Paul Sturm: Das Wunder des Seins – Neue Reformation Thesen

Vorwort

Leben und Wirken von Pfarrer Dr. Paul Sturm(zum 90. Jahrestag der Verkündung der Thesen zu einer neuen Reformation in Weimar)

Paul Sturm wurde am 19. 1. 1891 in Bad Liebenstein bei Meiningen geboren. Der Vater Ernst Berthold Sturm war Bergwerkbesitzer und u. a. Mitbegründer der Handelsschule in Thüringen. Sturms Elternhaus war geistig und musisch geprägt und so hatte Paul Sturm schon in früher Kindheit ein 'Bündnis auf Lebenszeit' vor allem mit Dichtung und Musik geschlossen, wie er von sich selbst schreibt. Als Kind genoss er eine Ausbildung in Klavier- und Orgel-Spiel, das von Zeitzeugen als meisterhaft bezeichnet wird, und er trat auch früh mit Kompositionen an die Öffentlichkeit. Als Schüler erschienen erste Gedichte in Zeitungen, 1910 der Band „Schatten und Sonne“, dann die „Kriegsgebete“. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Nordhausen folgten das Einjährig-Freiwillige[1] und ab 1910 die Jahre des Studiums. Auf Wunsch des Vaters immatrikulierte sich Paul Sturm zuerst für Jura in Erlangen. Nach dem Tod des Vaters wechselte er sofort an der Universität Göttingen zur Philosophie, zur Theologie und Medizin, später erfolgte noch ein autodidaktisches Studium der Komposition. Zu seinen Professoren der Philosophie gehören Maier, Husserl, Nelson, Katz u. a. Schon früh haben Sturm religiöse Fragen wie das Frömmigkeitsproblem beschäftigt und bereits in der Zeit seines Studiums schwebte ihm der Entwurf einer neuen Glaubenslehre vor. In einer Autobiographie spricht er davon, dass er vor 1914 ein Lehrbuch über Dogmatik geschrieben hatte, dem er den Untertitel „Genie und Masse“ gab [heute verschollen].[2]
Er war der erste Student, der das von seinem Vorfahren mütterlicherseits, Professor Christian Beyreiß [1730-1809, Universität Helmstedt, mit Goethe und Friedrich dem Großen bekannt], ausgesetzte Beyreiß-Stipendium erhielt, das für vielseitig begabte Studenten ausgeschrieben war.

Noch vor Abschluss des Studiums wurde Paul Sturm 1914 eingezogen, schwer kriegsverletzt durch einen Lungendurchschuss mit rechtsseitiger Armlähmung und lebenslangen Folgen. Mit seiner Gesundheit hat Sturm auch einen Großteil seiner für seine Idee mitkämpfenden Freunde verloren. Er setzte sein Studium fort und legte 1918 beide theologischen Examina in Meiningen ab. 1919 übernahm er dann das Pfarramt in Hochdorf bei Weimar, Thüringen.

Im Jahr 1921 wurde er in Erlangen mit dem Thema des Antinomien-Problems bei Prof. Hensel in Philosophie promoviert und erwarb die Fakultas in den Nebendisziplinen Deutsch, Pädagogik und Geschichte. Eine umfangreiche zweite Arbeit über die „Kritik der Gottesbeweise“ wurde von Prof. Grützmacher an der Theologischen Fakultät Erlangen, später von Prof. Lincke, Universität Jena angenommen. Vom Abschluss der Promotion und dem Anerbieten Prof. Hensels bei ihm mit dem Thema: „Die Antinomien – ein Sophisma“ für eine akademische Laufbahn zu habilitieren machte Paul Sturm keinen Gebrauch, da durch die wirtschaftlichen Kriegsfolgen und den frühen Tod seines Vaters der Amtsantritt 1919 notwendig wurde, was zugleich dem Wunsch, in der Stille auf dem Lande arbeiten zu können, entgegenkam.

Paul Sturm trug sich Zeit seines Studiums mit dem Wunsch, einen Anstoß zu einer religiösen Neuerweckung des Christentums aus seiner Sicht zu geben. So setzte er unter all seine Schriften in dieser Zeit: „Mein Ziel ist, das neu reformierte Christentum zur Weltreligion zu erheben“ und gründete 1923 in Hochdorf bei Weimar das „Institut für Weltreligion“ mit der Herausgabe der „Thesen einer neuen Reformation“ und seiner „Richtlinien für eine neue Reformation“. Die Hyperinflation dieser Jahre brachte auch den Mäzen Sturms, Herrn Konsul Christian Lassen, um sein Vermögen und sein Mäzenatentum.

In dieser Zeit hatte Thüringen den Ruf, besonders liberal und offen für modernes Denken zu sein, was Paul Sturm veranlasste, sich dort in der Nähe der Kulturstadt Weimar niederzulassen. Er glaubte innerhalb der freien Thüringer Volkskirche, ungehindert seine reformatorischen Bestrebungen verwirklichen zu können. Am 31.10. bzw. 14.11.1923 leitete er dann auch in Weimar sein Vorhaben eines Reformanstoßes mit einem Gottesdienst in der Herderkirche Weimar und einem Aufruf zur Reformation ein. Es folgten in den folgenden Jahren darauf zahlreiche reformatorische Vorträge in vielen Städten Thüringens als „Sturm-Abende“ [Dichtung, Religionsphilosophie und eigene Kompositionen, selbst vorgetragen oder mit anderen Künstlern zusammen], die durch die Presseüber Thüringenhinausreichten. Als Beispiele sollen hier 2 Vorträge aufgeführt werden: am 1. 11. 1930: „Religion und Religionsersatz“ im Stadthaus-Saal Weimar und ein Nietzsche-Abend am 1. 4. 1930 im Schauspielhaus Mühlhausen/Thüringen.Dazu entbrannte er, dem Hörer Friedrich Nietzsche, den Thüringer Philosophen, Künstler und Kirchenkritiker in seiner geistigen und künstlerischen Größe in öffentlichen Vorträgen nahe zu bringen. Später erfolgte von der Schwester Nietzsches, Frau Förster-Nietzsche, zweimal ein Antrag auf einen Nietzsche-Lehrstuhl an der Universität Jena, wofür Paul Sturm vorgeschlagen war, was sich allerdings durch verschiedene Umstände zerschlug.

Oberhofprediger D. Paul Graue, mit dem er in dieser Zeit in der Presse in regem geistigen Austausch stand, formulierte: „Es lebt in Sturm ein ganz ursprünglicher, mit elementarer Wucht sich geltend machender Sinn für echte Frömmigkeit.“[3] Und der Schweizer Dichter Carl Spitteler [Nobelpreisträger 1919] bezeichnet Paul Sturm als: „religiöse Erscheinung individueller, persönlicher Art“[4]. Den Ruf als Pfarrer nach Gera, nach Berlin und 1928 an den Dom nach Bremen hat er nicht angenommen, um konzentriert an seinem Lebenswerk arbeiten zu können, was er auch bis zur Todesstunde tat.

In den Jahren in Hochdorf sowie den 1928 folgenden Jahren in Ulla bei Weimar und ab 1949 in Jena ist ein umfangreiches religionsphilosophisches Werk entstanden, das bis heute unveröffentlicht vorliegt. In der Zeit des Nationalsozialismus endete für Paul Sturm mit einem Presseverbot sein öffentliches Wirken, was ihn aber nicht davon abhielt, auf der Kanzel Hitler und seine Statthalter scharf anzugreifen und zu verurteilen. Das endete dann mit einem Prozess gegen ihn und machte ein darauf folgendes Untertauchen in der letzten Phase des 2. Weltkriegs notwendig. Sturm war sowohl in Sachen Politik als auch in seiner selbst übernommenen Mission als Erneuerer des Christentums immer Einzelkämpfer. Das war auch in der Jenaer Zeit des diktatorischen Regimes der DDR bis zu seinem Tode 6. 6. 1964 nicht anders. Zwei Weltkriege, die dazwischen liegende Inflation, zwei Diktaturen haben bis 1949 und auch danach in Jena an der Universität ein öffentliches Wirken oder Veröffentlichungen unmöglich gemacht. Posthum erschien 1991 die Aphorismensammlung „Bilder-Klavier“.

Sein umfangreicher Nachlass umfasst neben dem religionsphilosophischen Werk, das aus mehr als 70 Schriften besteht, ein schriftstellerisches Werk mit einer Fülle von Gedichten, Aphorismen, 2 Theaterstücke und auch ein kompositorisches Werk mit Liedern, Chorälen, Tempelhymnen, Musik für Blasorchester, Kammermusik usw.

