Hans-Martin Esser triftt Norbert Bolz zum Interview: „Die Frankfurter Schule hat sich aber nicht nur als Geisterfahrer in die Ökonomie eingemischt, auch das, was sie philosophisch betrieben haben, schreit zum Himmel.“

Mikro auf Parteitag, Foto: Stefan Groß

„Die Frankfurter Schule hat sich aber nicht nur als Geisterfahrer in die Ökonomie eingemischt, auch das, was sie philosophisch betrieben haben, schreit zum Himmel.“

Sehr geehrter Herr Professor Bolz, in einem Interview mit der Zeitschrift Cicero bezeichneten Sie die Universität als Ort der Resignation. Warum und inwieweit?

Das hat natürlich für unterschiedliche Beteiligte unterschiedliche Gründe. Um mal mit den Studenten zu beginnen: sie treffen zunehmend auf verschulte Universitäten. Das ist natürlich für die mittelmäßigen oder schlechten ein Glück, dass sie im Grunde fortgesetzt in die Schule gehen können. Es ist aber für alle diejenigen, die das Abitur gemacht haben, um richtig zu lernen und zu studieren, eine große Enttäuschung. Man studiert nur noch auf Scheine hin, auf Klausuren hin. Früher hat man gesagt, dass man keinen Bildungsstoff lernt, sondern den Lehrer. Leider Gottes gilt das auch jetzt für die Universitäten. So versucht man, möglichst schnell an die Scheine zu kommen.

Für die wirklich begabten Studenten ist das natürlich eine Tristesse. Unter „Bologna“ wird das diskutiert, wobei das zumindest für die Geisteswissenschaften eine einzige Katastrophe ist. Für die Professoren sieht die Sache ähnlich aus, allerdings aus einer anderen Perspektive. Die meisten Professoren leiden unter dem Desinteresse und der Apathie der Studenten, die sehr begründet ist. Die Schuld liegt einzig und allein an diesem absurden Konzept der Standardisierung aller möglichen Studiengänge. Das führt zum Beispiel dazu, dass Sie in vielen Studiengängen, wie auch in meinem, Ihre Vorlesungen gar nicht mehr frei variieren können, sondern dass Sie Module konstant anbieten müssen, so dass ich, was früher für mich selbstverständlich war, nämlich in jedem Semester etwas vollkommen anderes zu machen, und die Studenten an meinen eigenen Forschungen zu beteiligen, nicht mehr möglich ist.

Jetzt gibt es einen Oberstandard, der Bologna heißt, so dass die TU Berlin oder die FU oder HU gar nicht mehr als eigener Standard gelten oder auf Ebene der Professoren: Bolz oder Habermas stehen ja auch für Standards. Also muss sich der Standard des Forschers dem übergeordneten Bologna Standard beugen.

So ist es. Genau. Sie müssen im Grunde Schablonen ausfüllen und Module, und das muss in einem großflächigen Netzwerk miteinander verzahnt werden, passgenau ineinandergefügt werden, so dass gar nicht mehr das passieren kann, was früher die Faszination Universität ausgemacht hat, dass man nämlich nicht einen Lehrplan abgearbeitet hat, sondern dass man fasziniert war von Angeboten und Personen. Meine eigene Erfahrung ist die, dass man nur gelernt hat, wenn man von einer Lehrperson fasziniert war. So etwas kann heute so gut wie gar nicht mehr auftauchen, weil sie Dinge studieren, zu denen Sie keine Lust haben, nur um die entsprechenden Modulabschnitte abhaken zu können, so dass, was George Steiner mit einem wunderbaren Anachronismus mal das Lehrer-Schüler-Verhältnis genannt hat, gar nicht mehr auftauchen kann. Wie gesagt, das ist für beide Seiten eine gigantische Enttäuschung, eine riesengroße Frustration. Profitieren davon können nur die Mittelmäßigen und Dummen, das gilt auch für beide Seiten. Auch Professoren profitieren davon, nämlich die, die eigentlich nur Lehrer sind. Alle Leute, die wirklich etwas auf dem Kasten haben, wenden sich zunehmend von dieser Institution ab, sind insofern Privatgelehrte in einem nichthumboldt´schen Sinne, machen also das, was sie wirklich interessiert parallel zu dem, was sie in der Uni machen, wenn früher das Faszinosum das war: man hatte große eigene Forschungsthemen und hat die in die Lehre hineingebracht.

