Nah bei Dir“ und „Fern von hier“. Die Wiederentdeckung der Schweizer Schriftstellerin Adelheid Duvanel (1936 – 1996)

Nah bei dir. Sprache. Deutsch. Herausgeber. Limmat Verlag

Adelheid Duvanel war bereits zu Lebzeiten eine erfolgreiche Schriftstellerin. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1996 erschienen mehr als zehn Bände mit Erzählungen aus ihrer Feder erschienen, davon die meisten im Darmstädter Luchterhand-Verlag. Als Anerkennung für ihre Erzählungen erhielt sie fast zehn Literaturpreise. Adelheid Duvanel war auch eine begabte Malerin und hinterließ zahlreiche Zeichnungen und Gemälde.

Posthum erschienen in den Jahren 1997 und 2004 zwei Sammelbände mit einer Auswahl von Erzählungen, für die jeweils der renommierte Literaturwissenschaftler Peter von Matt ein Nachwort geschrieben hat. Dieser hielt sie für eine Meistererzählerin und eine der begabtesten deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre Erzählbände gerieten von Jahr zu Jahr in Vergessenheit und ihre früheren Erzählungen waren zunehmend vergriffen.

Im Jahr 2021 erschienen im Züricher Limmat-Verlag die Gesammelten Erzählungen in einer aufwändigen Neuausgabe mit fast 800 Seiten unter dem Titel „Fern von hier“. Die Resonanz in der Literaturkritik war überwältigend positiv. Drei Jahre später folgte im selben Verlag ein Sammelband mit Briefen aus den Jahren 1978 bis 1996 an ihren Lektor Klaus Siblewski und an ihre Freundin Maja Beutler. Dieser Briefband umfasst 900 Seiten und trägt den Titel „Nah bei Dir“.

Die beiden neu herausgegebenen umfangreichen Bücher im Limmat-Verlag und die damit verbundenen sehr positiven Rezensionen führten zu einer eindrucksvollen Renaissance dieser außergewöhnlichen Schriftstellerin.

Kurzes biografisches Porträt

Adelheid Duvanel, geb. Feigenwinter, wurde am 23. April 1936 in Basel geboren. Ihr Vater war der Jurist Georg Feigenwinter (1904-1997). Von 1959 bis 1969 war er Gerichtspräsident eines Strafgerichts. Die Familie war streng religiös orientiert. Der Vater war von 1953 bis 1977 im Vorstand der Römisch-Katholischen Landeskirche und später Landeskirchenrat. Adelheid war das Älteste von vier Kindern. Sie galt als braves, schüchternes und introvertiertes Wunderkind. Sie konnte gut malen und zeichnen sowie spannende Geschichten erzählen. In der Pubertät wurde sie unbequemer und hatte Schulprobleme. Die Eltern schickten sie deshalb für ein Jahr in ein strenges Nonnen-Internat. Dort gefiel es ihr gar nicht gut und wurde psychisch auffällig. In ihrem 17. Lebensjahr ließen ihre Eltern sie in eine Psychiatrische Klinik einweisen. Wegen der vermutlichen Fehldiagnose Schizophrenie erhielt sie Elektroschocks und Insulin-Injektionen. Eine Lehre als Textilzeichnerin musste sie aus gesundheitlichen Gründen abbrechen. Sie absolvierte kurze Zeit später die Kunstgewerbeschule in Basel für Malerei und Grafik. Mit 19 Jahren veröffentlichte sie in Zeitungen erste Erzählungen unter dem Pseudonym „Judith Januar“.

Im Jahr 1962 heiratete sie den Maler Joe Duvanel. Diese Ehe war für sie eine Hölle. Ihr Mann war despotisch und tyrannisch. Bereits kurz nach der Hochzeit ging er fremd und lebte offen und gegen ihren Willen zahlreiche außereheliche Beziehungen. Unverfroren brachte er seine Geliebten und später eine Zweitfrau mit in die Wohnung des Ehepaares. Adelheid war psychisch abhängig von ihrem Ehemann und konnte sich nicht gegen seine männliche Dominanz und seine sexuellen Eskapaden wehren. Im Jahr 1964 gebar sie eine gemeinsame Tochter, die in der Pubertät von ihrem eigenen Vater sexuell missbraucht wurde (Inzest). Die Tochter wurde bereits als Jugendliche drogenabhängig, erkrankte an Aids und starb später an dieser Erkrankung.

Die Ehehölle von Adelheid und Joe Duvanel dauerte 20 Jahre. Fünf Jahre nach der Scheidung suizidierte sich Joe Duvanel im Jahr 1986. Adelheid Duvanel starb 10 Jahre später ebenfalls durch Suizid in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli 1996.

Die 15 Jahre nach der Scheidung kümmerte sie sich überwiegend um ihre drogenabhängige und aidskranke Tochter sowie um die Enkelin, die einzige Hinterbliebene dieser Familie. Ihre Tochter war sehr schwierig, oft aggressiv gegen die Mutter, verstrickt im Drogenmilieu sowie permanent mit Schulden und Geldsorgen behaftet. Die Tochter, die ebenfalls Adelheid hieß, starb im Jahr 2005 – fast zehn Jahre nach ihrer Mutter. Die Enkelin gilt als verschollen.

