Die ewige Wiederkehr der Seuchen

auch Nietzsche wusste schon ein Lied davon zu singen

Für viele Menschen war die Entwicklung der Coronamaßnahmen etwas völlig Neues und Ungewöhnliches. Plötzlich wurden Grenzen geschlossen, Qurarantäne beim, wenn überhaupt noch möglichen, Überschreiten verhängt.

Es gibt nichts Neues unter dieser Sonne“, sagte schon in der Bibel der Weise Salomon.

Nietzsche, welcher ein sehr unstetes Leben führte und dauernd in Italien zwischen den Städten, und in Europa zwischen Deutschland, Schweiz, Frankreich und Italien hin und herpendelte, auf der Suche nach dem optimalen Ort für sein Schreiben und seine Gesundheit, schreibt am 21. April 1886 in einem Brief an Heinrich Köselitz in Annaberg aus Nizza:

Lieber Freund,

immer noch aus Nizza! Im entscheidenden Zeitpunkte, wo ich nach Venedig fort wollte, schlug das Wetter um, und eine Art Verhärtung und Verwinterlichung hat bis jetzt Stand gehalten: so daß ich erst Ende Monats davon fliegen will. Wohin? selbst das ist nicht gewiß. Bei weitem am liebsten nach Venedig: doch ist der Gesundheits-Stand daselbst fragwürdig genug, und fast scheint es, daß Einer, der sich dorthin begiebt, sich nicht nur in eine Gefahr, sondern, was das Unangenehmere ist, in eine Quarantaine hineinstürzt. Bis heute ist letztere zwar nur für die Seeseite (und fürs ganze Adriatico) erklärt: es könnte aber bald genug kommen, daß man sich auch von der Landseite aus, z. B. von Mailand gegen Padua und Venedig sicher stellte: kurz, daß man mir den Rückweg in die Schweiz verbaute. — Trotzdem: ich glaube eigentlich daran, daß ich im entscheidenden Momente doch noch dorthin schlüpfe, — zuletzt hat man nicht zu viel Dinge lieb, und darunter ist, bei mir wenigstens, eine einzige Stadt.“

Wovon Nietzsche berichtet, das hat die WHO als 5. Pandemie von 1883 -1896 definiert, hervorgerufen durch Cholera. Dagegen wurde übrigens später auch eine Impfung entwickelt, welche hingegen nach 6 Monaten ebenso wie unsere heutigen Coronimpfungen an Wirkung verliert.

Zurück zu Nietzsche, am 25. April schreibt er bezüglich der Cholera in Venedig an Franz Overbeck:

Lieber Freund, immer noch in Nizza, wo mich die plötzliche Verhärtung und Verwinterlichung des Clima’s warten hieß: hinzugerechnet die schlechten Nachrichten über den Gesundheitsstand in Venedig.“

Dennoch hält er weiterhin an seinem Plan fest und fürchtet auch nicht den „Tod in Venedig1

Am 28. April schreibt er an seine Mutter:

Übermorgen gehe ich nach Venedig, will sehr still herumgehen und mich von der großen Angegriffenheit so gut es geht erholen. Vielleicht wohne ich im alten Zimmerchen des guten Köselitz…“

und am 1. Mai dann schliesslich aus Venedig an Franz Overbeck: 

Gestern Abend bin ich in Venedig eingetroffen, nach ein paar Wochen peinlicher Ungewißheit: deren Zeugniß auch eine Karte an Dich gewesen ist, lieber Freund.“

und 6 Tage später an Köselitz einen seiner besten Freunde:

Lieber Freund, ich sitze hier in Ihrem Neste, ohne Sie, den ausgeflogenen Singevogel, irgendwie zu repräsentiren. Denn es geht mir nicht gut, meine Augen torturiren mich Tag und Nacht. Das Wetter ist glänzend klar und frisch, aber — ich darf nichts sehen, und Alles thut mir weh.