Er schreibt über sich:
Es schuf mich Gott mit heißen Gluten
Und mit dem Lichte der Vernunft,
Doch leider nicht nach den Statuten
Der Fakultäten und der Zunft.(Ende der „Inschrift für den Welttempel“)

In der Traueransprache von Amtsbruder Rausche [damals Superintendent mit Pfarrstelle in Rittersdorf bei Blankenhain] kommt zum Ausdruck, wie im Leben von Paul Sturm, „ein großer Mensch“ mit seiner Frau Gertrud, Gehilfin und Mitarbeiterin, mit viel Kampf, Anfechtungen und Sorgen, ihm auch viel Segen, Gewinn und Freude erwachsen waren. Das ländliche Pfarrhaus, das zu einem „Tempel des Geistes und der Künste, aber auch zu einer Stätte liebevoller Hilfsbereitschaft geworden war, in dem sich der Dichter, der Künstler, der Musiker ebenso wohl fühlte wie der hilfe- suchende Arbeiter oder die trostbedürftige Bauersfrau“.
Paul Sturm war ein Pfarrer und ein Mensch, der Liebe lebte, den der Menschheit ganzer Jammer anfasste und der immer helfen wollte. Liebe zur Menschheit veranlasste ihn zu seiner Religionsphilosophie, dem Hauptthema aus seinem großen und reiche Schaffen.

Im Gegensatz zu einer erwerbsmäßigen Theologie, die wohl Lehrsätze und Geleise des Lebens, aber keine Rätsel kennt, lehrte er das stille große, ehrfürchtige Staunen. Er vermochte nicht Lehrsätze zu predigen, die eine Gemeinde nicht verstand, gleichgültig ließ und der „Glaubenssubstanz unseres Volkes ernstlich Schaden brachte“. Es sollte keiner etwas nachplappern, was er nicht sofort begriff. Das liebevolle Bemühen, den Menschen vom Wunder der Schöpfung zum Gotteswunder zu führen, das eigene Gottsuchen durch Anschauung und Gefühl zu erwecken, war ihm Auftrag. Religiöse Erziehung beginnt für ihn nicht mit dem Gottwunder, sondern mit dem Weltwunder. Und der Künstler ist ihm Priester in der künstlerischen Steigerung des Weltwunders als Vorgefühl und Zeugnis für das Gottwunder. So werden auch Künstler zu Priestern wenn sie in ihren Werken fragen: Künden euch nicht Weisheit, Ordnung, Stärke und Schönheit vom Herrn der Welt? Es kommt darauf an, dass der Mensch selbst Augen bekommt Gottes Herrlichkeiten zu sehen.“[5].
Der Sprengelpfarrer Hermann betonte in seiner folgenden Traueransprache: Paul Sturm sei ein Sucher Gottes und ein Kämpfer für die Wahrheit gewesen, dazu sei sein größtes Anliegen der Frieden gewesen, der Frieden im Kleinen und der Frieden in der Welt.[6]

Zu den Lehrern Sturms, die ihn maßgeblichbeeinflusst haben, soll er selbst zu Worte kommen:

„Carl Stange, [1870-1959] mein von mir hochverehrter Lehrer (später Abt in Lokkum und Professor der Theologie in Göttingen), der eine streng positive Theologie vertritt, hielt einmal eine Predigt, in der er nicht müde wurde, zu zeigen, wie man Gott in der Natur und in den großen Werken der Kunst erleben an.“ Dies Erlebnis war Sturm ein Gegenentwurf zur „erschreckenden Nüchternheit des Protestantismus“[7]. Es verband beide Männer eine lebenslange Freundschaft.

Von Heinrich Maier [1867-1933, 1. deutscher Lehrstuhl für Philosophie in Göttingen] berichtet Paul Sturm, dass er keine seiner Veranstaltungen in all den Jahren des Studiums der Philosophie ausließ, er Sturm als Neukantianer [den kritischen Realismus vertretend] in Kant, Spinoza, Fichte, Schopenhauer einführte und durch diese prägte.

Rudolf Otto [1869-1937], Religionswissenschaftler und Professor für Systematische Theologie in Göttingen,hieltschon 1913 im Weltkongress für „Freies Christentum und religiösen Fortschritt“ in Paris den Hauptvortrag zum Thema: „Möglichkeiten einer Universalreligion der Menschheit“.[8] Dies mag seinen Schüler Sturm angestoßen haben, den Gedanken Weltreligion weiterzuentwickeln. Wenige Jahre nach dem Vortrag trat Otto mit seinem berühmt gewordenen Hauptwerk „Das Heilige“, Untertitel: „Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Göttlichen“ an die Öffentlichkeit, das in alle Hauptsprachen der Welt übersetzt wurde. Hier geht es Otto um das Gotteserlebnis, die Erfahrung des Erhabenen über das Gefühl mit dem Heiligen, das für ihn das Zentrum aller Religionen ist. Otto ist der erste, der differenziert religiöse Erfahrung des Menschen analysiert und betrachtet, was auf die damalige Theologie eine öffnende Wirkung hatte. Die Idee des Irrationalen der Gottheit, die sich dem begreifenden Vermögen entzieht, kann nur im Menschen „erweckt“ werden. Alle religiösen Empfindungen von der Berührtheit bis zu tiefer Erschütterung kennt Paul Sturm aus eigenem Erleben, sie durchziehen sein großes lyrisches Werk.

Jesus verkündet das „Evangelium vom Reich“, das „Ganz andere“. Sturm nimmt seinerzeit dazu und zu Ottos Werk Stellung und schreibt: „Das Heilige, das Objekt der Religion, ist nicht wie von Otto behauptet das jenseitige im Gegensatz zum diesseitigen Sein, sondern das Sein im Gegensatz zum Nichtsein.“[9] Für Sturm ist das Sein [zuerst das Diesseits] das „Wunder“, und diesesnimmt bei ihm einen zentralen Punkt in der Religiosität, der Frömmigkeit ein. An dieser Differenz wird dann der jahrelange geistige Austausch zwischen Otto und Sturm abbrechen.

Bei Otto erhielt Sturm auch die erste Einführung in Schleiermacher [den „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“] zum Thema: „Was ist Religion“ aus dessen erster Schrift: „Über die Religion, Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ [10]. Für Schleiermacher besitzen Religion, Metaphysik und Moral denselben Gegenstand: das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm und einem höchsten Wesen, dessen Werk alles ist. Schleiermacher klagt: Der Mensch wird durch die Theologie nicht als ein Teil des Universums und als etwas Heiliges empfunden, sondern dem Universum entgegengesetzt. Das Universum offenbart sich uns in ununterbrochener Tätigkeit in jedem Augenblick, … alles Einzelne als Teil eines Ganzen – das ist Religion.[11] „Religion haben heißt das Universum anschauen“, denn Gott ist nicht Alles in der Religion, sondern Eins, das Universum ist mehr. Und der Kunstsinn, der für ihn 'heilige Ehrfurcht' hervorruft, könne übergehen in Religion.[12]

„Was ist ein Wunder?“[…Es ist] die unmittelbare Beziehung einer Erscheinung auf's Unendliche, auf's Universum.“[…] „Je religiöser ihr wäret, desto mehr Wunder würdet ihr überall sehen.“ […] „Was heißt Offenbarung? Jede ursprüngliche und neue Anschauung des Universums ist eine [solche].“[13] Das „Wunder des Seins“ nimmt bei Sturm eine Schlüsselrolle ein und die Erfahrung dessen führt zu seinem Frömmigkeits-Begriff. Dieses, sein Verständnis von Frömmigkeit bedarf auch bei Sturm keines Gottesbeweises, wie er in seinem Entwurf darlegen wird. Schleiermacher setzt fort, dass die „Anschauung“ dazu führt, dass sich die scharfen Umrisse unserer Persönlichkeit erweitern und sich ins Unendliche verlieren können, dass wir „durch das Anschauen des Universums so viel als möglich eins werden sollen mit ihm.“[14]

