Berliner Ordnungsruf: Europas Schicksalsjahr 2024 – Warum die Politik im neuen Jahr wieder größere Antworten geben muss

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Wir dokumentieren hier den Berliner Ordnungsruf #01/2024

„Zum Jahreswechsel geht der Blick zurück, um zu bilanzieren, was geschehen ist und erreicht werden konnte, und zugleich nach vorn, um zu erahnen, was passieren könnte und zu tun sein wird. Welche Zukunftslinien sind erkennbar, welche Bewegungsrichtungen? Gleich einem Kompass: Sind wir weiterhin auf dem richtigen Weg? Stimmt das Ziel noch? Eine Richtung wird durch zwei Punkte bestimmt: den Ausgangspunkt und das Ziel. Mit beidem tut sich die Politik schwer. Weder eine scharfe Analyse der Gegenwart noch eine überzeugende Vision der Zukunft ist zu erkennen. Die Bilanz für 2023 fällt daher bestenfalls gemischt aus. Weit gekommen sind wir nicht und das Zielbild verschwimmt zusehends. Der Ausblick auf 2024 fällt eher sorgenvoll aus. Im neuen Jahr könnte die Welt, so buchstäblich verrückt sie uns heute bereits erscheinen mag, in einen noch gänzlich anderen Zustand fallen. Für Europa wird es ein Schicksalsjahr. Wir dürfen auf das Beste hoffen, sollten aber auch auf das Schlimmste vorbereitet sein.

Was das Jahr 2023 gebracht hat – und warum es eher durchwachsen war
Politisch hat das Jahr 2023 nicht die Durchbrüche und Fortschritte gebracht, die man noch zu Beginn des Jahres für möglich hielt. Erwartungen und Hoffnungen, das wissen wir heute, haben sich nicht erfüllt. Der Krieg in der Ukraine steht mehr denn je auf der Kippe. Der Nahost-Konflikt ist auf schreckliche Weise eskaliert. Die Bundesregierung steht finanzpolitisch vor einem Scherbenhaufen, nachdem das Bundesverfassungsgericht in einem spektakulären Urteil den Haushalt für verfassungswidrig erklärte. Gutes Regieren besteht eben nicht darin, eine fortgesetzte Notlage zu erklären. Ein politisches Hoffnungszeichen war sicherlich der Wahlsieg Tusks in Polen. Die antidemokratische und illiberale Versuchung wird aber im kommenden Jahr auch in Europa stark bleiben.

Wirtschaftlich war das Jahr dagegen leicht besser als erwartet. Die Rezession ließ sich zwar nicht vermeiden, sie ist am Ende aber doch relativ milde ausgefallen. Bedenklicher ist dagegen der Blick auf das Potenzialwachstum, das Wachstum also, das eine Volkswirtschaft von ihrer Substanz her mittelfristig zulässt. Die Substanz in Deutschland bröckelt bedenklich. Infrastruktur zerfällt, Fachkräfte sind knapp, Bildung wird immer schwächer, Innovationen sind auf dem Rückzug. Kurzum: Für eine Volkswirtschaft ohne Rohstoffe und Bodenschätze ein Desaster. Die Politik und alle mit ihr haben die Aufschwungsjahre verstreichen lassen und eine lange Party mit vielen Geschenken gefeiert.

Makroökonomisch hat sich in diesem Jahr die Lage überraschenderweise entspannt. Die Inflation hat sich zurückgebildet, auch weil die Zentralbanken (endlich) ihren Job gemacht. Natürlich haben sie nicht die Angebotsschocks beseitigt, die ursächlich für die Inflation gewesen waren. Aber sie haben der fiskalpolitischen Expansion und auch den Lohnforderungen Grenzen gesetzt. Das war und bleibt wichtig, um die Inflationserwartungen wieder auf die Zielinflation von rund zwei Prozent zurückzuführen. Die Zentralbanken konnten aber auch deshalb lange auf der Bremse bleiben, weil die Zinssteigerungen zwar die Konjunktur dämpften, aber – anders als sonst – nicht den Arbeitsmarkt belasteten. Zwar haben die Zentralbanken „higher for longer“ angekündigt, also eine längere Phase höherer Zinsen, im neuen Jahr dürften aber – in den USA auch vor dem Hintergrund der anstehenden Präsidentschaftswahlen – die Zinsen wieder sinken.