In summa: ich reise nächster Tage ab, über München nach Naumburg, um mich in einen Wald zu verstecken. Meine Adresse also Naumburg a.d.Saale: — auch für den Fall von Correkturbogen…

Ihre Leute hierselbst sind ausgezeichnet; es scheint mir, daß im Winter (wo das Licht nicht so intensiv ist) sich gut hier wohnen ließe.

Unter einem Concertprogramm las ich als Dirigenten Edoardo Sassone, warum nicht Enrico?“

Am 31.5. schreibt er an seine Schwester:

Von Venedig bin ich noch zur rechten Zeit losgekommen, inzwischen ist die Cholera dort in Blüthe getreten, und durch Land- und See-Quarantänen umzingelt.“

An General Simon schreibt er am 20. Oktober betreffend des weiteren Vorherrschens der Cholera in Italien:

. — Bei Tisch erzählte mir ein Italiäner, der in Verbindung mit den offiziellen Kreisen Roms ist, daß daselbst die Cholera in weit höherem Grade hause als man das in der Presse eingestehen dürfe: c. 50 Fälle den Tag. In der That scheint die Begünstigung, welche die Riviera dies Mal seitens der Fremden erfährt, zu einem guten Theil von dem Mißtrauen abzuhängen, welches das durchseuchte Italien macht.“

Nun, wie man sieht hat der im wirklichen Leben eigentlich nicht so besonders mutige Nietzsche sich trotzdem nach Venedig begeben, wo obwohl Pandemiezustand, auch weiterhin das öffentliche Leben beibehalten wurde, Konzerte gegeben wurden, das Leben ging weiter auch wenn mal ein paar Menschen mehr als üblich leiden oder sterben mussten.

Nietzsche hatte allerdings bis dahin schon reichlich Erfahrung mit der Cholera gewonnen, aus der 4. Pandemie (1863–1876).

Hier ebenfalls aus seinen Briefen 18. August 1866 an seine Mutter und Schwester:

An der Cholera bin ich noch nicht krank gewesen. Zudem tritt sie in Leipzig ziemlich milde auf. Ganz anders wenigstens als in Halle. Ich will als den Tag meines Kommens den Mittwoch in nächster Woche bezeichnen, obwohl ich das nicht so sicher in der Hand habe.“

Am 10. September 1866 an Mushacke:

Die Cholera hat in Leipzig arg gewüthet, auch Flathe2 ausgelöscht, ist aber jetzt im Abnehmen. Der Hauptgrund, der mich bestimmt, so bald wieder zurückzukehren, ist eine Verabredung mit Dindorf, der mit mir in eine Art von Geschäftsverbindung zu treten anfängt.“

Am 11.September an Gersdorff:

Ich bin diese Ferien nicht verreist, sondern sitze in arbeitsamer Einsamkeit in Kösen, das meine Mutter und ich, um der Naumburger Cholera zu entgehen, seit vier Wochen bewohnen:“

1875 aus seinen nachgelassenen Fragmenten 9 (2) notiert er:

Bei einer sehr niedrigen Temperatur ist die Sterblichkeit in London eine viel größere. Das steht fest, nicht aber, wie ein beliebiger Todesfall durch die niedere Temperatur verursacht sei. … Man vermuthet, daß eine große Anzahl von Krankheiten durch organische Keime veranlaßt werden; unsere Unkenntniß von denselben ist vollkommen. Die Luft wimmelt von solchen, sie kämpfen miteinander, wir sind die Beute der stärkeren. So sind wir mit einer ganzen Welt von Geschöpfen auf’s Innigste verknüpft und kennen sie nicht besser als die Bewohner des Mars. Aber doch kennen wir einige Eigenthümlichkeiten dieser Raubstaaten z.B. daß die Cholera hauptsächlich eine Krankheit der Tiefebenen ist, daß wir auf das Trinkwasser zu achten haben. — Die Impfung steuert die Verheerung durch die Blattern, aber wir sind wie Gefangne, die sich verstümmeln müssen, um sich für ihren siegreichen Gegner werthlos zu machen; so daß er sie frei läßt.“