Dies macht auch verständlich, dassReligion haben für ihn nichts mit Dogmen, Lehrsätzen und einer heiligen Schrift zu tun hat, dieihm nur ein Mausoleum, ein Denkmal der Religion ist, was daran erinnert, dass ein „großer Geist da war“. [15] Die Gottheit, fährt Schleiermacher fort, sehen die meisten als einen Genius der Menschheit und den Menschen wiederum als ein „Urbild“ ihres Gottes. Für Schleiermacher ist das höchste Wesen, „der Geist des Universums, der es mit Freiheit und Verstand regiert“, aber von dieser Idee hängt für ihn die Religion nicht ab. „Religion haben heißt das Universum anschauen“, wie oben schon zitiert. Und er kritisiert, das Ziel der Religion war seinerzeit, „ein Universum jenseits und über der Menschheit zu entdecken.“ [16]
Sturm grenzt sich auch hier scharf gegen konservativen Zeitgeist ab und schreibt, bezogen auf seinen Zeitgenossen und Religionsphilosophen Friedrich Gogarten: „Bei Gogarten fängt das große Wunder mit dem Tode an, bei mir mit der Geburt.“[17] Sturm setzt sich zeitlebens mit Schleiermacher auseinander und schafft 120 Jahre nach Erscheinen von Schleiermachers Über die Religion“ einen geschlossenen Religionsentwurf, der hier vorliegt und heute ebenso aktuell ist wie damals. Schleiermachers Kritik an der Kirche seiner Zeit betrifft das Glauben und das Vollziehen von Gebräuchen anstelle von Anschauen und Fühlen. Er vermisst 'wahre Priester', eine 'wahre Kirche' für das 'wahre Prinzip der Religion' und nennt die Kirche 'Anstalt für die Lehrlinge in der Religion' oder 'Gesellschaft' und ersehnt ein goldenes Zeitalter der Religion nach von ihm angekündigten bevorstehenden Umwälzungen.[18]

Die Kritiker des liberalen Schleiermacher sind Karl Barth, Friedrich Gogarten, Rudolf Bultmann, Rudolf Otto, letzterer findet den Begriff „fromme Abhängigkeit“ für Andacht und Ergriffenheit als treffend gewählt, unterwirft ihn allerdings einer kritischen Analyse. Sturm nimmt in der folgenden Hauptschrift mehrfach zu dem von Otto so bezeichneten „Gefühl der Abhängigkeit“ kritisch Stellung .

Schleiermacher und Kant haben mit ihrer Kritik entscheidenden Einfluss auf die Theologen, insbesondere auf Paul Sturm genommen. 1793 erschien von Kant „Die Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft“ im Rahmen der allgemeinen Aufklärung und der Dialoge in literarischen, philosophischen und theologischen Fragen. Für Kant ist Gott als „Schöpfer der Naturdinge“ auch oberster Gesetzgeber und es kann für einen „göttlichen Staat“ mit Menschen guten Lebenswandels nur eine ethische, eine moralische Gesetzgebung gemäß Vernunft, Herz und Gewissen geben. Das ist für ihn reine Vernunft. Die Annäherung zum höchst möglichen Guten im Lebenswandel und der moralischen Gesinnung auf Erden, der Liebe als innerstem Gesetz und der Liebe als Pflicht sind ihm Maß und führen für Kant unweigerlich zur Religion.[19] Kant grenzt „Kirchenglauben“ [Bereich der Theologie], der für ihn auf historischen Statuten, Lehren aus göttlicher Offenbarung beruht, verknüpft mit einem Kultus, klar gegenüber einem „reinen Vernunftglauben“ [Bereich der Philosophie] ab. Der Vernunftglaube gründet sich gänzlich auf Verbesserung des Menschen innerhalb der Freiheit eines jeden und in Achtung des Sittengesetzes.[20] Für Kant möge Kirchenglauben allmählich zur allgemeinen Vernunftreligion übergehen und so zu einem [göttlichen], ethischen Staat auf Erden werden,[21] ohne Aberglauben, Sektenspaltung, sondern mit moralischer Herzensgesinnung und „Liebe als innerem Gesetz“. „Die Idee eines höchsten Gutes in der Welt“ [Gott] ist für Kant das höchste in uns lebende Ideal für unser Streben.[22] Die Öffnung für einen ethischen Staat auf Erden mit einer von der Vernunft geleiteten Religion bedeutet auch eine Öffnung für Toleranz gegenüber anderen Religionen, womit in der Zukunft ein Fundament für eine allgemeine Weltreligion gelegt werden kann, die Frieden stiftet statt Kreuzzüge und Wissenschaftsfeindlichkeit. Kants Kritik führte zu einer „Moralphilosophie“, wie Sturm sie bezeichnet. Sturm geht auch begrifflich über den „Vernunftglauben“ hinaus, sein Weg ist der „vom Glauben zum Wissen“ und dieses Wissen stammt aus einer umfassenden Gotteserfahrung, einem Gott-erleben, das bei Kant in der Weise, wie es bei Sturm entwickelt wird, noch nicht zu finden ist.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich [1770-1831] darf hier nicht ungenannt bleiben. Mit seinem unmittelbar nach dem Theologiestudium 1795 24-jährig fertiggestellten „Leben Jesu“ im Range eines Kandidaten der Theologie in Württemberg, das damals als „protestantisches Spanien“ bezeichnet wurde. Die Veröffentlichung erfolgte nicht zu Lebzeiten, sondern erst 1907 aus dem Nachlass. Die Entstehung dieses Werkes war seinerzeit von Kants kritischer Philosophie und der Fanzösischen Revolution gesäumt. Hegel hat aus dem Leben Jesu alles Übernatürliche, jeden Mythus getilgt, Jesus endetohne Wundertaten, Prophezeiung und Himmelfahrt am Kreuz.[23] Der „vernunftbegabte Mensch“ erfüllt allein durch den Glauben an die Vernunft seine hohe Bestimmung. Er wird von der Vernunft geleitet und veredelt. Der unvergängliche Schatz in einem jeden Menschen ist für Hegel der Reichtum an Moralität und das führt zum höchsten Ziel des Bestrebens, dem „Reich Gottes“, dem Reich der Sittlichkeit. Gottes Wille ist nur durch die Gesetze der Vernunft erfahrbar.[24] „Gott verlangt Liebe, nicht Opfer.“[25] Das finden wir auch bei Kant und werden es bei Sturm in der „Vernunftreligion“ wieder finden.

Kant, Hegel und Schleiermacher gehören für Sturm zu den wesentlichen geistigen Vätern und führen ihn zu Friedrich Nietzsche, den er seinen Vorläufer nennt. Sturm charakterisiert Nietzsches Vorgehen in seinem Artikel im „Thüringer Land“ als „bedingungsloses Niederreißen des alten Tempels christlicher Religion,“ Nietzsche, der auch „Götzenbilder erzittern lässt“. „Dieser Angriff ist allerdings nur gegen eine 'bestimmte Art der Religionsauffassung' gerichtet und will nicht den 'Gottesglauben schlechthin' bekämpfen, sondern nur einen ganz bestimmten Gottesbegriff.“ Das Weltbild des idealistisch ausgerichteten Philosophen ist ohne ein göttliches Prinzip nicht denkbar. Sturm sieht Nietzsche als einen geistigen Revolutionär, der in seinem „Zarathustra“ als der „große Moralprediger beseelt von heißer Wahrheitsliebe der Welt einen Spiegel vorhält. Dies tut er mit rücksichtsloser Schärfe, indem er bestehende Institutionen und Ordnungen geißelt. Mit prophetischem Hellblick begabt, wird er zum Verkünder eines neuen Ethos. […] Als Ausdeuter alter ewig unverbrüchlicher göttlicher Gesetze mahnt er zu Tugend, zu Reinheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Opfermut.“[26] Sturm: „Nietzsche ist mehr als ein großer Dichter Thüringens, er ist ein überragendes Genie, ein Prophet, der mit klarem Blick die Zukunft des Weltbildes erahnt.“[27]

Sturm schreibt in seinen „Gesammelten Blättern“ 1923:

„ Mag einer den Namen Nietzsches nicht richtig schreiben,
wenn er ihn nur–g r o ßschreibt.“Paul Sturm

