Lausbergs Buchtipp: „Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland“

von Andrea Meyer und Bénédicte Savoy

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Andrea Meyer/Bénédicte Savoy: Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland, Reimer Verlag, Berlin 2023, ISBN: 978-3-496-01700-4, 49 EURO (D)

Über 40.000 Objekte aus Kamerun werden heute in öffentlichen Museen der Bundesrepublik Deutschland aufbewahrt – der größte Bestand weltweit. In öffentlichen Museen in Deutschland lagern Waffen, Musikinstrumente, Statuen, Alltagsgegenstände, Handschriften, Schmuckstücke u.v.m. aus Kamerun. Seit der deutschen Kolonialzeit (1886–1916) werden die Stücke in den Depots der Institutionen aufbewahrt. Sie wurden bisher meist nicht gezeigt und auch nicht in Publikationen zugänglich gemacht.

Die Autor:innen aus verschiedenen Disziplinen (Geografie, Geschichte, Museumsgeschichte, Ethnologie, Sprachwissenschaft) zeichnen erstmalig diese nicht sichtbare Präsenz von Kamerun in deutschen Museen nach. Damit wird auch nachvollzogen, was die Abwesenheit des Kulturerbes für Kamerun bedeutet.

Die Publikation basiert auf dem Projekt »Umgekehrte Sammlungsgeschichte. Kunst und Kultur aus Kamerun in deutschen Museen« der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter Leitung von Albert Gouaffo (Université de Dschang) und Bénédicte Savoy (Technische Universität Berlin). Koordiniert wurde die Publikation von Andrea Meyer (Technische Universität Berlin) und Bénédicte Savoy. Bénédicte Savoy ist Professorin für Kunstgeschichte der Moderne an der Technischen Universität Berlin sowie Professorin für die Kulturgeschichte des europäischen Kunsterbes des 18. bis 20. Jahrhunderts am Collège de France.

Als Atlas nutzt dieses Buch Karten und Grafiken, um die geografische und statistische Verteilung des materiellen Kulturerbes Kameruns auf dem Territorium der BRD und darüber hinaus unmittelbar anschaulich zu machen, um historische Grenzverschiebungen in Erinnerung zu rufen, um die unterschiedlich starke Präsenz kamerunischer Regionen in heutigen deutschen Museen und umgekehrt, die großen, nicht wieder zu schließenden Lücken zu visualisieren, die die aggressive Sammelpolitik deutscher Akteure um 1900 in der Landschaft des kamerunischen Kulturerbes hinterlassen hat.

Der Atlas befasst sich statistisch und geografisch mit dem schwierigen Erbe im aktuellen Gebiet der BRD, fragt nach der Herkunft der Objekte in Kamerun und nach ihrer typologischen Zuordnung sowohl in deutschen Museumsinventaren heute als auch in den Regionen, aus denen sie stammen. Insgesamt wird in diesem Atlas die Methode der „umgekehrten Sammlungsgeschichte“ durchgespielt, die weniger von den Sammlungen einzelner (deutschen) Museen ausgeht als von der Feststellung fehlender Kulturgüter in bestimmten Regionen Kameruns.

Anhand historischer Quellen, unpublizierter Briefwechsel, Berichte und Tagebücher werden hier zudem die konkreten Bedingungen der von den deutschen Museen als „Erwerb“ bezeichneten Inbesitznahmen kamerunischer Objekte um 1900 beleuchtet, die in Wahrheit „Plünderungen, Erpressungen, List, Bestechung, in manchen Fällen auch Ankäufe“ waren. (S. 20)

Ein besonderes Augenmerk legt der Atlas auf die diejenigen Akteure in Kamerun, die um 1900 dazu benutzt wurden, das kulturelle Erbe ihres Landes selbst an die Küsten zu bringen, um es ins Deutsche Reich zu verschiffen. Die Geschichte der „Kamerun Bestände“ ist untrennbar von massiver symbolischer und realer Gewalt gegen Menschen verbunden.

Nach einer Einleitung mit Projektvorstellung, der Aneignung kamerunischer Kulturerbe in Kolonialzeiten und der Dislokation des kamerunischen Kulturerbes in Zahlen, beschäftigen sich drei Aufsätze mit den Akteur*innen. Die koloniale Kulturaneignung, die Rolle deutscher Museen im kolonialen Kontext und damit verbundene Beispiele werden danach in drei Aufsätzen behandelt. Der Nutzen der Aneignung der Objekte und vor allem die Konstruktion als Rechtfertigung kommen im nächsten Kontext zur Sprache.

Danach werden Perspektiven für die Gegenwart vorgestellt. Restitution, Ansprüche, eine dekoloniale Sprache in deutschen Museen und konkrete Vorschläge zur Vermittlung zwischen deutscher und kamerunischer Seite sind dabei Schwerpunkte.

Im Anhang gibt es eine Liste von Museen, die in der BRD kamerunisches Kulturgut verwahren, kamerunische Objekte in deutschen Inventaren geordnet nach Akteuren, eine Nennung der Akteure selbst und exemplarische Biografien. In einem Bildteil werden ausgewählte Objekte aus Kamerun in deutschen öffentlichen Museen gezeigt. Zum Schluss finden sich noch Nachweise, die Vorstellung der Autor*innen und ein Namensregister.

Das Buch ist auch eine Fortsetzung des viel diskutierten Buches von Bénédicte Savoy: Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage, C. H. Beck, München 2021 zu verstehen.

Savoy gilt international als Expertin für die Verbringung von Kulturgütern bzw. des Kunstraubs insbesondere aus ehemaligen Kolonien in europäische Museen. Seit langem fordert sie, dass er Erwerb von Kulturschätzen aus den früheren Kolonien grundlegend überprüft werden müsse.

In diesem Buch führt sie dies aus und arbeitet die Geschichte des Kampfes Afrikas um die Rückgabe von Kulturschätzen seit der Dekolonisation in den 1960er Jahren bis heute auf. Immer noch waren rassistische Sichtweisen und Nachwirkungen der kolonialen Vergangenheit in den Köpfen von führenden Vertretern.

Sie betrachtet auch kritisch die Gründe, warum die Rückgabe von Kulturschätzen nur in geringem Umfang geschehen ist. Dabei stehen nicht nur Direktoren von Museen oder Vorsitzende von kulturellen Vereinigungen sondern auch Politiker im Zentrum der Kritik.

In diesem Werk werden Objekte und Zeugnisse der eigenen Geschichte und Kultur, die im Zuge kolonialer Machtverhältnisse aus Kamerun nach Deutschland gebracht wurden,  sichtbar gemacht und somit in den Blickwinkel einer (kritischen?) Öffentlichkeit gebracht.

Dieses Buch zeigt die systematischen Weigerungsstrategien in Politik und Kultur deutlich auf und ist eine beschämende Offenlegung einer neokolonialen Haltung. Es werden verschiedene Strategien analysiert, mit denen Politik und Direktoren von Museen operierten.

Dieses Buch macht Druck auf die heutigen Verantwortlichen, zu Recht.

Dennoch wird das Buch nicht jedem gefallen, es ist eine neue konkrete antikoloniale Stimme im Streit um Restitution. Insgesamt geht es aber im Kern um eine oft willentlich ausgeblendete Aufarbeitung der eigenen kolonialen Vergangenheit.

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Über Michael Lausberg 546 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.