Technologisch hat das Jahr 2023 den Durchbruch der Künstlichen Intelligenz gebracht – genauer: der sogenannten generativen Modelle. „ChatGPT“ war innerhalb weniger Wochen in aller Munde – und auf aller Smartphone. Ein wahrer „iPhone-Moment“: Eine neue technologische Innovation wurde plötzlich massentauglich und löste einen Hype aus. Die EU hat am Ende des Jahres eine umfassende Regulierung Künstlicher Intelligenz auf den Weg gebracht. Ob die EU damit allerdings zu einer führenden KI-Macht werden kann? Man darf es bezweifeln.

Warum die Zeitenwende einen neuen Politikansatz braucht
Die Herausforderungen sind existenziell – sie werden unsere Zukunft entscheidend und womöglich auf Jahrzehnte hinaus prägen. Putins Krieg gegen die Ukraine greift in Wahrheit die westliche Sicherheitsordnung an und mit ihr den Frieden und die Freiheit in Europa, der Klimawandel bedroht unsere Lebensgrundlagen und mit diesen den Wohlstand auch und besonders in Europa, Künstliche Intelligenz wird eine neue Epoche der Menschheit bestimmen und mit ihr Europas Souveränität im Systemwettbewerb mit den USA und China.

Die Bundesregierung hat zwar eine Zeitenwende ausgerufen, aber bislang überwiegend Krisenpolitik gemacht, mühsam und kleinteilig, ohne klare Zukunftsidee. Sie war daher auch nur bedingt in der Lage, ihre Politik zu erklären, geschweige denn, ihr eine erkennbare Richtung zu geben. Im Jahr 2024 muss sie beginnen, eine mutigere Politik zu machen, eine, die sich von den symptomatischen Krisen der Gegenwart löst und mit der strukturellen Gestaltung der Zukunft beginnt.

Die Welt ist von Instabilität und Diskontinuität gekennzeichnet. In normalen Zeiten lassen sich Entwicklungen linear fortschreiben und über stochastische Ereignisse Verteilungsannahmen treffen, ohne „große Fehler“ dabei zu machen. Diese Welt existiert nicht mehr. Gesellschaften und ihre Institutionen müssen unter einer viel größeren Varianz von Bedingungen funktionieren. Eine paradigmatisch veränderte Zukunft liefert damit eine geradezu heuristische Begründung für Ordnungspolitik: Politik muss die Zukunft wieder in langfristigen Zeithorizonten und grundlegenden Voraussetzungen denken, wieder den Mut finden, größere Antworten zu geben. Es fällt jedoch schwer, die Gegenwart loszulassen, solange die Zukunft noch keinen Halt gibt. Politik agiert im Grenzbereich („Liminalität“) zwischen einer Gegenwart, die nicht mehr, und einer Zukunft, die noch nicht funktioniert.

Derzeit am bedeutendsten sind die geopolitischen Machtverschiebungen. Eine globale Ordnung erfüllt politisch und ökonomisch zwei wichtige Funktionen: Sie externalisiert Werte, Regeln und Institutionen, so dass Koordination und Kooperation möglich werden. Und sie internalisiert Risiken und Interessenskonflikte, so dass Stabilität und Sicherheit herrschen. Mit der Durchsetzung einer „Ordnung“ verbindet sich notwendig Macht, Ordnungsmacht. Verschiebt sich Macht, gerät die Ordnung ins Wanken. Die Entstehung der neuen Ordnung hängt dann wesentlich von der Verhandlungsmacht der beteiligten Mächte ab. In einer Welt, in der nicht mehr die Stärke des Rechts, sondern das Recht des Stärkeren gilt, geht es darum, die eigene Verhandlungsposition zu stärken. Europa hat heute in wichtigen Bereichen erhebliche Defizite.

