Milch aus glücklichen DosenOder: über unseren Glauben an den Fortschritt

Man kann einem Blinden einen Stummfilm zeigen, macht ihm aber dadurch wohl nur wenig Freude. So lässt sich vielleicht plastisch unser Verhältnis zum Fortschritt beschreiben. Wir wissen, dass sich die Welt in den letzten Jahrhunderten enorm verändert hat, wobei wir annehmen, sie veränderte sich zum Besseren. Waren wir jemals so frei und so aufgeklärt wie heute? Die Tatsache aber, dass jeden Tag tausende Menschen verhungern und wieder abertausende unterdrückt, eingesperrt und sogar aus „Staatsraison“ getötet werden, scheint das Gegenteil zu beweisen; aber auch unser eigenes tägliches Verhalten, unsere Affekte und Triebe, sind nicht unbedingt als „fortgeschritten“ zu bewerten. So stellt sich also die Frage, was unter dem Begriff „Fortschritt“ zu verstehen ist. Ist Fortschritt, einem Fotomodell, das für Hautcreme wirbt, mittels Computertechnik zu noch blaueren, leuchtenderen Augen zu verhelfen? Oder ist Fortschritt, dass wir auch im Winter im Supermarkt Erdbeeren kaufen können?
Wenn wir an Zukunft, sprich: Fortschritt denken, schwebt uns stets nur eine technische Verbesserung vor – uns selbst, unser eigenes Denken und Handeln, meinen wir dabei nie. Sollte sich wirklich bloß die Technik weiterentwickeln – aber nicht der Mensch und sein Menschsein?
Die technischen Revolutionen des letzten Jahrhunderts (und das waren nicht wenige), haben den Gegensatz von Arm und Reich, auch von Unterdrückten und Unterdrückern nicht aufgehoben und auch nicht gemildert. Der technische Fortschritt hebt eben keine Ungerechtigkeiten und keine Ungleichbehandlungen auf, er macht das Leben nur denen erträglicher, die es ohnehin besser haben, könnte man zynisch behaupten.
Das Internet ist als eine Art technische Revolution bezeichnet worden, deren Auswirkungen im ganzen noch nicht zu überschauen sind. „Das Netz ist ein Medium, das uns informiert, das uns noch mehr verbindet, uns noch näher zusammenrücken lässt“, hört man manches Mal. Ist dem wirklich so? Hat sich durch all die Informationen, die uns nun im Internet zur Verfügung stehen, unser Verhalten auf der Straße, unser Menschsein verändert? Wird die Welt irgendwann gerechter und „besser“? Die Frage ist hier allerdings, ob wir unter besser wieder nur eine ausgewogenere Verteilung von PKWs unter der Weltbevölkerung oder vielleicht doch etwas anderes verstehen.
Wie wird sich unser Denken in den nächsten Jahren durch Internet und Massenmedien verändern? Alles ist am Ende schon gesagt, alles geschrieben, jedes Lied schon komponiert worden. Allein die Frage aller Fragen lautet: kann der Charakter des Menschen sich überhaupt weiterentwickeln, verbessern?
Mit Fortschritt bezeichnen wir üblicherweise ein bequemeres Leben: der Weg zum Glück soll einfacher werden. Voraussetzung ist allerdings, dass es dorthin überhaupt einen Weg gibt. Meint der Mensch nämlich, „das Glück“ gefunden zu haben, ist es ihm gleich wieder entronnen, und es bleibt ihm nichts, als ihm weiter hinterher zu jagen – ein Zustand, der das ganze Leben andauert und bestimmt. Alle Philosophien beschäftigen sich mit der Suche nach dem Glück und manche, wie z. B. die Stoische Ethik, behaupten: Glück ist innerer Friede und Ruhe des Geistes. Wenn man sich indes vor Augen hält, dass es bereits vor Jahrtausenden mit Beginn der Philosophie weit über hundert Lehrmeinungen darüber gab, was Glück überhaupt sei, so könnte man daraus getrost den Schluss ziehen, dass Glück nicht abschließend definierbar sei. Ist man vielleicht am glücklichsten, je weniger man vom Leben begreift?