Es kann jetzt das Paradoxe passieren, wie ich es auch aus eigener Anschauung kenne. An der Uni Siegen hat eine Kollegin vom DLF studiert und dort die Texte von Norbert Bolz kennengelernt, weil der dortige Lehrstuhlinhaber ein Bolzianer war. Nun waren Sie selbst nie an der Uni Siegen. Um also Bolz richtig zu studieren, muss man an der Uni Siegen einen Studiengang wählen, weil Bolz in Berlin durch Bologna gezwungen ist, Module abzuarbeiten, statt seine Forschungsergebnisse zu unterrichten. Dann ist es also wie in der Anekdote, dass Charlie Chaplin in einem Charlie-Chaplin-Ähnlichkeitswettbewerb selbst nur Dritter wurde….

Bolz lacht

Meine Beobachtung, was die akademische Philosophie in Deutschland heutzutage angeht, ist die, dass es eigentlich eine Philosophiegeschichte ist. So hat mir ein Lehrstuhlinhaber für Philosophie einer bekannten deutschen Fakultät gesagt, dass man ihn selbst in 50 Jahren eh vergessen haben werde und das, was er schreibe, nur von Kollegen gelesen werde. Ernüchternd. Er ist übrigens ein renommierter Kant-Experte. Er ist insofern einer von vielen Denkmalpflegern von Kant. In der DGPhil (Anm.: Deutsche Gesellschaft für Philosophie) war ein ehemaliger Vorsitzender der große Hegel-Experte. Der Mut, etwas Eigenes zu produzieren, scheint hingegen zu fehlen. Ist das institutionell bedingt?

Ich kann es zunächst auch einmal konstatieren, wie Sie es in Ihrer Frage tun und habe dafür ein wunderbares Beispiel: eine meiner Töchter, die auch Philosophie studiert, leichtsinnigerweise. Ich habe sie nicht abgehalten davon, während meine anderen Kinder ganz vernünftige Fächer studieren.

Vernünftig in dem Sinne, dass diese Fächer so hart geklopft und klassisch sind, dass man nicht viel kaputtmachen kann – wie Jura oder BWL. Was ist aber bei der Philosophie passiert? Ich hatte damals den Faden verloren der deutschen Philosophie, weil ich in den Medienwissenschaften und der Kommunikationstheorie eine ganze Weile folgte, und Philosophie nebenbei weiterführte, privatim. Mir war also gar nicht klar, wie das Niveau der deutschen Philosophie im Moment ist. Nun wollte meine Tochter in Berlin oder Umgebung Philosophie studieren, und wir hatten uns diese gigantische Palette durchgeschaut: Humboldt-Uni, Freie Universität, Technische Universität und Uni Potsdam ja auch noch. Ich habe von diesen Leuten noch nie irgendetwas gehört. Es sind unendlich viele Stellen und Namen. Jetzt sagt es nichts aus, wenn ich allein diese Leute nicht kenne, aber es kann auch nicht ganz zufällig sein. Dann haben wir die Themen durchgeschaut. Wir sind aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. Da haben Sie noch positive Erfahrungen, wenn Sie sagen, dass es da Kant-Experten gibt. Es wurde weder Hegel noch Kant, schon gar nicht Heidegger, angeboten. Stattdessen Tierethik. Bis heute habe ich gegenüber meiner Tochter ein schlechtes Gewissen, weil ich sie da nicht gewarnt habe. Ich habe mir das gar nicht vorstellen können. Als ich noch an der FU Assistent war, gab es noch gigantische Kämpfe um die Philosophie – bis hin zu Handgreiflichkeiten. Aber da war noch Leben drin. Da gab es noch große Figuren. Mein Eindruck von außen ist, dass der Habermasianismus viel plattgemacht hat. Auch dazu eine kurze Anekdote: zu meiner Assistentenzeit hatte ich das Glück, an die maison de sciences de l homme zu kommen. Da hatte ich ein paar deutsche Stipendiaten getroffen. Die hatten damals erst so etwas wie Benjamin und Neomarxismus gemacht, im dritten Jahr sagte mir dann einer, dass sie eingesehen hätten, sie müssten jetzt auch alle Habermas machen. Das heißt also: wenn Du Karriere machen willst, musst Du da hinein. Das ist für die Philosophie verheerend gewesen, dass sie eben gewisse Re-Education-Kurven nehmen musste, um Karrieren anbieten zu können. Viele Dinge nicht zu tun, so wie mir Apel mal in einer Radiodiskussion sagte: „Nietzsche ist schon toll, aber nur für Leute wie mich – ich kann das verkraften. Aber für Sie ist das gar nichts.“. So würden viele auch sagen, dass Heidegger großartig ist, aber eben nur für reife Professoren. Am Ende bleiben also nur analytische Philosophie und Habermas übrig und durch Habermas hindurchgelesene Autoren wie Kant. Das hat zu einer ungeheuren Sterilisierung des Geistes geführt hat, so dass Leute, die schon vor 10 oder 15 Jahren dieses Studium begonnen hatten, gemerkt haben, dass man in diese Kurve einbiegen muss, um eine Chance zu haben. Du kannst nicht einfach freigeistig versuchen, Dich zu orientieren.