Was das Jahr 2024 bringen wird – und warum es (mal wieder) ein Schicksalsjahr wird
Das neue Jahr bringt enorme Herausforderungen mit sich. Der Krieg Russlands in der Ukraine und der Nahost-Konflikt sowie zwei wichtige Wahlen, die Europa- und die US-Wahl werden es prägen. Die Weltlage und mit ihr die Lage in Deutschland und Europa könnte sich noch einmal dramatisch verändern. Putin wird alles tun, um bis zum November des kommenden Jahres den Krieg Russlands gegen die Ukraine aufrechtzuerhalten, denn ein möglicher, ja, keineswegs unwahrscheinlicher Sieg Donald Trumps würde das Blatt womöglich entscheidend gegen die Ukraine wenden, auch wenn dies heute niemand aussprechen mag.

Die industrielle Transformation in Deutschland droht derweil zu scheitern. Die bisherigen Signale aus der Ampelkoalition, wie man mit den eingeschränkten Investitions- und Finanzierungsspielräumen umgehen will, lassen nicht unbedingt den Schluss zu, dass man konzeptionell neu über Transformation nachdenken will. Immer deutlicher wird jedoch, dass eine erfolgreiche Transformation nur über globale Vereinbarungen, private Investitionen, Technologieoffenheit und Innovationen machbar ist. Ein Umdenken ist notwendig.

Die Politik unterliegt vor dem Hintergrund der geschilderten Herausforderungen derzeit drei gravierenden Fehlschlüssen. Sie versucht erstens, den geopolitischen Spannungen und Abhängigkeiten mit industriepolitischen Autarkiebestrebungen zu begegnen – statt mit neuen Handelsabkommen und mehr Wettbewerb zu überwinden. Zweitens versucht sie, die Transformationsprozesse mit einer immer detaillierteren Regulierung zu überfrachten – statt mit Innovation und Unternehmertum zu beschleunigen. Und drittens will sie der umfassenden Unsicherheit vornehmlich mit stärkerer Umverteilung Einhalt gebieten – statt mit Bildung und Erneuerung in Resilienz umwandeln. So schützt man den Status quo, gewinnt aber keine Zukunft.

Stattdessen geht es um die gezielte Stärkung breiter gesellschaftlicher und ökonomischer Fundamente. Folgende Faktoren lassen sich identifizieren:

– Eine hohe eigene Verteidigungsfähigkeit bedeutet, nicht erpressbar zu sein, weil wesentliche hoheitliche Funktionen und kritische Infrastrukturen geschützt und verteidigt werden können. Das gilt insbesondere und zunehmend für digitale Infrastrukturen.

– Eine hohe eigene Wettbewerbsfähigkeit bedeutet, auf den Weltmärkten und in den Lieferketten eine zentrale Position einzunehmen. Das gilt insbesondere für industrielle Innovationen und Zukunftsmärkte.

– Eine hohe eigene Technologiefähigkeit bedeutet, souverän über Werte und Fortschritt zu entscheiden. Sie bestimmt zudem die Fähigkeit, globale Standards zu setzen, die wiederum entscheidend für den Handel sind.

– Ein hoher eigener Offenheitsgrad bedeutet, Allianzen und Einflusssphären bilden zu können, um darüber Sicherheit, Stabilität und Kooperation durchzusetzen. Sie setzt allerdings voraus, auch mit Ländern zusammenzuarbeiten, deren Wertvorstellungen man nicht immer vollends teilt.

– Eine hohe eigene Mündigkeit der Gesellschaft bedeutet, weniger anfällig zu sein gegenüber Desinformation und Manipulation durch die „Feinde der offenen Gesellschaft“. Sie ist zugleich die Voraussetzung für die informationelle Selbstbestimmung von Menschen und die Diskursfähigkeit in Demokratien.

Und schließlich geht es im neuen Jahr auch darum, einen Stimmungsumschwung herbeizuführen. Zukunft braucht Optimismus, damit sich die Dinge zum Positiven verändern können. Es gibt dazu, wie Karl Popper einst feststellte, keine vernünftige Alternative. Es wird damit zu einer der wichtigsten Aufgabe der Politik im neuen Jahr, die größte Stärke von Demokratie und Marktwirtschaft wiederzubeleben: den Optimismus für die Zukunft.

Prof. Dr. Henning Vöpel

Vorstand Stiftung Ordnungspolitik

Direktor Centrum für Europäische Politik

Quelle: https://www.cep.eu/de.html

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