod macht, dann muß man einen Preis zahlen. Einen psychischen Preis und einen spirituellen Preis,“ fuhr Mirren fort. „Und ich kann mir nur ausmalen, daß Menschen, die Waffen verkaufen und damit ein Vermögen verdienen bis in unsere Tage, irgendwann einmal einhalten müssen, vor allem, wenn sie Christen sind. Und dann kommt unweigerlich die Frage: Muß ich dafür bezahlen?“

So mancher verweist auf Sarah Winchester’s verschlossenes Naturell und ihr zurückgezogenes Leben in San Jose als Beleg für diese These. Ebenso sorgte ihre Angewohnheit, jede Nacht in einem anderen Raum des Hauses zu nächtigen, für Spekulationen. Floh sie vor ihren Dämonen oder vor bösen Geistern? 

Doch diese mysteriöse Angewohnheit läßt sich vielleicht ganz einfach erklären. Sarah Winchester war durch ihre rheumatische Erkrankung sehr stark in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt, die letzten Lebensjahre sogar an einen Rollstuhl gefesselt. Daher gibt es im Haus auch mehrere, technisch interessante Fahrstühle. Was lag also näher bei einer so großen Anzahl an Zimmern, die Nacht im jeweils nächsten Schlafgemach zu verbringen, als sich quer durch das Labyrinth des Hauses zu quälen? Außerdem sorgte ein ausgeklügeltes Signalsystem dafür, daß die Dienerschaft stets wußte, wo Sarah Winchester zu finden war. Das rettete ihr bei dem großen Beben von 1906 vermutlich das Leben, denn ihre Bediensteten konnten Sarah befreien, die von den Trümmern der oberen Etagen in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen worden war.   

Doch warum baute die Witwe Winchester dann ununterbrochen an ihrem Haus, bis es zu einem verwirrenden Labyrinth wurde?

„Sie hatte ein ausgeprägtes soziales Gewissen, und sie wollte etwas zurückgeben,“ meint der Historiker Janan Boehme. „Die Winchesters hatten Tonnen von Geld, und sie wollte ihre Arbeiter angemessen entlohnen. Das Haus selbst ist ihre größte soziale Tat.“

Tatsächlich beschäftigte Sarah Winchester Dutzende Tischler, denen sie das Dreifache der damals üblichen Vergütung zahlte. Die Familien der Arbeiter wohnten kostenfrei auf dem großen Grundstück Winchesters, sie sorgte für die Schulbildung der Kinder und medizinische Versorgung für alle. 

Doch war dies der alleinige Grund für den Bau des Hauses?

Gemeinsam mit meiner Frau besuchte ich das Winchester Mystery House im Januar 2018 während unserer Reise durch Kalifornien. Das Anwesen steht seit einigen Jahrzehnten für Besucher offen, und kann mit geführten Touren erkundet werden.  

Wie waren beeindruckt von dem riesigen, ganz aus Holz erbauten Komplex im viktorianischen Stil, den großzügigen Gärten und den Geschichten über Sarah Winchester und ihr Werk, die unsere ehrenamtlichen Guides mit Begeisterung und Detailkenntnis erzählten. 

Schnell wurde klar – für Geister und Dämonen haben die Angestellten nur ein Lächeln übrig, wie auch für das neue Werk Hollywoods. Immerhin war hier schon 1924 der berühmte Illusionist und Entfesselungskünstler Harry Houdini während seines „Kreuzzuges gegen den Spiritismus“ zu einem nächtlichen Rundgang eingeladen. Dabei soll sich der Meister mehrfach den Kopf gestoßen haben – Sterne sah er wohl dabei, Geister eher nicht.  

Doch etwas erwähnten unsere Begleiter immer wieder, etwas, das sich so nicht in den Legenden über das Winchester Haus findet – die Liebe zwischen Sarah und ihrem Mann William. Die beiden hatten aus Liebe geheiratet – zu jener Zeit durchaus ungewöhnlich. Auch nach dem frühen Tod ihrer einzigen Tochter führten sie ein glückliches Leben voller Pläne und Ideen in New Haven. Sie wollten eine große, glückliche Familie, und planten ein Haus dafür – ein ganz besonderes Haus sollte es werden.

Doch dann wurde zunächst Sarahs Schwiegervater aus dem Leben gerissen. Kurz danach verlor sie ihren geliebten Mann an die Tuberkolose. Von Trauer und Krankheit gezeichnet, verließ Sarah den Familienwohnsitz in Connecticut. Doch die gemeinsamen Pläne nahm sie mit.

In San Jose fand Sarah Winchester, wonach sie gesucht hatte – eine ausbaufähige Villa mit viel Land.

Hier begann sie, die mit ihrem Mann geschmiedeten Pläne für das Heim einer großen, glücklichen Familie zu verwirklichen. So, wie sie ihre Trauerkleidung bis zu ihrem Tod nicht ablegte, um zu zeigen, daß sie ihren Mann für immer im Herzen trug, so baute Sarah Winchester an dem Heim für ihre Familie, die sie nie gehabt hatte. Sie baute und baute, bis sie sich selbst am 5. September 1922 auf den Weg zu ihren Lieben machte, die sie sicher in der anderen Welt bereits erwarteten. 

Sarah Winchester ist friedlich in ihrem Bett eingeschlafen. 

Das ist alles nur eine These?

Nun ja, vielleicht.

Doch als nach dem Tod der Winchester Erbin mit großer Mühe der Tresor ihres Hauses geöffnet wurde, stellte sich heraus, daß es sich nicht um einen, sondern um drei ineinander verschachtelte Panzerschränke handelte. Im Innern des letztes Tresors fanden Sarah Winchesters Erben das, was ihr am meisten bedeutet hatte – eine Haarlocke ihres Kindes, und eine ihres Mannes…

Darum ist zumindest für uns das Winchester Haus kein „Haus der Verdammten“, sondern ein amerikanisches Taj Mahal – das Denkmal einer Liebe, die so stark ist, daß sie selbst den Tod besiegt.

Über Thomas Ritter 110 Artikel
Thomas Ritter, 1968 in Freital geboren, ist Autor und freier Mitarbeiter verschiedener grenzwissenschaftlicher und historischer Magazine. Thomas Ritter hat zahlreiche Bücher und Anthologien veröffentlicht. Außerdem veranstaltet er seit mehr als zwanzig Jahren Reisen auf den Spuren unserer Vorfahren zu rätselhaften Orten sowie zu den Mysterien unserer Zeit. Mit seiner Firma „Thomas Ritter Reiseservice“ hat er sich auf Kleingruppenreisen in Asien, dem Orient, Europa und Mittelamerika spezialisiert. Mehr Informationen auf: https://www.thomas-ritter-reisen.de Nach einer Ausbildung zum Stahlwerker im Edelstahlwerk Freital, der Erlangung der Hochschulreife und abgeleistetem Wehrdienst, studierte er Rechtswissenschaften und Geschichte an der TU Dresden von 1991 bis 1998. Seit 1990 unternimmt Thomas Ritter Studienreisen auf den Spuren früher Kulturen durch Europa und Asien.