Erinnerungen an Ehrhard Göhl

berlin mauer grenzen deutsche einheit mauerfall, Quelle: Sarah_Loetscher, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig https://pixabay.com/de/photos/berlin-mauer-grenzen-2188605/
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Im Herbst 1975 hielt ich in Darmstadt einen Vortrag über meine Haftjahre im Zuchthaus Waldheim. Als es zur Diskussion kam, stand ein älterer Kommunist im Publikum auf und fragte mich, ob mir denn nicht bewusst gewesen wäre, gegen DDR-Gesetze verstoßen zu haben. Ich antworte, das wäre richtig, aber wenn man demokratisch erzogen wäre wie ich und über ein Gerechtigkeitsempfinden verfügte wie ich, müsste man gegen diese Gesetze verstoßen. Dann zog ich das Strafrechtsergänzungsgesetz, das am 11. Dezember 1957 von der „Volkskammer“ verabschiedet worden war, aus der Tasche und erläuterte an mehreren Paragrafen, dass die DDR kein „fortschrittlicher“ Staat wäre, wie immer behauptet, sondern ein „reaktionärer“. Denn in diesem Staat, der sich nie freien Wahlen hätte stellen müssen, wäre alles, war Bürgertum und Arbeiterklasse im 19./20. Jahrhundert erkämpft hätten, abgeschafft worden: Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit, Streikrecht. Der Kommunist stand wortlos auf und ging, Ehrhard Göhl kam strahlend auf mich zu und gratulierte mir.

Nach dem Mauerfall 1989 war Ehrhard Göhl damit beschäftigt, das Zuchthaus Cottbus zu einer Gedenkstätte umzugestalten. Die Lokomotive des „Grotewohl-Express“ hatte er schon ausfindig gemacht und im Zuchthaushof aufstellen lassen. Um 1995 besuchte er mich und den Schriftsteller Erich Loest (1926-2013), mit dem er in Bautzen II. gesessen hatte, in Bonn. Er erzählte, er hätte in Berlin zu tun gehabt und wollte nach Cottbus fahren, hätte aber vergessen, sich dort ein Hotelzimmer zu bestellen. Es war schon nach Mitternacht, als er auf der Autobahn nach Cottbus fuhr und ihm einfiel, dass er ja die Zuchthauschlüssel in der Tasche hatte. Also übernachtete er in einer Zelle und ging am nächsten Morgen fröhlich frühstücken. Als er das in Häftlingskreisen weitererzählte, kamen einige Mithäftlinge zu ihm und fragen, ob sie nicht auch einmal in ihrer alten Zelle übernachten dürften. „Seid ihr wahnsinnig?“, herrschte er sie an: „Ihr wisst doch gar nicht, wie eure Psyche darauf reagiert. Ihr wacht dann in der Nacht auf, seht das Gitterfenster und greift zum Strick!“  Da nahmen sie Abstand davon.

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Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.