Die Großmannssucht des Olaf Scholz und die 100 Milliarden

Olaf Scholz Deutschland, TobiasRehbein, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

„Ukraine… is a geopolitical pivot because its very existence

as an independent country helps to transform Russia“

(Z. Brzezinzki, The Grand Chessboard)

„Die Wirklichkeit des Kampfes fordert andere Reserven an…“

(Ernst Jünger, Der Arbeiter)

Wenn Unterlassen Handeln ist. Für eine lebensdienliche Umwidmung der 100 Milliarden Euro

Die folgenden Zeilen hinterfragen die Großmannssucht, den aktiven Nihilismus und die patriotische Todessehnsucht à la 1914, wie sie in der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022 etwa an diesen Stellen zum Ausdruck kommen:

„Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind. Darum geht es. Und das ist ja wohl erreichbar für ein Land unserer Größe und unserer Bedeutung in Europa. […] Aber machen wir uns nichts vor: Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld. […]Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten […].Und ich richte mich hier an alle Fraktionen des Deutschen Bundestags: Lassen Sie uns das Sondervermögen im Grundgesetz absichern.“

Hält man sich an den Wohlstandsindikator des LEGATUM INSTITUTE, so belegt die Ukraine aufs Ganze gesehen Platz 78 von 167 berücksichtigten Ländern. Vor ihr liegen Länder wie Kolumbien oder die Dominikanische Republik, Kasachstan, Russland, Peru oder Jamaika. In den Einzelbereichen Gesundheit und Umwelt belegt die Ukraine nur Rang 104 bzw. 106. Bereits diese an sich wenig informativen Positionierungen der Ukraine demonstrieren, dass das Land Wirtschaftshilfe zur Erhöhung der allgemeinen Lebensqualität benötigt: Mittel zum Erhalt, Aufbau und Ausbau seiner natürlichen Lebensbedingungen, sozialen und medizinischen Infrastruktur. – Und keine Waffen, deren Anwendung gegen einen übermächtigen Gegner die Zerstörung seiner Infrastruktur und das Ausbluten seiner Bevölkerung immer weiter in die Zukunft fortschreibt.

Für viele Menschen in der Ukraine geht es um Leben und Tod. Zugleich gibt es Instanzen, die mit ihrem weltpolitischen Gewicht zumindest einen Anlauf unternehmen können, die Notlage zu überwinden. Wie kann dies vonstatten gehen, und welche Instanzen sind hier angesprochen? Beginnen könnte ein solcher Versuch als europäische Initiative, ausgehend etwa von E. Macron und O. Scholz. Eine solche Initiative könnte die USA überzeugen (sofern diese moralisch ansprechbar sind), dass es im Interesse der Ukrainer und des Weltfriedens liegt, wenn die USA/Nato ihre stets verkündete Verhandlungsbereitschaft aktivieren und Russland vertraglich zusichern, dass die Ukraine künftig kein Mitglied der Nato werden wird. Manche werden dies als einen „Gesichtsverlust“ werten. Aber kommt es jetzt darauf an?

An dieser Stelle taucht der Einwand auf: Was aber wenn die Ukraine nun einmal Nato-Mitglied werden möchte!? Hierzu wäre zu sagen, dass es für Wünsche nach Mitgliedschaft keinen Automatismus gibt. Mitgliedschaften sollten immer voraussetzungsvoll sein. Vor diesem Hintergrund könnte der deutsche Bundeskanzler nach Konsultation mit dem Bundestag der Ukraine ein Gegenangebot machen: Für ihren Verzicht auf ihr Streben, Nato-Mitglied zu werden, erhält die Ukraine großzügige Wirtschaftshilfe. Das Geld ist ja da! Es muss nur umgewidmet werden. Viel Geld ist da: 100 Milliarden Euro. Statt dieses Geld in die künftige Vernichtung von Existenzen zu investieren, sollte die Bundesregierung die Summe unter Auflagen der Ukraine für einen Verzicht auf die Nato-Mitgliedschaft zukommen lassen. Davon würde die Ukraine, mit ihren vergleichsweise schlechten Wirtschaftsdaten stark profitieren. Dass gewisse Auflagen unverzichtbar wären, erhellt, wenn man sich etwa die Länderwertung für den Aspekt Rechtstaatlichkeit ansieht: Hier belegt die Ukraine Rang 139 von 192 aufgeführten Ländern. Sie liegt hinter Ländern wie Bangladesch, Gabun, Lesotho oder Palästina; die Türkei liegt hier auf Platz 113. Im Korruptionswahrnehmungsindex liegt die Ukraine mit Rang 120 zwischen Swasiland und dem Niger (die Türkei auf Rang 90). Vor dem Hintergrund dieser Kennziffern stellt sich durchaus die Frage, warum EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen aktuell für einen EU-Beitritt der Ukraine plädiert, während man der Türkei – bei EU-konformeren Kennziffern – offenbar bis auf Weiteres nur die Rolle des ewigen Kandidaten zugesteht: „Unter den derzeitigen Beitrittskandidaten ist die Türkei das Land, das sich schon am längsten um eine Mitgliedschaft in der EU bemüht.“ Dass bereits eine weder durch Diplomatie noch Dialog abgesicherte EU-Mitgliedschaft gefährlich für den Weltfrieden ist, erhellt etwa aus den Worten von Z. Brzezinski, eines „Chef“-Strategen langfristiger US-Außenpolitik, für den es einen Automatismus dahingehend gibt, das aus Beitrittsverhandlungen in die EU auch ein Schutz durch die Nato folgt (Brzezinski, The Grand Chessboard).

Selbstverständlich weiß die Bundesregierung um die simple Alternative, die darin besteht, der Ukraine üppige Wirtschaftshilfe zukommen zu lassen, statt ihr – einem morbiden Heroismus huldigend – Waffen zu liefern. Dies ist problematisch. Denn handlungstheoretisch betrachtet sind zahlreiche Unterlassungen als Handlungen zu werten. Unterlasse ich es, notleidenden Personen zu helfen, obwohl ich dies leicht tun könnte, so kommt dies einer schlechten Tat gleich. Indem die Bundesregierung es unterlässt, zumindest erhebliche Teile des Sonderpostens von 100 Milliarden Todes-Euro lebensdienlich für die Ukraine umzuwidmen, handelt sie im Geiste der Logik von Tod und Vernichtung.

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Über Karim Akerma 75 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).