Die großen Debattenrunden wie man das vom Rededuell Wittgenstein gegen Popper kennt, gibt es also nicht mehr. Der Legende gemäß habe ja Wittgenstein sogar den Feuerhaken in die Hand genommen, um mit ihm gegen Popper wie mit einem Schwert zu gestikulieren. Solche Leidenschaft mit heißen Eisen in Form von Feuerhaken gibt es also nicht mehr. Solche heiße Eisen nimmt heute also keiner mehr in die Hand, weil man sich daran verbrennen kann. Andere Frage: als Ökonom kenne ich institutionelle Arrangements. Ziel eines institutionellen Arrangements für den Studiengang Philosophie sollte ja sein, möglichst hoch anspruchsvolle freie Lehre und Forschung zu ermöglichen. Ist es ein institutioneller Webfehler der Philosophie, dass sie am Ende nur Beamte ausbildet. Das gibt es ja kaum in Fächern wie Jura, Wirtschaft, Physik usw. Dort gibt es als Berufsziele viele Möglichkeiten – von freier Wirtschaft bis Bundeskanzler. Hingegen kann ein Philosophie-Student vor allem zweierlei werden: Lehrer oder Hochschullehrer – auf jeden Fall Beamter. 

Ein leider verstorbener Freund von mir, Friedrich Kittler, hat mal einen Aufsatz geschrieben: „Das Subjekt als Beamter“. Er hat das Thema ähnlich wie Sie aufgespießt. Ich meine, das Subjekt als Beamter muss noch keine Kapitulationserklärung sein, es ist aber so, dass der Beamte eben nicht mehr die Kant´sche Freiheit hat, gleichzeitig als Gelehrter in die Öffentlichkeit zu gehen, nachdem er seine braven Stunden hinter sich gebracht hat, sondern dass er, gerade wenn er in die Öffentlichkeit geht, unter den Druck der political correctness kommt. Und das ist gerade bei der Philosophie ein ernstes Problem, aber bei Gesellschaftswissenschaften auch. Das ist eine neue Qualität. Es gab noch nie so viel geistige Unfreiheit nach dem 2.Weltkrieg wie heute. Das spüren die jungen Leute, die Karriere machen müssen, um zu überleben. Die Stromlinienförmigkeit wird durch Selbstzensur sehr, sehr früh erzeugt. Es ist ja schon in der Schule so, dass die intelligenten Kinder in Fächern wie Politik, Philosophie oder Gemeinschaftskunde spüren, was der Lehrer gerne hören möchte. Es ist ja nicht so, dass man offen diskutieren könnte.

Aus meiner Schulzeit kenne ich das. Mein Philosophie Lehrer gab mir, als wir in einer Diskussion uneins waren, fortan schlechte Noten. Unabhängig von dem Beispiel hat man manchmal den Eindruck, dass einige Lehrer gern Uniprofessoren und Autoren bedeutender Werke geworden wären. Den Frust, dass es dazu nicht kam, können sie dann an Schülern auslassen.

Es ist wie in den Talkshows, wo die Moderatorin vorher sagt: „Fallen Sie sich ruhig gegenseitig ins Wort, streiten Sie. Widersprechen Sie einander.“.Wenn man das auch nur einmal macht, kommt man nicht mehr zu Wort. Und das ist etwas, was man sehr früh lernt, dass abweichende Meinungen und abweichende philosophische Orientierungen auch sanktioniert werden. Und ich denke, dieses Klima ist Gift für hochgeistige Studien. Es ist weniger schlimm für jemanden, der BWL oder Jura macht, obwohl es auch da schon hineinkriecht. Auch im Geschichtsstudium ist es so. Oder was ich im Bereich klassischer Archäologie mitbekommen habe, ist unvorstellbar. Dass man als Grundbedingung, um da mitzumachen, Antikolonialismus drauf haben muss, solche Thesen wie „Rom war gar nicht so wichtig in der Antike“. Dinge, die so zum Himmel schreien, werden da propagiert. Das muss man aber nachbeten, um überhaupt eine Assistentenstelle zu bekommen. Das spürt ein intelligenter junger Mensch sofort. Es stellt sich dann die Frage, ob man da dann überhaupt mitmachen soll.

Man lernt ja von Vorbildern. So wird heute gemäß Zeitgeist gern hineingelesen in die Archäologie, dass die Perser extrem tolerant waren, weil man es gern hineinlesen will, so sieht es die Kulturstaatsministerin Grütters. Vor 40 Jahren wollte man unter Margot Honecker den Klassenkampf hineinlesen, vor 80 Jahren etwas ganz anderes und heute bemüht man also archäologische Funde als Beleg für das Trendthema Toleranz.

