Die Selbstzerstörung der Mitte – Warum der Verlust der Diskursfähigkeit Demokratie und Wohlstand gefährdet

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„Die großen Umbrüche der Gegenwart lösen eine Zeitenwende aus. Es ist Zeit für neue Ideen und eine progressive Ordnungspolitik: Wie können wir unsere Werte schützen und zukunftsfähige Visionen entwickeln? Und welche Rolle spielt Europa dabei?“ Wir dokumentieren hier den Brief von Henning Vöpel an die Leser vom Berliner Ordnungsruf.

Liebe Leserinnen und Leser,

so kann es nicht weitergehen. Fast jede Debatte endet in einer Sackgasse, führt nicht zu pragmatischen Lösungen, sondern direkt in ideologische Grabenkämpfe oder politische Hysterie. Das Heizungsgesetz beispielsweise war handwerklich schlecht gemacht und ist dann von der Opposition in rhetorisch durchaus fragwürdiger und destruktiver Weise zerrissen worden – ein gesellschaftlich eigentlich wichtiges Ziel ist dadurch politisch gleich doppelt diskreditiert worden. Und die sogenannte „letzte Generation“ tut dasselbe, indem sie ein Widerstandsrecht für sich beansprucht, das es in diesem Fall nicht gibt, und bringt so selbst klimaschutzwillige Menschen gegen sich auf. Anstatt also zu einem Zeitpunkt, da sich die Gesellschaft angesichts von Klimawandel, Energiewende und künstlicher Intelligenz in einem historischen Umbruch befindet, die gemeinsame Zukunft konstruktiv zu verhandeln, droht sie in der identitätspolitischen Überbetonung ihrer Unterschiede und Opferrollen in alle Richtungen und Einzelteile auseinanderzufallen. Der einzige Profiteur: die AfD.

Tiefe Krisen und grundlegende Transformationsprozesse erfordern eine – auch und gerade im Wandel – stabile Gesellschaft und stellen zugleich ihren Zusammenhalt und ihre Solidarität auf eine harte Probe. Denn wenn sich im Wortsinn Fundamentales verändert, Ordnungen zerfallen, Altes zerbricht und Neues entstehen muss, treten Unterschiede umso stärker zutage: zwischen Gewinnern und Verlierern, Privilegierten und Diskriminierten, Stärkeren und Schwächeren, Mutigen und Verzagten, Fordernden und Überforderten. Die Pandemie hat bis heute ihre Spuren hinterlassen und gezeigt, was innerhalb kürzester Zeit mit einer an sich intakten Gesellschaft passieren kann, wenn der Konsens in der Mitte der Gesellschaft zerbricht.

Stabilität entsteht immer in der Mitte, die des sozialen Friedens und des wirtschaftlichen Fortschritts wegen verstehen und befrieden will, nicht an den Rändern, die des Streites und der Aufmerksamkeit wegen missverstehen und spalten wollen. Ohne mäßigende Mitte wird Sprache maßlos, wird aus überbrückbaren inhaltlichen Differenzen unüberbrückbare gesellschaftliche Spaltung: Merz wird zum Erfüllungsgehilfen der AfD und Habeck zum Totengräber der deutschen Wirtschaft erklärt. Geht es noch? Mitte ist nur möglich durch Mäßigung, weil nur auf diese Weise dort, wo Diskurs und Kompromiss, Streit und Befriedung möglich sind, genügend Raum für die Vielen entsteht. Die Gesellschaft findet über den Diskurs zueinander und wird erst zur Gesellschaft durch die Art und Weise, wie sie den Diskurs führt. Die Diskursethik ist damit wichtiger Teil unserer Ordnung. Ohne sie gelingen weder die Demokratie noch der Rechtstaat noch die Marktwirtschaft. Die viel beschworene Krise der Demokratie erscheint aus diesem Blickwinkel auch als eine Krise des heutigen Begriffs von Gesellschaft. Eine liberale und zugleich konservative Definition von Gesellschaft gilt es zu formulieren, die die durch die Globalisierung stark ausgedehnte liberale Freiheit mit der sich auf das – durch die sozialen Medien fragmentierte – Gemeinwesen einer Gesellschaft beziehende republikanische Freiheit wieder in Einklang bringt.