Anfang August 1884 in einem Brief an Franz Overbeck:

Ob ich im September südlich-westlich reisen kann , hängt von der Cholera und der (7 tägigen!) Quarantäne ab; diese Krankheit hat mich schon gezwungen, über Zürich nach dem Engadin zu reisen, statt, wie es viel näher war, über Lugano.“

Am 2. September an Köselitz:

. — Einstweilen bin ich durch eine doppelte Quarantäne von Nizza fern gehalten (das heißt durch 2 X 7 Tage) und in Anbetracht, daß erst mit den Herbst-Regen die Cholera verschwinden wird, also etwa in der zweiten Hälfte des October —oscillirt meine Sehnsucht sehr nach dem Norden zu, deutlicher geredet, nach Dresden zu“

Obwohl Nietzsche im wirklichen Leben nicht gerade einer der mutigsten Männer gewesen war, erlag er doch nicht jenem Phänomen, was der Arzt Dr. Johann Gustav Lindgren in seinem 1848 erschienen Buch: Versuch einer Nosologie der Cholera Orientalis, Kasan 1846, S. 230f beschrieben hatte:

„Ferner zeigt sich während einer jeden Epidemie, besonders häufig aber bei ihrem ersten Auftreten an einem Orte, als ein krankhafter Seelenzustand die Cholerophobie und 
deren Steigerung, welche man mit Recht auch Pseudocholera genannt hat, und so leicht in die ächte überschlägt. Die physiologisch-pathologischen Veränderungen, die hier vor sich 
gehen,sind, wie die Ursache,-die Furcht des Todes,-sowohl in psychischer, als auch somatischer Beziehung fast dieselben, wie bei der Hetzflucht, also eigentlich das Gegentheil der Cholera. Es kommen hier nur Unterschiede herein , welche theils von der 
höher entwickelten und von einem Geiste abhängigen Psyche des Menschen, theils von der epidemischen Choleraconstitution, theils von andern, zufälligen, äussern Verhältnissen herrühren. 
Die Furcht lähmt das Selbstgefühl des Individuums und überantwortet es theils einer gewissen Gruppe von Vorstellungen,einem fixen Wahn, der an Blödsinn grenzt, theils einem Oscilliren von Affecten,welches in der Vielwesigkeit der Cholerophoben das Analoge des wirklichen Fliehens gehetzter Thiere darbietet ; und auch in somatischer Beziehung zeigen sich ein beschleunigter Puls, Herzklopfen, vermehrte Hauthämatose, saburrale , galligte  Durchfälle. Selbst solche Fälle sind vorgekommen, dass Personen durch Cholerophobie in einen permanenten Zustand von Verrücktheit geriethen, der auch nach beendigter 
Epidemie noch fortdauerte, oder die Cholerophobie liess somatische,besonders  Herzübel, zurück.“  

Paralellen zur „Long Covid“ Theorie sind hier nicht allzufern!

Abschliessend schreibt Nietzsche in seinem letzten noch selbst veröffentlichten Werk Götzen – Dämmerung unter Paragraph 36, Moral für Ärzte:

Der Pessimismus, anbei gesagt, so ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer Zeit, eines Geschlechts im Ganzen: er ist deren Ausdruck. Man verfällt ihm, wie man der Cholera verfällt: man muss morbid genug dazu schon angelegt sein. Der Pessimismus selbst macht keinen einzigen décadent mehr; ich erinnere an das Ergebniss der Statistik, dass die Jahre, in denen die Cholera wüthet, sich in der Gesammt-Ziffer der Sterbefälle nicht von andern Jahrgängen unterscheiden. 

1 Erzählung von Thomas Mann, 1911 erstmals veröffentlicht

2 Ludwig Flathe, deutscher Historiker, geb. 1799 gestorben in Leipzig 1866

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