Er setzt in den Gesammelten Blättern fort: „Aber wie – Nietzsche, der Atheist und Kirchenfeind in der Reihe der Gottesmänner? Ja: denn weder ihm, noch irgend einem der vielen anderen als Ketzer verschrieenen Dichtern und Denkern ist es je eingefallen, Gott zu leugnen. Wie solltensieauchdas leugnen, wasein ganzes Lebenhindurch vorihren Augen war! Dem Dasein, d. i. G o t twandten sie vielmehr ihr ganzes Interesse und ihre Liebe zu. Sie haben vielleicht nur einen anderen Namen für ihn. Keinesfalls aber gilt ihr Leugnen und ihre Absage Gott, sondern immer nur einer bestimmten Auffassung von Gott, der sie ihre eigne entgegensetzen. [Sie sind] erfüllt von allzu großer Menschenliebe und Demut, mit Achtung auch vor der Überzeugung anderer hat, abgestoßen von der selbstherrlich-intoleranten Art, [die man in Sachen Religion] … am allerwenigsten erwarten sollte. Darum standen sie der jeweils gültigen Volksreligion und ihrem Dogma gleichgültig – oder wie Jesus – feindlich gegenüber. Ja, auch Nietzsche gehört hierher. Luther, Kant, Nietzsche heißen unsere deutschen Propheten. Sie sind die wahren Nachfolger Jesu, nicht seine Nachahmer und Nachbeter, sondern ganz und in allem Eigene wie er. Er [Jesus] war ihr großer Lehrmeister. Wir streiten nicht darüber, ob er ein menschlicher Gott oder nur ein göttlicher Mensch gewesen ist. Wir brauchen, wenn wir ihm nacheifern wollen, ja nicht zu wissen wer, sondern nur wie er war.“ [28]

Karl Jaspers begreift Nietzsche ebenso wie Sturm und schreibt: „Sein Kampf gegen das Christentum will keineswegs das Christentum einfach preisgeben, […] sondern er will es überwinden und überbieten und zwar mit Kräften, die das Christentum, und in der Welt nur dieses entwickelt hat.“[29] „…er will aus Moral mehr als Moral“ und stellt sich aus christlichen Antrieben gegen das Christentum.“[30]„Das Christentum als Glaubensinhalt und Dogma ist ihm von Anfang an fremd; nur als eine menschliche Wahrheit in Symbolen bejaht er das Christentum (1862)“ führt Jaspers weiter aus [31]ebenso wie Paul Sturm in seinen Schriften. Nietzsche selbst sagt: „…Dass Gott Mensch geworden ist, weist darauf hin, dass der Mensch nicht im Unendlichen seine Seligkeit suchen soll, sondern auf der Erde seinen Himmel gründe. […] Was mich abgrenzt, das ist, die christliche Moral entdeckt zu haben […] – die bösartigste Form des Willens zur Lüge…“[32]

„Gott ist tot“ für die Welt. Das heißt für Nietzsche nicht: „Es gibt keinen Gott“ und auch nicht: „Ich glaube nicht an Gott.“ Jaspers nennt dies eine psychologische Feststellung oder „Seins-Wahrnehmung“ Nietzsches hinsichtlich der wachsenden Glaubenslosigkeit.[33]„Wir haben ihn getötet.“[34]Jaspers erklärt: Die Ursache des Todes Gottes ist für Nietzsche das Christentum. Denn vom Christentum wurde einst alle Wahrheit zerstört, aus der der Mensch vordem lebte: die Wahrheit des Lebens vorsokratischer Griechen und diese wurde durch Fiktionen ersetzt wie: Gott, moralische Weltordnung, Unsterblichkeit, Sünde, Gnade und Erlösung.[35] Nietzsche beschreibt Jesu Grundhaltung dieses wahren, dieses ewigen Lebens so, dass es keine Gegensätze mehr gibt, man nirgends Widerstand leistet, weder im Wort noch im Herzen, dass man nichts verneint, alles bejaht – Jesus nennt diese Haltung Liebe[36]. Er fährt fort: „Das Christentum ist von Anfang an eine vollständige Verkehrung dessen, was Wahrheit für Jesus war.“ „Im Grunde gab es nur einen Christen und der starb am Kreuz.“[37]Jaspers: „ … das letzte Wort ist von ihm nie und nirgends gesprochen.“„Er führt uns ständig in seinen Denkprozessen zu Zwei- und Mehrdeutigkeiten, zur Gegeninstanz. Alles wird auf uns gelegt. Wahr ist nur, was durch Nietzsche aus uns selber kommt.“[38]Schreibt ein Gott-Verächter ein solches Gedicht wie dieses: „Dem unbekannten Gott“?!

Die theologischen Debatten im Protestantismus in Deutschland um die Jahrhundertwende des 19. zum 20. Jahrhundert

wurden von verschiedensten Vertretern, Richtungen und Bewegungen geprägt. Das „praktische Christentum“ z. B. trennte sich von dem„Seligkeits-Christentum“, das nur vom Himmel redet. Christlich soziale Ideen suchen ein Podium, Anhänger eines freien Christentums finden sich zur Diskussion der wichtigsten religiös-theologischen Probleme der damaligen Zeit. Der deutsche Theologe Martin Rade [1857-1940] pflegt schon 1907 den Kontakt zu den Religiös-Liberalen, den sogenannten Unitariern[39] in den USA zu deren Kongress, die damals dort schon 450 Gemeinden zählten.[40] Die erste „Freie unitarische Religionsgemeinschaft“ in Deutschland entstand schon 1845 in Frankfurt. Sie betrachten sich kirchengeschichtlich als konsequenten Flügel der Reformation und im Sinne der Bergpredigt Jesu als Christen mit strikter Toleranz allen anderen Glaubensformen gegenüber. Ihre religiösen Erkenntnisse schöpfen sie aus inspirierten Schriften alle Religionen, aus eigener innerer Erfahrung und der Betrachtung der Welt. Wissenschaftliche Erkenntnis kollidiert nicht mit Religiosität, neue Erkenntnisse können auch Religiosität wandeln.1963 übernahm Albert Schweitzer (Theologe, Philosoph, Arzt, Musiker) die Schirmherrschaft über die „Unitarische Kirche in Berlin“. Ihn nennt Paul Sturm meinen „geistigen Zwillingsbruder“[41]. Geistig war Sturm den Unitariern ganz nah, ohne bedauerlicherweise einst Kontakt zu ihnen bekommen zu haben.

Die Spanne der theologischen Ausrichtungen reicht von der lutherischen Orthodoxie eines Theodosius Harnack, Vater von Adolf Harnack, über die Vermittlungstheologie [Protestanten-verein], die mit der politisch liberalen Bewegung in Verbindung zu sehen war, bis zur kritischen Theologie der Tübinger Linken.
Albrecht Ritschl [1822-1889] soll hier erwähnt werden, der um 1860 eine Neuorientierung der evangelischen Theologie mit eingeleitet hat im Einklang mit der allgemeinen Kulturentwicklung der Zeit in nationaler und liberaler Aufbruchstimmung (Kulturprotestantismus vorzüglich in Städten).[42] Er forderte eine kirchliche Restauration zu einerneuen „strammen protestantischen Kirche“, gereinigt vom Katholizismus und Pietismus als „geistige Macht“, kritisch den bestehenden Dogmen gegenüber. Der Kern seiner Lehre ist die Person Jesus Christus, in religiöser Sicht ist er von Schleiermacher und im ethischen Handeln von Kant geprägt. Dies gilt auch für seine Mitstreiter.[43] Adolf Harnack, Ernst Troeltsch und Martin Rade wurden Schlüsselfiguren dieser Entwicklung, besonders Harnack als Wortführer der liberalen Theologie. Sie gründeten und leiteten mit anderen ab 1887 den Verlag die „Christliche Welt“, ein „Evangelisch-Lutherisches-Gemeindeblatt für die gebildeten Glieder der evangelischen Kirchen“. Dieses war ein liberales Organ (erschien bis 1941) und war die angesehenste Zeitschrift der deutschen Protestanten, in der man über dem Streit aller theologischen Richtungen und politischen Parteien stehen und neutral berichten wollte. Trotz der großen Meinungsverschiedenheiten auf theologischem wie kirchlichen Gebiet war es ein gegenseitiges Tragen und ein sich einig Wissen, was Jahrzehnte hindurch etwas ganz Besonderes im deutschen Geistesleben bedeutete. U. a. gehörten Rudolf Bultmann und Friedrich Gogarten zu den „Freunden der Christlichen Welt“, Karl Barth aus seinem Studium bei Harnack liberal beeinflusst, war sogar einige Zeit Hilfsredakteur, um nur einige zu nennen.[44]

Johannes Rathje beschreibt in seinem Buch, dass es seinerzeit in den großen deutschen Kirchengebieten mit lutheranischer Grundlage eine Schwierigkeit gewesen sei, in eine Aktion für „freies Christentum“ in Deutschland einzutreten. Er begründet die Notwendigkeit dieser Aktion damit, dass die Reformation hier keine „Revolution“ gewesen sei, sondern nur eine „reformierte katholische Kirche“ entstanden sei – im Gegensatz zu den Reformierten außerhalb Deutschlands, den Calvinisten, die er als „neue Kirche“ bezeichnet.[45]
In der „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt“ wurden folgende Beschlüsse gefasst:

1unbedingte Freiheit der theologischen Wissenschaft und das Recht öffentlicher Aussprache,
2Freiheit der Überzeugungsbildung für die künftigen evangelischen Geistlichen und Lehrer, Schutz der im Amte stehenden gegen Engherzigkeit, willkürliche Zensur bei ihrer Wirksamkeit,
3Bekämpfung starrer, uniformierter Regeln bei Gottesdienst und kirchlichem Gemeindeleben,
4dem Bedürfnis der Gemeindemitglieder nach Klärung und Vertiefung religiöser Erkenntnis muss entsprochen werden, um die Abwendung vieler Mitglieder zu verhindern.[46]

Zu den alljährlichen Eisenacher Zusammenkünften von Protestanten fanden sich hunderte gesinnungsverwandter, offener Theologen aus ganz Deutschland ein, um den Kampf gegen das rettungslos Veraltete in der Kaiserzeit aufzunehmen, was allerdings nicht immer Ergebnisse zeitigte. Es war wohl bisher in der Geschichte der evangelische Kirche noch nicht da gewesen, dass trotz einschneidender Differenzen untereinander versucht wurde, das Christentum des anderen achten zu lernen. 1910 erfolgte der 5. Weltkongress „Für freies Christentum und religiösen Fortschritt“ in Berlin, Martin Rade wurde in das Komitee gewählt und argumentiert: „Wir haben mit einer vertieften Auffassung unseres kirchlichen Christentums den Kampf für größere Freiheit zu verbinden.[47] 1913 nahmen 'die Freunde' der „Christlichen Welt“ am 6. Welt-Kongresse „Für freies Christentum und religiösen Fortschritt“ in Paris teil, von beiden nahmen die landeskirchlichen Behörden keinerlei Notiz. Rudolf Otto [der spätere Lehrer Sturms], derzeit Mitglied der „Freunde der Christlichen Welt“, hatte das Hauptreferat übernommen, dies war ein bedeutender Beitrag auf dem Kongress: „Ist eine Universalreligion möglich? Und wenn, wie kann man sie erreichen?“ Seine Antwort lautete, sie sei schon längst im Werden und werde sich auch unter den christlichen Religionen entwickeln können und sie sei wünschenswert, nicht allerdings in einer Universalorganisation der Menschheit und organisierten Kulten möglich.[48] Rade sagte dazu: „Die Weite, mit der dort jeder Religion ihre innere Entwicklung zuerkannt, und die Entschiedenheit, mit der dasselbe Recht sich geltend zu machen mit all seinen Zukunftsansprüchen insbesondere für das Christentum reklamiert wurde, liegt auf der Linie unseres besten Wollens.“[49]

1914 noch vor Kriegsausbruch begann die kirchliche Freundschaftsarbeit mit England, Irland und den USA zur Vorbereitung für einen Weltkongress in London. Harnack war Mit-Initiator und seine Rede in London – ein Denkmal von kirchlicher und politischer Bedeutung – reichte bis in die USA. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges begann eine tiefe Spaltung innerhalb der Theologen, die so hoffnungsvoll auf eine Erneuerung des Protestantismus seit der Jahrhundertwende hingearbeitet hatten. Sie sahen auch ihre internationalen Bemühungen um gegenseitiges Religionsverständnis völlig zerstört und waren dazu in ihrem Glauben erschüttert. Die Aufbruchstimmung in Religion, Kultur und Gesellschaft in Deutschland brach jäh ab. Das Land war nach dem Krieg wirtschaftlich, kulturell und geistig am Boden. Dann setzte die Hyperinflation ein und nach einem neuen kurzen kulturellen und geistigen Aufschwung zugleich die Abspaltung der dialektischen Theologen unter Karl Barth sowie die politische Differenzierung vor und in der einsetzenden kirchenfeindlichen Diktatur Hitlers in die „Deutschen Christen“ – schon 1929 in Thüringen – und die „Bekennende Kirche“ unter dem Widerständler Martin Niemöller.. Das große Ziel einer Erneuerung der Kirche insgesamt sowie der Neuordnung der 29 Landeskirchen in der Nach-Kaiserzeit konnte innerkirchlich nicht mehr geschehen.

Hier muss besonders auf zwei Theologen eingegangen werden, die maßgeblich in dieser Zeit gewirkt haben, das sind Karl Barth und Rudolf Bultmann. Karl Barth [1886-1968] genießt unter den Theologen den Ruf des Kirchenvaters des 20. Jahrhunderts. Seine Rolle muss hier kurz beleuchtet werden, da er sowohl theologisch als auch politisch aus der Gruppe der „Freunde der Christlichen Welt“ herausragt. Anfangs war er an der liberalen Zeitschrift „Christliche Welt“ Hilfsredakteur, dann aber durch die große Erschütterung, die der Erste Weltkrieg bei ihm als Pazifisten hervorrief, rang er um ein neues Welt-Gott-Verständnis für sich als Theologe. Die meisten seiner Kollegen und Lehrer hatten den Krieg bejaht. Die Zerrüttung der bürgerlichen Werte und der Kulturvorstellung veranlassten ihn, sich nach dem Versagen der Kirche insgesamt gegenüber dem selbst verschuldeten Ersten Weltkrieg dem Wort Gottes, d. h. der Bibel zuzuwenden und besonders Paulus letztem Brief an die Römer.

Die Arbeit daran und das Studium der Reformatoren Luther und Calvin schlugen sich in einem „Kommentar zum Römerbrief“ nieder. Dieser erschien 1919, in sehr überarbeiteter Form 1922 noch einmal. Barth war ein großer Verehrer von Schleiermacher und den „Reden über die Religion“ sowie von Otto und dessen Hauptwerk „Das Heilige“. Barth gelangt zu einer radikalen Gegenüberstellung „von Werk und Glauben“ und steht vor dem Problem, als Theologe über Gott reden zu sollen, es aber als Mensch nicht zu können. Diese Dialektik führt ihn zu Jesus Christus, der Gott offenbart. Das bedeutet, er sieht die Transzendenz Gottes nur in Christus, der „Einheit von Gott und Menschen“. Gott selber ist für Barth nur durch sein Wort aus dem Munde Christi, also aus der Bibel erfahrbar. Für Barth wird derG l a u b edas Zentrale und dieser Glaube erwächst aus einer gelungenen Predigt, aus „dem Wort Gottes in Christus“. So bekommt auch das Trinitätsdogma durch Barth wieder eine stärkere Bedeutung.[50] Auf die Frage, was Barth unter „religio“ versteht, antwortet er „Glaube und Gehorsam“, an anderer Stelle aus: Gehorsam folgt Glauben..[51]

Bultmann kritisiert Barth anfangs heftig, weil dieser sich mit seiner neuen „Wort-Gottes-Theologie“ gegen die psychologisierende, historisierende Auffassung der Religion oder sogenannten liberalen Theologie wendet und schreibt: Barth „kämpft gegen allen Erlebniskult“ und gegen die Auffassung, dass die Religion ein „Kulturphänomen“ sei. Bultmann, Barth und dessen Lehrer Harnack waren zuvorliberaleGleichgesinnte, die damals wie viele liberale Vertreter um Martin Rade und die „Christliche Welt“ diee i g e n eG o t t e s e r k e n n t n i soderG o t t e s e r f a h r u n gsuchten.Ein solcher Sucher in jener wie auch in der folgenden Zeit war auch Paul Sturm.

Die Debatte zwischen Barth und Brunner, seinem zeitweiligen theologischen Mitstreiter für diedialektische Theologie und zwischen Barth und den liberalen Theologen hielt an und wurde allmählich zurKluft zwischen ihnen.[52] Die Diskussion zwischen Barth und Bultmann, der sich dem Thema der Entmythologisierung des Neuen Testamentes zuwandte, wie auch mit Gogarten[53], riss bis 1966 nicht ab.[54] Mit der so genannten „dialektischen Theologie“ war eine neue Epoche der evangelischen Theologie entstanden. Diese neue Bewegung war ein Schritt zurück in die Orthodoxie. Die zwei wichtigen Liberalen Ernst Troeltsch und Paul Tillich, Gegner Barths, fehlten in der Debatte durch frühen Tod 1923 bzw. Emigration schon 1933 in die USA. Paul Tillich ist mit Albert Schweitzer nach Gründung des „Bundes für freies Christentum“ 1948 prägendes Mitglied.