Das ist ja das Grundproblem der Bildungspolitik, dass sie jetzt gemacht wird. Früher wurde sie nicht gemacht. Man hat sich nicht für Unis und Schulen interessiert. Das war „Gedöns“, und das war ein Segen. Also, Helmut Kohl hat sich nie für Universitäten interessiert, und damals war die Welt noch in Ordnung. Während heute Leute, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben, denken Sie an Frau Schavan, eine einzige Katastrophe, sich da einmischen. Die hat dann aber sinngemäß gesagt: „Ihr seid die ewig Gestrigen, wir aber gehen mit Bologna in die Zukunft“. Die Leute, die von der Sache keine Ahnung haben, dürfen aufgrund ihrer Macht alles steuern. Das ist das Problem, nämlich die Politisierung aller möglichen Bildungsprozesse. Das hat es so früher auch nicht gegeben. Die Re-Education, damals nach dem zweiten Weltkrieg, war insofern noch harmlos, weil man sie mit großer Distanz betrachtet hat. Jetzt aber wird es von der Kita bis zur Uni durchgezogen. Kriterien werden vorgegeben. Politiker haben ganz andere Schwerpunkte und von der Sache hier keine Ahnung. Das ist auch ein neues Problem.

Sloterdijk und Blumenberg sowie ohnehin Luhmann hoben Sie hervor. Warum entstehen gerade in den Nachbarwissenschaften wie Soziologie und bei Essayisten die Dinge, die eigentlich Teil der Philosophie sein sollten, warum kommt das nicht mehr von der akademischen Philosophie?

Ich lasse jetzt mal Sloterdijk weg, weil ich ihn zwar seit vielen Jahren kenne und schätze, aber weniger als Autor seiner Schriften beurteilen kann, vielmehr als geistesgegenwärtige Gegengestalt zum Habermasianismus liebe. Als solchen liebe und mag ihn, bin aber ein schlechter Sloterdijk-Leser, kann Ihnen da schlecht etwas über sein Werk sagen. Er ist für mich ein Typus, ein unendlich wichtiger. Aber die anderen beiden, Blumenberg und Luhmann, sind für mich die Haltepunkte aus eben genau diesem Grund, weil sie mit dem Betrieb nicht mitgemacht haben, sie sind ja keine Quereinsteiger. Also, Blumenberg war berühmt dafür, dass er nie an irgendwelchen Gremien teilgenommen hat, er ist auch nicht mehr zu Kongressen gefahren. Und Luhmann ist ja berühmt geworden für den Satz: „30 Jahre, Theorie der Gesellschaft, Kosten: keine.“. Nach dem Motto: ich mache das alles allein. DAS ist es, das ist es. Eine Philosophie, die kein Ein-Mann-Unternehmen ist, ist ein Witz. Wenn man Philosophie aus Kongressen herausholen will oder „in Zusammenarbeit mit…“ , nach dem Motto: „Ich hätte mein Werk nicht schreiben können ohne meinen Dackel, mit dem ich jeden Morgen eine Stunde spazieren gehe.“ Wenn schon jemand so etwas schreibt… Oder die Widmung: „Ich hätte das Buch nicht ohne meine Frau, meine Assistenten und Studenten schreiben können.“ Dieses Geheuchel und Salbadern lenkt im Grunde ab von der einzigen Wirklichkeit der Philosophie, nämlich: „Du allein – und sonst gar nichts.“

In meinem Essay (Anm.: Die große Klammer – eine Theorie der Normalität, Kadmos) griff ich in einem Fall auf den Philosophen Thomas Kuhn zurück. Hier geht es in einem Absatz darum, was ich Paradigmatiker nenne: wer ist der neue Platzhirsch, wer ist derjenige, der das Flussbett der Normalität ändert. Auf den Kongressen trifft sich gemäß Kuhn dann die Meute der Normalforscher, der Sherpas, um zu beratschlagen, wem man denn jetzt folge. Diese Meute hat natürlich auch kein Interesse daran, dass sich die Dinge zu schnell ändern, denn dann verlieren sie als Mittelbegabte zu schnell den Überblick. Auf Kongressen kann man dem neuen Gedanken sozusagen die Luft entziehen. Die Normalwissenschaftler tragen den Dolch im Gewande, um den Voranschreitenden abzuwürgen.

Das ist eine alte Geschichte. Bei Max Weber kann man das wunderbar lesen in Wissenschaft als Beruf. Das gehört ja schon zur Rekrutierung der Wissenschaftler, dass es eigentlich erstaunlich ist, wenn es noch so viel Intelligenz an Universitäten gibt angesichts der Kooptation von Mittelmäßigkeit. Das weiß jeder, der mal in der Berufungskommission war, dass überhaupt kein Interesse daran besteht, den Besten oder die Beste zu finden, sondern nur, dass man nicht gestört werden will und schon gar keine Außenseiter oder Leute, die leuchten.