In der letzten Lebensphase war Adelheid Duvanel wiederholt depressiv und suizidal. Sie hatte deshalb zahlreiche Psychiatrie-Aufenthalte. Mit 60 Jahren starb sie durch eine Medikamenten-Überdosis und Erfrieren in einem Wald in einer kalten Julinacht.

Bislang gibt es keine unabhängige, fundierte und die Quellen des Nachlasses berücksichtigende Biografie über Adelheid Duvanel. Ihr Bruder Felix Feigenwinter und ihr Schwägerin Gunhild haben kurz nach Adelheids Tod eine Art Biografie verfasst. Mit dem Titel „Scheherezadel. Eine Basler Autorin wird entdeckt. Reflexionen zu Leben und Schaffen von Adelheid Duvanel“ erschien dieses Buch im Isishaus-Verlag in Basel, einem Verlag den ihr Bruder Felix Feigenwinter gegründet und geleitet hat. Das Buch wurde unter dem Pseudonym „Gudrun S. Krayfuss“ von Gunhild Feigenwinter veröffentlicht.

Der Nachlass von Adelheid Duvanel liegt in vier verschiedenen schweizerischen Archiven in Basel, Bern und St. Gallen.

„Fern von hier“ (2021) – die Gesammelten Erzählungen

Die einzelnen Erzählbände von Adelheid Duvanel, die zu Lebzeiten zwischen 1976 und 1995 erschienen sind, waren bald vergriffen. Posthum erschienen zwei Auswahlbände mit Erzählungen (Der letzte Frühlingstag 1997 und Beim Hute meiner Mutter 2004), zu denen jeweils der Literaturwissenschaftler Peter von Matt ein Nachwort geschrieben hat. Die Neuausgabe der Gesammelten Erzählungen im Züricher Limmat-Verlag führten zu einer Wiederentdeckung der Meistererzählerin Adelheid Duvanel. Sehr positive Rezensionen in den großen deutschen und schweizerischen Zeitungen förderten die Renaissance der Schriftstellerin. Der Rezensent Luke Wilkins verglich in der Neuen Zürcher Zeitung ihre Erzählungen mit jenen von Robert Walser und Franz Kafka (Wilkins 2021). In der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ erschienen zwei sehr fundierte und ausführliche Rezensionen von Michael Krüger und Caspar Battegay. Michael Krüger betonte: „Keine hat so ausschließlich über Benachteiligte, Missglückte, Ausgestoßene, Versehrte, Eigenbrötler, Einsame, alleingelassene Mütter, Drogenabhängige, Unglücksraben, Kindsköpfe, Hungerkünstler und Traumwandler beiderlei Geschlechts geschrieben“ – wie Adelheid Duvanel (Krüger 2021).

„Nah bei Dir“ (2024) – Briefe von 1978 bis 1996

Eine gute Ergänzung zu den „Gesammelten Erzählungen“ ist der Auswahlband mit Briefen, die Adelheid Duvanel an zwei vertraute Personen geschrieben hat. Dies sind ihr Lektor Klaus Siblewski und ihre Brieffreundin und Schriftstellerin Maja Beutler. Die beiden Schriftstellerinnen haben sich im Jahr 1981 beim Literaturwettbewerb in Klagenfurt kennengelernt. Die Antwortbriefe von Maja Beutler sind leider nicht erhalten geblieben. Der umfangreiche Briefband mit fast 900 Seiten gibt einen guten Einblick in das schwierige und belastete Leben von Adelheid Duvanel. Maja Beutler wurde im Verlauf immer mehr zu ihrer „Beichtmutter“. Aktuelle Alltagssorgen – vor allem mit ihrer drogenabhängigen und aidskranken Tochter – und Lebensrückblicke vermitteln dem Leser Zusammenhänge, die einen gewissen Ersatz für eine nicht vorhandene Biografie darstellen können.

Literatur

Battegay, Caspar, Adelheid Duvanel. Jede Erzählung ein Drogentrip. Die Zeit vom 17. Mai 2021

Duvanel, Adelheid, Der letzte Frühlingstag. Erzählungen. Luchterhand, München 1997

Duvanel, Adelheid, Beim Hute meiner Mutter. Nagel & Kimche, Zürich 2004

Duvanel, Adelheid, Fern von hier. Sämtliche Erzählungen. Limmat, Zürich 2021

Duvanel, Adelheid, Nah bei Dir. Briefe 1978 – 1996. Limmat, Zürich 2024

Krayfuss, Gudrun, S., Scheherezadel. Eine Basler Autorin wird entdeckt. Reflexionen zu Leben und Schaffen von Adelheid Duvanel. Isishaus, Basel 1998

Krüger, Michael, Adelheid Duvanel. Worte über dem Abgrund. Die Zeit vom 7. Juni 2021

Wilkins, Luke, Adelheid Duvanel: „Es gibt aber Menschen, die sich nicht an das Hiersein gewöhnen können.“ Neue Zürcher Zeitung vom 22. Mai 2021

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

Email: herbert.csef@gmx.de

Nah bei dir. Sprache. Deutsch. Herausgeber. TOKYOPOP Verlag

 

Über Herbert Csef 157 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.