In einer Gesellschaft, in der einem täglich vorgegaukelt wird, alles sei erreichbar, alles verfügbar, alles, jede Naturressource, müsste ausgenützt und verbraucht werden zu unserem eigenen Wohlbefinden, ist die Unfähigkeit zu menschlichem Miteinander vorprogrammiert. Wer zufrieden oder gar bescheiden ist, ist selber schuld. Da sitzen sie alle in Internetcafés und blättern Fotos und Daten auf der Suche nach dem idealen Partner durch, tatsächlich in dem Glauben, dass es diesen wirklich – so wie man ihn haben will – gibt. Vielleicht schafft es ja bald die Genindustrie, den idealen Model-Partner fürs Leben nach Wunsch zu kreieren, Zahlung per Nachnahme: sollte an diesem dann eine Eigenschaft gefunden werden, die einem nicht gefällt, ist Umtausch innerhalb von 14 Tagen möglich. Weil wir Mobiltelefone erfunden haben, können wir nicht ohne sie leben – aber hätten wir nicht genauso gut ohne sie leben können? So manche „Errungenschaft“ scheint nichts weiter als banale Spielerei zu sein. Zweifelsohne hat der Mensch die Erde in den letzten 1000 Jahren, ja schon allein in den letzten 100 Jahren in vielfältigster Weise verändert – sich selbst allerdings kaum. Technischer Fortschritts und Glück – so die nüchterne Erkenntnis – hängen nicht notwendigerweise zusammen. Darin lag schließlich auch der Kern der antiken, zu schweigen von den östlichen Philosophien: Nicht durch die Lösung von Problemen erreicht man einen höheren Grad des Glücks. Deshalb brauchen wir den technischen Fortschritt gar nicht wirklich, eher lassen wir uns von seinem Reiz und seiner Macht betören. Wir haben gemerkt, dass wissenschaftlicher Fortschritt leichter zu erlangen ist als wirklicher Fortschritt, nämlich der in uns selbst – und aus Faulheit haben wir uns für den bequemeren Weg entschieden. Und ist unsere westeuropäische Friedfertigkeit (und die US-amerikanische Aggressivität) nichts anderes als die Angst davor, unseren technischen Standard zu verlieren? Nichts wirklich ändert sich. Eine Welt voller Differenzen ist aber eine, in der Unterordnung, Schmerz, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung gedeihen können – und jeder einzelne für sich selbst sein Menschsein finden und definieren muss. Marinettis Futuristen‑Hymne an den Krieg als „Hygiene der Menschheit“ oder Che Guevaras schauerlicher Wunsch nach „zwei, drei… vielen Vietnam“ ist inzwischen auch nur noch eine Albernheit. Die grundlegenden, immanenten Probleme unseres Daseins sind nicht durch Programme, Ideologien oder Religionen zu lösen, auch nicht durch technische Erfindungen – sie liegen in uns selbst begründet, und können mit keiner Wissenschaft, keiner Technik gelöst werden: es geht um unsere Beziehungen mit unseren Mitmenschen und unserer Mitwelt – und um unsere Beziehung zu uns selbst. Bei Fragen, ob und unter welchen Umständen man doch vielleicht irgendwann, irgendwo Menschen klonen darf (und ähnliche durchaus realen Schreckensvorstellungen) stellen wir uns in erster Linie immer die Frage, ob wir etwas tun können, nicht warum wir es überhaupt sollen. Statt den Krebs mit Gentechnik zu besiegen, sollten wir vielleicht einfach nur gesünder leben? Der Traum von der Reise zum Mars ist inzwischen real geworden. Vielleicht muss die Menschheit ja irgendwann einmal dort leben, heißt es zur Begründung. Man sollte sich also schon mal mit den schlimmsten Science-Fiction-Szenarien von einer im Weltall umherirrenden Menschheit anfreunden. Wenn wir die Erde zerstört haben, gehen wir eben (jedenfalls die, die sich dann das Ticket leisten können) woanders hin – so der unterschwellige Tenor. Das ist dann wieder der einfachere Weg.