Wie werden wir als Gesellschaft also wieder konstruktiv im Sinne der wirklichen Probleme? Was ist die eigentliche, die gesellschaftliche relevante Differenz? Wo liegt der Raum für politische Einigung? Und worin besteht über Differenzen in Sachfragen hinweg der common ground, auf dem wir uns bewegen, die res publica, die uns alle angeht, uns dadurch zusammenführt und zusammenhält? Ein solcher Diskurs basiert auf Annahmen, die nicht Teil des Diskurses selbst sind. Die gesellschaftliche Mitte droht sich selbst zu zerstören, indem sie ihre Diskursfähigkeit aufs Spiel setzt. Die einzige Gesinnung, die in einer liberalen und pluralistischen Ordnung Platz hat, ist die der gemeinsamen Verantwortung für einen konstruktiven Diskurs. Zehn Prämissen (und ihre Paten) für die Wiederherstellung der verloren gegangen Diskursfähigkeit und ein Plädoyer für einen verantwortungsethischen statt eines gesinnungsethischen Diskurses:

1. Zuhören und verstehen wollen (Hannah Arendt): Wir würden uns viel verzeihen müssen, sagte Jens Spahn durchaus klug in der Pandemie. Sich zu verzeihen, ist umso wichtiger in Zeiten, in denen man nicht alles wissen und vieles falsch machen kann. Man muss sich aber, um sich später verzeihen zu können, vorher zugehört haben. Ist etwa Kindern und solchen, die buchstäblich keine Stimme in der Gesellschaft haben, genügend zugehört worden? Statt wirklich zuzuhören und verstehen zu wollen, wird immer öfter mit „Whataboutism“ reagiert, mit Hinweisen auf Verfehlungen anderer, die nur als Ablenkungsmanöver und Nebelkerzen dienen. Wir brauchen kein „ja, aber“, sondern ein „ja, und“, um wieder ein Interesse aneinander zu entwickeln. Hannah Arendt sah darin und im unabhängigen, eigenständigen Denken die Bedingung für eine anti-totalitäre Gesellschaft.

2. Anerkennung unterschiedlicher Präferenzen und Lebensrealitäten (Alexis de Tocqueville): Viele Debatten werden heute maßgeblich aus und von urbanen Milieus geführt. Sie stehen für sogenannte „woke“ Positionen, die andernorts, insbesondere auf dem Land, nicht immer funktionieren. Urbane Milieus waren immer Avantgarde für gesellschaftlichen Wandel. Doch die abgehobene Verallgemeinerung von allem, was selbst für richtig befunden wird, führt zu Ignoranz gegenüber anderen Lebensrealitäten; sie ist im Grunde eine Form der Spießigkeit. Wer von „Gemeinwohl“ spricht, muss es allgemein zustimmungsfähig machen. Eine wertepluralistische, diverse und eben dadurch komplexe Gesellschaft ist nur dann auch eine gelassene und liberale, wenn es ein „Geben und Nehmen“, ein „Leben und leben Lassen“ gibt. Alexis de Tocqueville sah in der Tyrannei der Mehrheit eine Gefahr für die Demokratie, die nicht allein die Macht der Mehrheit, sondern vor allem die Achtung der Minderheit bedeutet.

3. Ein echtes Erkenntnisinteresse (Harry G. Frankfurt): Recht haben zu müssen, belehren zu wollen und Aufmerksamkeit zu fordern, sind – angetrieben von den Mechanismen der sozialen Medien – die wichtigsten Motive einer unablässig sendenden „redaktionellen Gesellschaft“ geworden. Sie werden zunehmend als öffentliche Erregungsschauspiele inszeniert, ein echtes gemeinsames Erkenntnisinteresse oder gar einen konstruktiven Lösungswillen sucht man vergeblich. Harry G. Frankfurt hat das affektierte, im Grunde ahnungslose Gerede treffend „bullshit“ genannt. In der gefährlicheren Variante des Missbrauchs wird der Diskurs populistisch. Robert Habeck hat Populismus einmal definiert als die gezielte Absicht, ein Problem zu fetischisieren, dadurch zu überhöhen und schließlich für unlösbar unter den herrschenden politischen Umständen zu erklären.

4. Die Vermutung der Fehlbarkeit (Friedrich August von Hayek): Eine Gesellschaft ist komplex. Niemand allein kennt die Lösung. Alles andere wäre eine unzulässige, letztlich totalitäre Anmaßung von Wissen. Die Möglichkeit, dass man selbst falsch liegen könne, ist daher eine essenzielle Prämisse für einen (ergebnis-) offenen und dadurch konstruktiven Diskurs. Stattdessen gewinnt man immer häufiger den Eindruck, eine moralisierende Missionierung sei der eigentliche Zweck des Diskurses. Unfehlbarkeit aber ist die Sache der Kirche oder von Ideologien.