Sturm bezeichnet Barth als extrem orthodox und äußert erstaunt, dass sich Barth zum Offenbarungsgedanken einmal dahingehend bekannt hat, dass es auch außerhalb der Bibel Wahrheiten gäbe, also Offenbarungen.[55] Barths Rückwendung zur Offenbarungsreligion, die dasChristentum von allen anderen Religionen trennt, steht nicht nur der Suche nach Erneuerung des Protestantismus entgegen, sondern auch dem ökumenischen Gedanken einer Weltreligion, der alle Suchenden Anfang des Jahrhunderts bewegte.[56] Es ist notwendig, Barths konsequente politische Haltung bei der beginnenden christenfeindlichen Diktatur in der Gleichschaltung der evangelischen Kirche mit der Nazi-Ideologie zu würdigen. Er verweigerte den Beamteneid auf Hitler, verlor seine Lehrtätikeit an der Universität und stand dann Martin Niemöller bei der Gründung der „Bekennenden Kirche“ geistig zur Seite.[57] Barth wehrte sich 1933 mit einer Schift „Theologische Existenz heute“ grundsätzlich gegen eine Reichskirche mit Reichsbischof, er schreibt, eine Kirchenreform sei ausschließlich Angelegenheit der Kirche selbst.[58] Er verließ Deutschland, lehrte in der Schweiz und wurde 1940 Soldat im bewaffneten Hilfsdienst für eine Abwehr gegen eine Hitlerinvasion. Nach 1945 setzte er sich wiederum für die Versöhnung mit den Deutschen ein.

Über Friedrich Gogarten [1887-1967] sagt Sturm:“ „Bei Gogarten fängt das große Wunder mit dem Tode an, bei mir mit der Geburt.“ [59] Und er führt fort über Gogarten (der Abgott vieler positiver Theologen!), der einmal sagte, „wenn man den Mythos als Wirklichkeit ausgibt, fügt man der Religion schweren Schaden zu. Anerkennend Sturm dann: So weit sind wir heute schon!“ [60] Gogartens Generalthema war „Der Mensch zwischen Gott und Welt“.

Rudolf Bultmann [1884-1976] gehört in den 20-er Jahren zu dem Kreis der liberalen Theologen um Martin Rade und ist ein Schüler von Adolf von Harnack, der den Kulturprotestantismus wesentlich vertreten hat. Nach der seelischen Erschütterung, die der Kriegsbeginn 1914 und damit das Scheitern der Bemühungen um eine Erneuerung des Christentumsin ihm auslösten, wandte er sich allmählich von der liberalen Theologie ab und dem Studium der Existenzphilosophie Heideggers zu. Er beschäftigte sich mit historisch-kritischer Forschung der Bibel im Interesse seines Themas „Existenz des Glaubens“. Dies hat ihn immer mehr in Opposition zu Barth gebracht und die Gemeinsamkeiten mit Brunner deutlicher werden lassen.[61] Sein wesentliches Thema ist die 1941 begonnene „Entmythologisierung“, die Jaspers folgendermaßen erläutert:
„Die mythologische Sprache ist Chiffrensprache…für die Transzendenz, für den transzendenten Gott.“[62] Bultmann sagt dazu selbst: „Ziel ist nicht das Entfernen mythologischer Aussagen, sondern ihre Auslegung. [Entmythologisierung] ist eine Deutungsmethode.“[63] Hinter dem Mythos möchte er die tiefere Bedeutung des Mythos aufdecken. Bultmann sieht durch das moderne Weltbild und die Wissenschaftdie biblischenGlaubensgegenständebedroht oderzerstört und möchte denG l a u –
b e n durch seine existentiale Interpretation retten.[64] Jaspers Kritik daran ist: dass der Mythus„Bedeutungsträger“ ist und eine Deutung rational nicht möglich ist. „Vielmehr geschieht die Deutung durch neue Mythen…Mythen interpretieren einander.“ „Weil Bultmann den Gehalt mythischer Sprache als unübersetzbare Wahrheit verkennt, wirkt sein Denken…fast erstickend auf Jaspers.“[65]

Er glaubt, dass sich hinter Bultmanns Bemühen der Kampf der Orthodoxie gegen die Liberalität verbirgt. Orthodoxie herrscht nach Jaspers dort, wo Bewegung im Wissen aufhört, wo vollendetes Bescheid-Wissen oder Fertigsein herrscht und er schreibt „Liberalität ist im Bunde mit der echten Aufklärung, der unaufhaltsamen verantwortlichen Bewegung der Vernunft, ohne je vollendet zu sein…“ Er mutmaßt, Theologen machen es sich wohl immer wieder zur Aufgabe, den Glauben gegen die Aufklärung zu retten. Bultmanns Methode hierin ist, die Aufklärung maximal zu akzeptieren, um denG l a u b e ndann „um so entschiedener zu behaupten“, d. h. die Orthodoxie zu stabilisieren.[66]

Am deutlichsten tritt Orthodoxie zutage, wenn es um den „Glauben an dieOffenbarung“ geht, die „Offenbarung Gottes“ als von Menschen empfangene Stimme Gottes, Tat Gottes. Jaspers schreibt: „Diese Offenbarung wird in der Liberalität nicht geglaubt“, … „Orthodoxie verlangt das Bekenntnis des Glaubens an die Offenbarung“und die Offenbarung durch Menschen bezeugt, aus der Bibel, über die Kirche vermittelt gebietet Gehorsam „der Stimme Gottes“ und gegenüber den Aussagenund „diesen Gehorsam nennen sie G l a u b e n“.[67] Bultmann hält am Heilsgeschehen fest, seine „Position ist ganz und gar orthodox trotz der Liberalität des Forschers“ in ihm. Liberalität lässt Offenbarungsglauben „an ein Heilsgeschehen gelten als mögliche Wahrheit für den, der es glaubt, sofern der Gläubige nicht durch Tat und Wort“ die Freiheit des anderen zerstört oder mit Gewalt zwingen möchte.[68]

Sturm wird seine Sicht der „sukzessiven Offenbarung“ auf allen Gebieten, so auch auf dem Gebiet der Religion im Folgenden ausführlich darlegen. Zur Entmythologisierung, die er vom Begriff ausgehend wörtlich auffasst, schreibt er, „dass man dabei nicht stehen bleiben darf. Wenn Jesus nicht mehr Gott, sondern Mensch und sein Wort nicht mehr Gotteswort, sondern Menschenwort“ ist, und ein Vakuum entstanden ist, wird der vorwissenschaftliche Charakter der biblischen Offenbarung deutlich. Man erkennt, ohne eine neue Offenbarung, nun aber keine vorwissenschaftliche, sondernd i ewissenschaftlicheOffenbarung, kommt man nicht aus. Und es gibt, wie er zeigen wird, nur einew a h r eOffenbarung.[69] An anderer Stelle fährt er fort „Die Kirche unterschlägt die gesamte außerbiblische Gottesoffenbarung, sie vergottet und verabsolutiert die Vergangenheit und schlägt die Gegenwart ans Kreuz.“ [70]

Bultmann spricht davon, dass Theologie und Philosophie eins werden müssen[71], was Sturm aufgreift und Jaspers erinnert daran, dass sie bei Plato, den Stoikern, Origenes, Augustin und Cusanus schon einmal eine Einheit gewesen sind, nicht aber zwischen R e l i g i o n und Philosophie. Jaspers versteht unter Religion eine nicht „begründbare Wirklichkeitsquelle“, mit heiligen Orten, Büchern, Kultus und Gebet und in ihrer Weise von der Philosophie nicht zu erreichen. Jaspers fürchtet, dass Philosophie nur einzelne Menschen erreicht, während Religion sich an alle wenden soll und eine „philosophische Religion“ alle Merkmale einer lebendigen Religion entbehren würde.[72]
Diesen Widerspruch löst Sturm auf, er schafft mit einem neuen Seinsbegriff und einer erweiterten Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis seinen „philosophischen Religionsentwurf“ und er legt in seinen Ausführungen dar, dass man mit Hilfe der Philosophie nicht zue i n e rbestimmten Religion gelangt, sondern letztendlich zu „allen Religionen“. Als Philosoph und Theologe ist für ihn auch die Intention einer möglichen „Weltreligion“ eingeschlossen.