Unser Bemühen, fortzuschreiten ist – letztendlich – nichts anderes als die Suche nach einem sinnvollen Leben, nach dem Sinn des Lebens. Fast regelmäßig hört man von Berühmtheiten, die sich trotz ihrer mit Millionen Dollar gefüllten Bankkonten das Leben nehmen – weil sie bei der verzweifelten Suche nach Glück entdecken mussten, dass sie es in immer neuen Ferraris, Segeljachten und dröhnenden Partys nicht fanden. Wie viele Armleuchter gibt es, die Villen, Jachten und Ferraris besitzen, aber damit nichts daran ändern können, dass sie doch nichts anderes als eben Armleuchter sind? Ist Fortschritt also nur das Erreichen von bestimmten materiellen Zielen, dann hat mich die Realität des Daseins bald mit all seinen Beschwernissen wieder eingeholt, und uns bleibt nur, dem nächsten Zipfel dieses vermeintlichen Glücks nachzujagen, denn nicht dadurch, dass jemand Luxusautos in seiner Garage parkt, findet er Glück (nicht in der Größe des Reichtums), sondern in der Kleinheit der Bedürfnisse, meinte schon Epikur. Immerhin: es bleibt zu überlegen, wie unglücklich viele sich machen, indem sie sich gerade um nichts anderes bemühen als eben darum, glücklich zu werden (was viele mit ständigem Haben-Wollen verwechseln). Sind Hass, Missgunst, Gier und Nicht-Verzeihenkönnen fester Bestandteil des Menschseins oder können sie durch einen Fortschritt überwunden werden? Unglücklich macht uns jedenfalls oftmals, feststellen zu müssen, dass wir unseren eigenen Ansprüchen nicht genügen, und vielfach liegt das auch einfach daran, dass wir gar nicht das Leben dessen leben, der wir wirklich sind.
Warum wir als Fortschritt in erster Linie darum Materielles bezeichnen, liegt auf der Hand: weil dem Menschen Materielles immer das Wichtigste ist – es ist messbar.
„Der hat es zu was gebracht“, sagt man darum, wenn jemand ein entsprechendes Haus oder Auto besitzt (er kann dabei der gleiche dumme Idiot sein wie eh und je), nicht aber, wenn er ein besonders einfühlsamer, sanftmütiger oder ehrlicher Mensch ist, denn das ist nicht messbar. So sind auch die kommunistischen Systeme vor allem deswegen zugrunde gegangen, weil die Menschen materiell gegenüber dem „Westen“ schlechter gestellt waren. Auf die ganze Meinungs- und Gedankenfreiheit hätten viele gerne verzichtet, wenn sie ein entsprechendes Auto in der Garage gehabt hätten. Und auf einen Künstler, sei er ein neuer Michelangelo oder Da Vinci, sähen auch heute noch viele naserümpfend hinab, wenn ihn seine Kunst nicht reich machen würde, da sich bei uns das Schlagwort vom „der Erfolg gibt recht“ eingebrannt hat. Wir haben die trügerische Vorstellung, Erfolg sei per se etwas Gutes.
Auch heute noch würden viele einen massenmordenden Alexander als „groß“ bezeichnen, auf ihn „stolz“ sein und ihm Denkmäler errichten – man sah im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien und danach, dass immer die Mörder auf der „anderen“ Seite die schlimmen sind; die auf der „eigenen“ Seite sind es nicht. So bleibt zu überlegen, ob wir nach wie vor an der Oberfläche geblieben sind und alle Weiterentwicklungen, die wir bislang sahen, nur äußerliche waren. Solange der Mensch jedenfalls vorgibt, alles ändern zu wollen, außer sich selbst, ist jede seiner Revolutionen zum Scheitern verurteilt.

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