5. Keine Toleranz der Intoleranz (Karl Popper I): Eine offene Gesellschaft ist stark und zugleich verwundbar. Ihre Stärke ist die Toleranz, ihr Feind die Intoleranz. Toleranz gegenüber Weltanschauungen ist essenziell, aber es gibt – wie Karl Popper richtig erkennt – Grenzen der Toleranz, und zwar gegenüber der Intoleranz, die Ausdruck findet in Diskriminierung und Hass. Toleranz dagegen bedeutet zugleich auch, sich selbst zu mäßigen, indem man andere und anderes akzeptiert.

6. Negative Diskursfreiheit (Ludwig Wittgenstein): Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, heißt es bei Wittgenstein – gewiss eher sprachlogisch als politisch gemeint. Man muss nicht zu allem eine Meinung haben und schon gar nicht immer äußern, wenn nicht alle Fakten und Argumente für ein Urteil zur Verfügung stehen. Die Anmaßung, sich auf der Grundlage von Moral und Haltung, nicht aber von Wissen und Argumenten zu äußern, hat stark zugenommen. Die gute Absicht allein aber reicht nicht, sie kann sogar gefährlich sein und zu Fehlschlüssen führen.

7. Positive Diskursfreiheit (Voltaire): „Ich billige Ihre Meinung nicht, aber ich würde bis zum Tod dafür eintreten, dass Sie sie äußern dürfen“. Dieser Voltaire zugeschriebene Satz trifft den Kern demokratischer Überzeugung. Ein diskriminierungsfreier Diskurs ist die Voraussetzung und Bedingung von Demokratie. Auch wenn es manchmal schwer fällt: Aber Demokratie wird nur dadurch stark, dass sie mühsam ist. Die Demokratie schützen zu wollen, indem man unliebsame Positionen aus dem Diskurs heraushält, führt nur zu ihrer Schwächung.

8. Anerkennung der Wissenschaft – und ihrer Grenzen (Karl Popper II):
Wissenschaft lehrt Demut und Bescheidenheit, weil alles Wissen grundsätzlich unvollständig und vorläufig ist. Die Rolle der Wissenschaft in Politik, Gesellschaft und Medien kann daher nur in einer Objektivierung des Wissensstands liegen. Sie mag vereinzelt selbst methodisch normativen A-priori-Urteilen unterliegen, darf aber nie selbst Politik oder Aktivismus sein wollen. Wissen ist trotz seiner Unvollständigkeit und Vorläufigkeit aber auch keine Sache von Meinung, die sich herausnehmen kann, gegen jede belastbare Evidenz zu argumentieren. „Follow the science“ darf umgekehrt nicht nur dann gelten, wenn es einem passt. Die Wissenschaftstheorie von Popper liefert auch wertvolle Leitgedanken für eine liberale Gesellschaft.

9. Logik, Sprache und Wertfreiheit (Aristoteles): Immer stärker löst sich im Diskurs Sprache von Logik, die richtige Haltung vom objektiven Argument. Immer öfter werden Aussagen getroffen, die nicht mehr logisch abgeleitet werden, sondern auf Ad-hoc-Annahmen oder auf impliziten Werturteilen beruhen. Für Aristoteles bestand Rhetorik in einem gleichberechtigten Dreiklang aus Logos, Ethos und Pathos, also dem logischen Argument, der redlichen Glaubwürdigkeit und der emotionalen Haltung.

10. Wahrheit, Zeitgeist und Demokratie (Ingeborg Bachmann):  Wahrheit existiert als rationales Konstrukt, aber nie absolut. Sie wandelt sich in der historischen Zeit, im Geiste der Zeit – im „Zeitgeist“ – und im Lichte der Erkenntnis. Demokratie ist die Methode, in einer gleichberechtigten pluralistischen Gesellschaft die Wahrheit immer wieder neu zu finden. Wer die Demokratie nicht verteidigt, verachtet die Freiheit und scheut die Wahrheit. Das größte gemeinsame Interesse einer freien und gleichberechtigten Gesellschaft ist die Wahrheit. „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, sagt Ingeborg Bachmann. Und also auch die Freiheit zur Wahrheit.

Und dann wäre da noch der Humor. Nie waren die Zeiten humorloser und ironiefreier als heute. Dabei ist Humor ein Mittel, im Ernsten immer auch das Komische zu sehen und sich den gewiss nicht geringen Problemen mit mehr Selbstdistanz und weniger Selbstüberhöhung zu nähern.
Prof. Dr. Henning Vöpel
Vorstand Stiftung Ordnungspolitik
Direktor Centrum für Europäische Politik

Quelle: Berliner Ordnungsruf

Quelle: cep – Centrum für europäische Politik

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