Paul Sturm hat sich intensiv mit Karl Jaspers [1883-1969] beschäftigt und fühlte sich ihm geistig sehr verbunden. Ist er doch der einzige Philosoph seiner Zeit, der sich so intensiv mit dem der Theologie und dem Christentum auseinandersetzt. Zu einem geistigen Austausch mit ihm ist es bedauerlicherweise wegen der Isolation in der DDR nicht gekommen. An einer Stelle schreibt er: „Karl Jaspers, du hast der Welt ein monumentales Werk geschenkt und durch deine Schriften mir und vielen tausend anderen erbauliche Stunden bereitet. Ich danke dir im Namen aller dafür. Ich bewundere deine große Phantasie auf dem Gebiet der Philosophie und deine enorme Einfühlungskunst auf dem der Psychologie.[73] Sturm nimmt auch intensiv zur Debatte derEntmythologisierung Stellung, besonders zur Schrift von Jaspers und Bultmann und kritisiert auch Jaspers ob der Verteidigung der Gültigkeit des Mythos für besondere Bereiche.

Im Zwiegespräch mit Heinz Zahrnt[74] begründet Jaspers, warum er sich so stark mit den Kirchen der biblischen Religionen auseinander setzt und formuliert: „Was aus Kirchen wird, entscheidet vielleicht das Schicksal des Abendlandes.“ Er sorgt sich, dass der allgemeine Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Glaubens die immer wiederkehrende Forderung nach „Wandlung und Erneuerung des Christentums von seinem Grunde her“ immer wieder laut und immer lauter werden lässt. Die Furcht der Kirche, sie könne mit der Preisgabe des Glaubens an den „Gottmenschen“ Jesus Christus zusammenbrechen, mag ihre Widerstände erklären. Die aktuellen Wandlungen der gesamten Weltsituation und die individuellen Entwicklungen der Menschen geschehen schon zu Jaspers Zeit außerhalb und neben der Kirche.[75] Unter den Bedingungen des technisch-wissenschaftlichen Zeitalters kann auch das Christentum so nicht bleiben, wie es ist.

Die notwendige Wandlung wird tiefer sein müssen als alle früheren Wandlungen oder es stirbt ab. Es wird eine Neugeburt sein, wodurch das Versinken des Menschen, das wir heute [1963] beobachten,aufgehalten, überwunden werden. Glaube, Verkündigung, Lebenspraxis werden eine radikale Verwandlung erfahren und die „Gehäuse kirchlicher Dogmen und Institutionen“ eingeschmolzen werden, so auch der Mythus „Jesus Christus als Gottmensch“. Es muss anerkannt werden, dass „Gott durch viele Menschen spricht“, nicht nur durch einen und dass die Philosophie auf die Religion zugeht. In der Kirche und von der Kirche selber ausgehend müsste die Wandlung geschehen.[76] Ist der „philosophische Glaube“ eine Lösung?“[77] Es ist eine Verwandlung der Religion in Philosophie zu erwarten. Aber wird dies eine „philosophische“ Religion sein können? Wird es ein Weg einer Minderheit werden? Wenn nicht die „ewige Wahrheit der biblischen Religion“ verloren gehen soll, muss die „Wiederherstellung der ewigen Wahrheit“bis in die letzten Ursprünge gehen, um diese Wahrheit in „neuer Sprache“ zur Erscheinung bringen. Der Philosoph Karl Jaspers sagt, er kann dem Theologen nicht sagen, wie er es machen muss, er kann nur den Boden mit bereiten.[78]
„Der Kirchenmann“ Paul Sturm hat als Theologe und Philosoph ein Leben lang um die Wiederherstellung ewiger Wahrheiten gerungen.

Einführung in das Werk von Paul Sturm

„Seit Schleiermacher und dem auf ihm fußenden Rudolf Otto wissen wir: Religion oder, was dasselbe ist: das Religiöse, das Heilige sind das Schöne, das Wahre und das Gute, wie das Ästhetische, das Philosophische und das Ethische etwas ganz Bestimmtes. Es ist „ein Problem“ und wer das Problem gelöst hat, wer die Frage, was ist Religion (?) richtig und vollständig beantwortet hat und alle damit in Verbindung stehenden weltanschaulichen Fragen, der hat nichte i n eReligion, sondern der hatd i eReligion geschaffen, die Religion auf (wissenschaftlicher) philosophische Grundlage, die objektive und für alle Menschen und alle Zeiten Gültigkeit besitzt.“[79]
Gott ist nicht die Ursache des Seins, sondern das Sein ist die Ursache von Gott. Dieses Sein teilt die Welt mit Gott. Daher ist das Sein wie Gott ein Mysterium. Und das Vale aluid, das Heilige ist dieses Sein, diese diesseitige Welt (vom Jenseits wissen wir nichts).

Daraus folgt ein anderer Frömmigkeitsbegriff:
Das Gotterleben im Seinswunder, Gotterleben wird in der Natur und der Kunst (das Buch der Natur ist die Bibel) und in religiösen, philosophischen und anderen Schriften Inspirierter erfahren, d. h. Gegenstand frommer Erbauung sind: das Leben, die Natur, die Kunst und die Philosophie.
Wie die Aspekte des Göttlichen seit der Antike: das Schöne, Wahre und Gute ist das Göttliche nur in Gottes Werken erlebbar: in den Sinnen (im Ästhetischen),
in dem Verstand (im Philosophischen),
im Willen (im ethischen Handeln).

Die Gotteserkenntnis aus Gottes Werken führt zur Gottesgewissheit: weg vom „Glauben an Gott ohne Gottes-Gewissheit“ – zum„Wissen von Gott“.

Gott als Prototyp des Schöpferischen: initiiert Propheten, Denker, Dichter, Künstler, die mit jeder neuen Erkenntnis der religiösen Wahrheit näher kommen: die ist eine sukzessive, nie abge-schlossene Offenbarung.

Die Gotteserkenntnis über Gottes Werk schafft eine neue Form des Betens, eine immerwährende Gottverbundenheit anstelle ritualisiertem Beten oder an Dogmen festgemachte Zeremonien.

Religion wird von Schopenhauer als Popularphilosophie bezeichnet und sie muß nach Sturm Philosophie werden dadurch, dass sie in zeitgemäße Form übersetzt und philosophisch begründet wird, denn Jesus ist für Sturm Mensch, Philosoph, Dichterphilosoph von höchster Inspiration (Gott gleichgeschaltet) und von einmaliger Sprachgewalt.

In der jetzigen wissenschaftlichen Epoche wird schon lange nicht mehr mythisch-vorwissenschaft-liches, sondern wissenschaftlich-mythusfreies (philosophisches) Denken inspiriert. Da der moderne Mensch erkennt, es gibt nur eine Wahrheit, wird es auch nur eine wahre Religion geben können.

Es soll keine „neue Religion“ geschaffen werden, sondern die „Menschheitsreligion“ soll auf der Basis der Lehren Jesu wieder zu einer Jesuslehre erhoben werden heute als philosophische Religion, eine Vernunftreligion im wissenschaftlichen Zeitalter, ohne die Verirrungen des Paulus in die Dogmatik. Denn jedes Dogma hält an längt überkommenen fest und lässt keine neuen Offenbarungen zu.

Zur Unsterblichkeit hat Sturm einige logische Erklärungen:
Der Trieb nach Vollkommenheit ist ein Beweis für die Unvergänglichkeit unseres Wesens: die Natur hätte diesen Trieb nicht in uns gelegt, wenn dies mit dem Tode ausgelöscht wäre.

Alles Leben entspringt aus dem Nichts, um von da wieder zurückzufließen ins Sein.

Fürchtet euch nicht vor dem Tod! Das Land des Todes ist uns ja vertrauter und heimatlicher als das Leben; denn wir waren schon einmal tot: ehe wir lebten.

Das einzige vernünftige Weltziel des Seins ist die Vollkommenheit, die Vervollkommnung aller Wesen. Der Himmel, die ewige Seligkeit liegt erst am Ende, nicht am Anfang unseres Hier-Seins. Und das Wunder unserer persönlichen Wieder-Geburt ist nicht größer als das Wunder der Geburt.

Zur neuen Gottesdienstgestaltung für ein: Gott-erleben, Gott-schauen, Gott-leben hat Sturm künstlerische und philosophische Vorschläge.

Die Erziehung der jungen Menschen hat im Wesentlichen die metaphysische Grundlage: das höchste Ziel muss der fromme, ethische Mensch sein.

Die popularphilosophischen religiösen Systheme können sich gegenseitig ergänzen und Sturm formuliert: im Streite der Meinungen wird die Wahrheit offenbar. Dies ist die Chance für das Christentum – die Jesusreligion – zur Weltreligion zu werden. Eine Weltreligion ist für ihn eine notwendige Voraussetzung für den Weltfrieden.