Kürzlich wurden die Oscars verliehen. Ähnlich ist es auch auf der Berlinale gewesen: alle möglichen diskriminierten Gruppen sind berücksichtigt worden. Am Ende war gar nicht klar, wer gewonnen hat, im nächsten Jahr erst recht. Die ganz Großen bekommen oft gar keinen Oscar. Hitchcock hat ja auch nie einen Oscar bekommen…

Mein Beispiel ist da Philip Roth. Es zeigt seine Größe, dass er nie den Literatur-Nobelpreis bekommen hat, weil das nur eine Witzveranstaltung ist, genau wie der Friedensnobelpreis. Man weiß nicht, was peinlicher ist. Die überbieten sich an Peinlichkeit. Das an sich abprallen zu lassen und das mit Eigensinn, das zeigt Größe. Alexander Kluge hat mal ein sehr schönes Buch geschrieben mit Oskar Negt „Geschichte und Eigensinn“. Eigensinn ist die wesentliche philosophische Kraft und natürlich Mut, von dem Kant spricht. Das sind Eigenschaften, die man schlecht schulen kann. Es gibt keinen Kurs für Eigensinn und Mut. Entweder hat man ihn oder nicht. Und wenn man ihn hat, ist man ein Außenseiter.

„Sei mal spontan“ ist ja auch so eine Unmöglichkeit. Der Privatgelehrte, den Sie erwähnten, ist ja ein Ideal. Könnte man diesen, die auf Gelderwerb nicht angewiesen sind, außerhalb der universitären Beamtenlaufbahn, nicht da etwas bieten: freie Netzwerke von Privatgelehrten, die über finanzielle Erwägungen erhaben sind.

Das ist ja die klassische Voraussetzung: Humboldt ist ja von einer Uni ausgegangen, an der nur Privatgelehrte unterrichten. Er setzte ganz selbstverständlich voraus, dass es genug Leute gibt, die es nicht nötig haben, über Philosophie Geld zu verdienen. Das ist ja etwas, das man heute schlecht umsetzen kann. Ich selbst dürfte das nicht propagieren, da ich selbst von meinem ersten Atemzug an darauf angewiesen war, dass Geld fließt, dass eben nicht etwas da war, worauf ich mich hätte zurückziehen können. Und es geht ja wohl den meisten Leuten so. Auf diese Humboldt´schen Ideen wird man nicht zurückgreifen können, aber es gibt natürlich Idealbedingungen für Philosophie: Privatgelehrtentum wäre so eine Idee. Alter ist eine wunderbare Option. Ich bin ja jetzt pensioniert worden. Da gibt es die Möglichkeit, sich mal mutig zu zeigen, man kann nicht mehr so viel verlieren. Letztlich sind diese Qualitäten wie Eigensinn auch abhängig von Reifungsprozessen. Nicht immer führt Reifen zu Konformismus oder Karrierismus, manchmal findet man auch einen Wert, der einem wertvoller ist. Ich wage es kaum zu sagen, aber die Wahrheit ist ein Wert, der mir wertvoller ist als die Karriere. Wenn man einmal das Gefühl gehabt hat, dass man die Welt besser als vorher versteht, dann ist das etwas. Manchmal liest man ja einen theoretischen Entwurf von einem großartigen Autor, und man sagt sich dann: „Wow, jetzt kapier ich es.“ . Wenn man so ein Erlebnis mal gehabt hat, dann kriegt man vielleicht Geschmack an der Wahrheit, und es entwickelt eine Eigendynamik. Das kann man nur hoffen. Es passiert sehr selten.

Etwas Ähnliches sagte mir Harald Martenstein. Er hatte sich bis zum 50.Geburtstag eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit aufgebaut. Ich fragte ihn, wenn er tauschen könnte, noch einmal jung zu sein, ob er das dann wolle, woraufhin er sagte, er wolle nicht noch einmal so dumm sein wie mit 25. Den Körper des 25jährigen mit dem Geist des 65jährigen, das gefiele ihm schon eher.

Das ist leider Gottes niemandem gegeben. Es wäre auf der anderen Seite schlimm, wenn man mit 20 schon diese geistige Reife hätte, denn dann wäre man altklug. Nichts ist schlimmer als ein altkluger Jugendlicher.

Die werden aber heutzutage gern auf Weltwirtschaftsforen eingeladen.

Es muss auch diese jugendliche Verrücktheit geben. Das Wort, dass man mit einem gewissen Alter Anarchist sein sollte, aber bitte nicht mehr mit 50, da ist etwas dran. Es gibt diese Wendung ins Konservative, und es ist eine Wendung ins Realistische, ins Vernünftige. Karl Heinz Bohrer, den ich wirklich liebe, hat mal für einen Band, den ich herausgegeben habe (Anm.: Wer hat Angst vor der Philosophie?), einen Aufsatz editiert mit dem Titel: „Nur die Jugend hat Genie“. Ich habe sehr lange gebraucht, um zu begreifen, dass er recht hatte. Neben diesen Verrücktheiten gibt es dieses genialische Moment, das einen neuen Funken bringt. Ich würde nicht für uns Alte, also meinesgleichen, reklamieren, den genialen Gedanken. Ich glaube, es ist irgendwie mit Jugend korreliert, auch wenn es mit der Verpuppung der Verrücktheit und Überdrehtheit verbunden bleibt. Aber nichts ist schlimmer als alte Leute mit dem Feuerkopf oder junge Leute, die altklug sind. Insofern bin ich für die Reifungsprozesse.

Das Problem ist also, das von Ihnen Gesagte zusammenfassend, dass die jungen Genies heute im Philosophiestudium durch den Habermas-Schredder praktisch püriert werden.

Wunderbar. Wenn Sie erlauben, klaue ich den Begriff für eigene Überlegungen. Genau so funktioniert es mit dem Habermas-Schredder.

Die Frankfurter Schule um Adorno, Marcuse, Horkheimer und Habermas waren Kulturphilosophen, die sich ohne Ahnung in die Ökonomie eingemischt hatten, was ich als Ökonom so beurteile. Ich wiederum als Ökonom mache es umgekehrt: ahnungslos von Philosophie aus der Wirtschaftswissenschaft in die Kulturphilosophie zu stolpern mit meinem Essay, sozusagen als Geisterfahrer, das ist der Ansatz. Wenn das eine Erfolg hat, warum nicht das andere?

Die Frankfurter Schule hat sich aber nicht nur als Geisterfahrer in die Ökonomie eingemischt, auch das, was sie philosophisch betrieben haben, schreit zum Himmel. Ich war nämlich ein rückhaltloser Adorno-Anhänger. Von ihm habe ich mich überhaupt nur lösen können, weil danach Benjamin folgte. Einen großen Teil meiner intellektuellen Ausbildung bin ich sozusagen Geisterfahrern gefolgt. Es ist unglaublich, wenn ich überlege, dass es nicht nur mein geistiges Schicksal war. Es ist verrückt, was aus einigen Nachkriegsgenerationen geworden ist. Das heißt nicht, dass sie dumm sind. Sie sind aber intellektuell in einer unheilvollen Weise konditioniert worden, so dass man Jahre und Jahrzehnte benötigt, um aus diesem Kokon oder dieser Echokammer, wie man heute sagt, herauszukommen.

Einer meiner Onkel sagte mir, ich solle bloß nicht in die Politik gehen, weil man am Ende gar nicht mehr wisse, warum man am Anfang hineingegangen sei. Vielleicht ist es bei Philosophie-Studenten ähnlich. Sie durchlaufen den Schredder, werden ausgelaugt, gebrochen, der Illusionen und der eigenen Denkfähigkeiten beraubt, so dass sie am Ende gar nicht mehr wissen, was sie anfangs am Fach faszinierte.

Ganz genau.

Ab wann müssen sich Doktoranden lösen? Ab wann sollte sich ein junger Wissenschaftler emanzipieren, auch wenn er Thesen bringt, die Ihnen gar nicht passen?

Die Doktorarbeit ist genau die wichtigste Schrift, sie ist wichtiger als die Habilitationsschrift, und auch die schwierigste, weil sie zweierlei leisten muss: man muss beweisen, dass man auf höchstem akademischen Niveau argumentieren kann, aber es muss auch die erste Arbeit sein, in der man eigene Gedanken entwickelt, während alles vorher Lehrlingsleistungen sind. Meine ist völlig missglückt, weil ich zu sehr meinte, rauskommen zu können und nicht Rücksicht nehmen zu müssen auf die akademischen Standards. Die Dissertation soll einen ja freisetzen, so nach dem Motto – jetzt beginnt Dein Leben als Gelehrter. Insofern wäre es der Augenblick, in dem man sich von all seinen Lehrern ablöst. Es kann ja immer noch ein pietätvolles Verhältnis sein, es muss nicht die Ablösung durch Vatermord sein. Das hielte ich für übertrieben, obwohl es geschickt ist, wenn man den Vater ermordet, weil man sonst zu sehr verführt ist, in der Spur zu bleiben. Ich habe es etwas anders gemacht, falls es mir denn überhaupt gelungen war. Ich war so verblendet, dass ich gar nicht auf den Gedanken gekommen bin, meinen großartigen Chef überhaupt zu studieren. Das war nämlich der Philosoph und Judaist Taubes. Ich habe ein wunderbares Leben gehabt, wäre aber nie auf die Idee gekommen, zu gucken, was er da überhaupt treibt. Die Distanz war sachlich durch Ignoranz gegeben. Ich wusste einfach nicht, was er macht. Erst als er starb, bekam ich Neugier. Natürlich wusste ich, dass er weltberühmt war, aber ich hatte so meine eigenen Sachen. Kurzum. Ich hätte im Nachhinein unendlich viel von ihm lernen können, wenn ich die Ohren aufgemacht hätte. Aber das hatte dann den Vorteil, dass ich kein Taubesschüler war, obwohl ich sein Assistent war, wohingegen alle anderen in seinem Umfeld Taubes-Schüler waren. Insofern ist es mir etwas leichter gefallen, da weg zu kommen kraft meiner Ignoranz.