+

Zur Herausgabe
zum 90. Jubiläum der Gründung des „Instituts für Weltreligion“ in Hochdorf bei Weimar und zur Verkündung der „Thesen einer neuen Reformation“ von Paul Sturm 1923 in der Herderkirche Weimar entschlossen,
In Paul Sturms religionsphilosophischem Nachlass befinden sich Schriften von 1920-64, in denen er alle hier vorgestellten Gedanken sehr differenziert behandelt, oft in aphoristischer Form und beliebiger Reihenfolge. Einige Kapitel konnten komplett übernommen werden, andere wurden aus verschiedenen Dokumenten zusammengestellt, die Kapitelüberschrift stammt oft vom Hrsg. wie auch die vorliegende Gliederung. Kürzungen, Teilung längerer Sätze mit Einfügungen für besseres Leseverständnis sind mit [ ] gekennzeichnet, ( ) stammen vom Autor selbst. Vorarbeiten leistete der älteste Sohn Eckart Sturm. Großer Dank gilt dem Religionsarchäologen M. Sturm-Berger und dem Enkel Antonio Badinski für die Mitarbeit.

Zum Herausgeber
Beate Sturm, StR'n, als jüngste Tochter studierte in Jena und Berlin Mathematik, Geographie, an der TU Berlin Philosophie und Kunstwissenschaft. Kontakt: beate.sturm1@gmx.de.

[1]Für Wehrdienstpflichtige mit höherem Schulabschluss war der Wehrdienst auf ein Jahr verkürzt.
[2]In Biogr. 73-Seitiges. S.15.
[3]Sturm, Paul: Gesammelte Blätter.Aus Urteilen über Sturm. Institut für Weltreligion Hochdorf bei Weimar 1923, S. 16 und 17.
[4]Ebenda.
[5]Vgl. Traueransprache für Paul Sturm, 16. 6. 1964, Jena-Nordfriedhof, Manuskript im Archiv Sturm.
[6]Vgl. ebenda. Briefbeilage.
[7]Neue Religion oder neue Religionsepoche, S. VII.
[8]Rathje, Johannes: Die Welt des freien Protestantismus. Stuttgart 1952. S. 230.
[9]Sturm, Paul: Nachbemerkung zum Neuen Tempel. S. 2.
[10]Erste anonyme Veröffentlichung 1799 nach einem Anstoß von Friedrich Schlegel.
[11]Vgl. Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion, Stuttgart 1969, S. 35, 37, 39 und 40.
[12]Vgl. Ebenda. S. 97 und 111.
[13]Ebenda. S. 79.
[14]Vgl. Ebenda. S. 87.
[15]Vgl. Ebenda. S. 78 und 81.
[16]Vgl. Ebenda. S. 83, 84 und 88.
[17]Aphorismensammlung. Archiv.
[18]Vgl. Ebenda. S. 37, 39 und 40.
[19]Vgl. Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Leipzig 1974. S. 189-194 undS. 7.
[20]Vgl. Ebenda.S. 150, 151 und 155.
[21]Vgl. Ebenda. S. 161.
[22]Vgl. Ebenda. S. 5 – 7.
[23]Vgl. Ackermann, Frank. Hrsg. und Einleitung zu: Hegel, G.W.F: Das Leben Jesu. Stuttgart 2011. S. 10.
[24]Vgl. Ebenda. S. 34, 37, 39.
[25]Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Das Leben Jesu. Stuttgart 2011. S. 41.
[26]Vgl. Sturm, Paul: Friedrich Nietzsche. In: Thüringer Land, H. 12, 1930. S. 24.
[27]Sturm, Paul: Über Friedrich Nietzsche.Lose Sammlung Nietzsche. Archiv.
[28]Sturm, Paul: Gesammelte Blätter. Hochdorf bei Weimar 1923. S.15 und 16.
[29]Jaspers, Karl: Nietzsche und das Christentum. Hameln 1938. S. 9f.
[30]Vgl. Ebenda. S.10f.
[31]Vgl. Ebenda. S. 12.
[32]Nietzsche, Friedrich: Ecce homo, Hrsg. G. Colli, M. Montinari, München 1988. VI. S. 347.
[33]Vgl. Jaspers, Karl: S. 14 und 15.
[34]Nietzsche, Friedrich: Hrsg. G. Colli, M. Montinari, München 1988, III, S. 480.
[35]Vgl. Jaspers, Karl: Nietzsche und das Christentum. Hameln 1938. S. 15 und 16.
[36]Vgl. Ebenda. S. 18. Nietzsche, Friedrich: VIII. S. 256 und 252.
[37]Ebenda. VIII, S. 265 in K. Jaspers, S. 25.
[38]Ebenda. S. 82, 85 und 83.
[39]Unitarier distanzieren sich vom Trinitätsdogma., das erklärt auch ihren Namen, den Glauben ane i n e nGott.
[40]Vgl. Rathje, Johannes: Die Welt des freien Protestantismus. Stuttgart 1952. S. 161 und 165.
[41]Vermischtes. Jena 1955.
[42]Vgl. Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Tübingen 1994. S. 1.
[43]Vgl. Ebenda. S. 105.
[44]Vgl. Ebenda. S. 35 – 38, 294, 298-303.
[45]Vgl. Ebenda. S. 164 und 165.
[46]Ebenda. S. 125 und 126.
[47]Ebenda. S. 163.
[48]Ebenda. S. 130.
[49]Ebenda. S. 229.
[50]Vgl. Rathje, Johannes: Die Welt des freien Protestantismus. Stuttg. 1952. S.298-303.
[51]Barth, Karl:Mit dem Anfang anfangen. Zürich 1985. S. 30.
[52]Vgl. Rathje, Johannes: Die Welt des freien Protestantismus. Stuttg. 1952. S.298-303.
[53]Vgl. Ebenda. S. 278.
[54]Siehe: Karl Barth – Rudolf Bultmann: Briefwechsel 1922 – 1966. Hrsg. Bernd Jaspert, 2. Aufl. Zürich 1994.
[55]Sturm, Paul. Das Ende des alten Tempels und der dogmatischen Theologie. S. 4.
[56]Vgl.Sturm, Paul: Das Ende des alten Tempels.
[57]Vgl. Barth, Karl: Der deutsche Kirchenstreit als Frage an den schweizerischen Protestantismus. In:Theologische Existenz heute; Neue Folge 49. München 1956. S. 64.
[58]Vgl. Denzler, Georg, Fabricius, Volker: Christen und Nationalsozialisten. Frankfurt a. M. 1993. S. 40, 41 und 44.
[59]Sturm, Paul: Aphorismensammlung.
[60]Sturm, Paul: Grundgedanken. Jena 1950. S. 15.
[61]Vgl. Barth, Karl, Bultmann, Rudolf. S. 320.
[62]Jaspers, Karl, Bultmann, Rudolf: Die Frage der Entmythologisierung. München 1981, S. 87.
[63]Bultmann, Rudolf: Jesus Christus und die Mythologie. Hamburg 1964. S. 16 und 17.
[64]Vgl. Jaspers, Karl, Bultmann, Rudolf: Die Frage der Entmythologisierung. München 1981, S. 34 und 35.
[65]Vgl. Ebenda. S. 42 und 58.
[66]Ebenda. S. 61-68.
[67]Vgl. Ebenda. S. 66 und 69.
[68]Vgl. Ebenda. S. 66, 69, 74, 72.
[69]Vgl. Sturm, Paul: Gibt es in der Frage der Offenbarung die letzte Klarheit? S. 3.
[70]Sturm, Paul: Das Ende des alten Tempels und der dogmatischen Theologie. S. 4.
[71]Vgl. Sturm, Paul: Das Ende des alten Tempels und der dogmatischen Theologie. S. 5.
[72]Jasper, Karl, Bultmann, Rudolf: Die Frage der Entmytologisierung. München 1981. S. 74 und 75, 77.
[73]Sturm, Paul: Gibt es in der Frage der Offenbarung eine letzte Klarheit. S. 5.
[74]Jaspers, Karl , Zahrnt, Heinz: Philosophie und Offenbarungsglaube. Hamburg 1963. S. 73.
[75]Vgl. Ebenda. S. 74, 94 und 34.
[76]Vgl. Ebenda. S. 75 und 76.
[77]Ebenda. S. 84.
[78]Vgl. Ebenda. S. 83.
[79]Sturm, Paul: Nachbemerkung zum Neuen Tempel. S. 1.

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