Gemäß William Blakes Diktum „no bird soars too high if he soars with his own wings“ (Kein Vogel schwebt zu hoch, wenn er mit seinen eigenen Flügeln schwebt) respektierte Taubes also die Eigenständigkeit seines Schülers Bolz, den dann aber auch bei Absturz die volle Verantwortung für sich selbst getroffen hätte.

Es kommt ja auf meine privaten Geschichten nicht an, es geht ums Prinzipielle. Aber Taubes mochte mich einfach, weshalb er auch jeden Mist akzeptiert hat, den ich da so trieb. Er hat auch gesagt: „Dieser Nietzscheling oder Adornit“. Es war für ihn das Letzte überhaupt. Aber er dachte sich, der ist so jung, er wird es schon noch lernen. Wir hatten auf einer persönlichen Ebene eine tolle Beziehung. Es war ihm da nicht so wichtig. Er hatte gemerkt, dass ich so modisches Zeug

machte, das bei den Studenten gut ankam. Und ich selbst war zu blöd, um zu kapieren, was er eigentlich treibt. Insofern hatten wir keine Ablösungsprobleme und auch keine Schulbildung. Insofern habe ich mir meine Meister immer indirekt gesucht. Adorno vor allen Dingen. Ich habe Jahrzehnte gebraucht, um das wieder wegzubekommen. Bei Luhmann ging es ein bisschen besser, weil ich Luhmann gebraucht habe, um zu wissen, warum Habermas nichts ist.

Es war also für Sie wie Methadon, um vom Heroin zu lassen…

Perfekt ausgedrückt. Aber bei Luhmann ist es mir – glaube ich – auch gelungen, seine Grenzen zu sehen. In einem meiner Bücher konnte ich das von vornherein formulieren. Es bleibt zum Schluss Blumenberg, wo ich von Anfang an wusste, warum das Grenzen hat. George Steiner, den ich bei einer Podiumsdiskussion mal getroffen hatte, fragte mich: „Lieber Herr Bolz, können Sie mir mal erklären, warum als berühmtester deutscher Philosoph ein Mann gilt, nämlich Blumenberg, der nur Geschichten erzählt?“. Es stimmt ja auch in einer gewissen Weise: Mythen, Geschichten, Metaphern.

Früher war es so, dass der Mensch, wenn er mit dem Sumpf in Kontakt trat, versank, heute ist es umgekehrt. So sinngemäß fällt mir da aus „Die Sorge geht über den Fluss“ ein Zitat Blumenbergs ein.

Das wusste ich vorher. Deshalb überraschte mich George Steiners Anmerkung nicht. Aber damit konnte ich unendlich viel aufsaugen, weil Luhmann und Blumenberg nicht nur aus habituellen Erwägungen nicht auf Kongresse gingen, sondern weil sie stattdessen gearbeitet haben. Das hatte zur Folge, dass beide umfassend gebildet waren. Das gibt es heute nicht mehr, dass jemand umfassend gebildet ist. Ich hatte einmal das Glück, mit Luhmann einer Radiosendung zu sitzen. Da ging es um Postmoderne und so einen Quark. Luhmann hat uns ausreden lassen. Er hat dann in seiner netten Weise danach alles richtig gestellt. Die entsprechenden philosophiehistorischen Gründe aufgezeigt, so dass ich nur noch denken konnte: `Mann, was bist Du doch für ein anmaßender Trottel, Dich hier hinzusetzen und zu meinen, Du könntest mit Luhmann diskutieren.`.

Das war der Anlass, dieses Bildungsreservoir mal anzuzapfen. Ich habe ihn darüber hinaus nie kennengelernt. Aber ich wusste, es gab mal einen Menschen, der alles drauf hatte, was man wissen muss.

Sie wirkten aus Anlass des 90. Geburtstags Luhmanns an einem Radiofeature mit. Dort sagte Luhmann in einem Archivbeitrag, dass ihn das Dasein als Verwaltungsbeamter auch deshalb genervt habe, weil er immer von seinen Vorgesetzten gedrängt wurde, zu Feuerwehrfesten zu gehen, um Karriere zu machen. Hierzu hatte er keine Lust, weil er lieber Hölderlin las, wie er sagte.

Das ist genau der Punkt. Im Grunde kann man unsere Diskussion reduzieren. Der selbstbewusste Eigensinn ist es. Den Mut musste Luhmann nicht unbedingt aufbringen, weil er in einer unglaublich intelligenten Weise für alle Nicht-Luhmannianer verschleiert hatte, was er eigentlich meinte. Es ist wirklich ein hartes Stück Brot, in die Systemtheorie hineinzukommen.

Liebe als Passion klingt ja so schön, aber wenn man es liest, ist es nüchternes Trockenfutter.

Dann denkt man sich, wann kommt denn die Liebe. Es ist aber bei allen Dingen so. Man denkt immer, es ist phantastisch. Aber alles, was ich mir darunter vorgestellt habe, was Macht und Liebe im Sinne Luhmanns sind, wie die Wirtschaft oder die Religion funktioniert. Man kann nicht sagen, dass man aus allen Wolken fiele, dazu ist Luhmann zu prosaisch und zu trocken, aber man hat jedes Mal das Gefühl, dass man überhaupt noch nichts begriffen habe. Es ist immer eine vollkommen neue Welt, obwohl es doch eigentlich um das Allerkonkreteste geht. Es ist vielleicht nicht alles, dass man nur so an die Sache herangehen kann. Luhmann hatte dabei eine intelligente Bescheidenheit, indem er sagte, man könne es auch anders machen – wie Blumenberg, Gehlen oder Lukacs, aber die Frage ist, wo ist der Bildungshintergrund. Nirgendwo ist er so groß wie bei Luhmann und bei Blumenberg. Die Leute, die sich auf sie eingelassen haben, bissen sich die Zähne aus. Bei meiner Dissertation hatte ich einen großartigen Prüfer: Wolfgang Hübener. Er hatte wahrscheinlich sogar recht, Blumenberg in seiner Interpretation von William von Ockham zu kritisieren. Das ist bestenfalls ein Biss in die Wade. Aber an das große Gemälde Legitimität der Neuzeit kam er nicht heran. Das braucht man auch. Solche überlebensgroße Figuren. Es reicht nicht, als Zwerg auf die Schulter von Riesen zu klettern. Etwas über das Paradigma hinauszukommen, reicht nicht aus. Bei Friedrich Kittler, dem einzig wirklich bedeutenden Menschen, den ich persönlich kennengelernt hatte, der also mit Luhmann und Blumenberg mithalten konnte, bei ihm war es so. Wenn ich den getroffen hatte und danach mit dem Rad nach Hause fuhr, hatte ich das Gefühl: jetzt musst Du sofort lesen, forschen und arbeiten. Ich habe ihn oft nicht verstanden, wusste oft gar nicht, worauf das hinaus soll, aber war fasziniert, wie er die Welt gedeutet hat.

Wie ein kleiner Junge, der Lionel Messi sieht und sich denkt, dass er jetzt schnell selbst vor den Ball treten muss.

Genau so ist es. Besser kann man es nicht sagen. Wenn man als kleiner Student so einen Lionel Messi nicht hat, wird es auch nichts.

Der Forscher ist also nicht allein ein trockenes Temperament. Er muss also die Begeisterung haben, um die extra Meile zu laufen, ohne die er nicht bedeutsam wird.

Jedenfalls in Philosophie. In anderen Wissenschaften kann es nicht anders sein, jedenfalls in den Geisteswissenschaften. Man muss ja auch als Germanist einen phantastischen Lehrer haben. Ich kann mich an mein Germanistik-Studium erinnern. Ein Assistent hatte mir einen Hinweis gegeben auf Georg Lukacs „Die Seele und die Formen“. Diese Lektüre war unglaublich. Buchstäblich hat man keinen Satz verstanden, aber man hat einfach gemerkt: „Wahnsinn, das ist es.“. Mit den ganzen Einführungen in die Germanistik Modellinterpretationen von Kleist hatte es nichts zu tun. Es war einfach grandios. Das hat mir mehr geholfen als jeder andere Kurs, weil ich dann das Gefühl hatte: das muss ich hinkriegen. Und wenn diese Figuren nicht da sind, läuft auch nichts.

Ich danke Ihnen für das Interview, Herr Professor Bolz.