Peter Grandl – Reset. Die Wahrheit stirbt zuerst

COVER: Peter Grandl, Reset

Anbei veröffentlichen wir eine Leseprobe aus dem neuen Buch von Peter Grandl, „Reset, Die wahrheit stirbt zuletzt“

Valentine

Niemandsland

Valentine hatte die Zeit seit der Abfahrt des Zuges in einem Dämmerzustand verbracht, halb wach, halb schlafend. Vorher das Chaos am Münchner Hauptbahnhof, unzählige Menschen, die drückten, schoben und schwitzten, die Ungewissheit, das stundenlange Warten auf Informationen und schließlich der Kraftakt, sich in einem Pulk von Verzweifelten in einen Waggon zu quetschen. Es hatte ihm die letzten Kräfte geraubt, bis er wie durch ein Wunder auf einen freien Platz im Gang geschoben wurde.

Welches Ziel hatten all diese gepeinigten Menschen? Warum nahm die hochschwangere Frau, die ihm gegenübersaß, die beschwerliche Reise auf sich? Wieso hatte der alte Herr mit den dicken Brillengläsern, der am Boden eingeschlafen war, kein Gepäck dabei? Und warum weinte zwei Stuhlreihen weiter leise ein Mann, den er nicht sehen konnte?

Erschöpft war Valentine auf den weichen Sitz gesunken, seine Reisetasche fest umklammert. Vor Erschöpfung waren ihm die Augen sofort zugefallen. Bilder aus seinem Unterbewusstsein schlugen ihn wie Ohrfeigen: sein Vater, am Boden liegend, die Kehle aufgeschlitzt, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen, ein Brei aus Blut, Knochen und Haaren. Um den Hals ein Schild mit einem einzigen Wort: VERRÄTER.

Der anfahrende Zug hatte ihn zurück in die Wirklichkeit geholt. Ein Mann verlor das Gleichgewicht und prallte hart gegen seine Schulter. Dann erloschen die Lichter in den Waggons, und mit ihnen verstummte jede Konversation, während sich der Zug in die Dunkelheit stahl. Valentine konnte in der Finsternis des Großraumabteils nur schemenhaft die Konturen der Mitreisenden wahrnehmen, die dicht gedrängt auf den Gängen und in den Zwischenabteilen saßen. Wie der Teenager, der immer wieder dieselbe Szene auf seinem Handy ansah.

„Hat dein Handy noch Empfang?“, fragte er den Jungen vorsichtig. Der Junge schüttelte verzweifelt den Kopf und sah ihn trotzig an.

„Sind Sie blöd, oder was?“

Valentine war zu erschöpft, um angemessen darauf zu reagieren. Der Junge entschuldigte sich.

„Es tut mir leid, es ist nur … meine Mutter.“

Der Junge reichte ihm sein Handy. Auf dem Display war eine Frau zu sehen, die mit ausgemergeltem Gesicht in die Kamera blickte und sagte: „Felix, du bist eine einzige Enttäuschung. Jetzt sieh zu, wie du ohne mich durchs Leben kommst.“ Dann kippte die Frau in die Tiefe, bis ihr Körper auf ein fahrendes Auto krachte. Valentine zuckte zusammen und ließ das Handy fallen.

„Es tut mir leid“, brachte Valentine hervor, während der Junge das Telefon aufhob und in die Tasche steckte.

„Muss es nicht. Der Akku ist fast leer. Und, keine Ahnung, das geht mir doch am Arsch vorbei“, behauptete er trotzig, doch seine Augen glänzten feucht.

„Es ist ein Fake, das weißt du, oder?“

„Fuck, was für ein Klugscheißer sind sie denn? Woher wollen Sie das wissen, fuck!“

„Alles, was gerade in den Medien läuft, ist nicht echt. Was du da siehst, ist vermutlich nie passiert.“

Felix schüttelte den Kopf und sah ihn verständnislos an.

„Sie haben doch einen an der Klatsche, oder? Sie kennen meine Mutter gar nicht.“ Wütend stand der Junge auf, quetschte sich an einigen Passagieren vorbei und setzte sich am Ende des Waggons wieder auf den Boden.

Valentine war entsetzt. Er hatte angenommen, es sei jedem klar, dass ein Virus die Kontrolle über die Medien übernommen hatte. Aber offenbar hatte er sich getäuscht. Selbst dieser junge Mann, der ihm aufgeweckt erschienen war, stellte die Nachrichten auf seinem Handy nicht infrage.

Während Valentin sich über diesen Umstand den Kopf zermarterte, schlief er wieder ein und schlitterte erneut in einen beklemmenden Traum. Das Gesicht der Mutter des Jungen, die in die Tiefe stürzte, verwandelte sich in das Gesicht seiner Mutter, die ihn mit sich hinab zog in einen Schlund düsterer Erinnerungen. Er hörte ihr gellenden Schreie im Haus, sah den nassen Teppichboden zwischen ihren gespreizten Beinen und seine neugeborene Schwester in ihren Armen. Das Lächeln seiner Mutter hatte nichts Fürsorgliches, es war teuflisch und kalt.

Dann riss ihn das schrille Knirschen der Bremsen jäh aus den Fängen seines Traums. Er öffnete die Augen einen Spalt weit. Der Widerschein von Flammen tanzte stumm auf den Silhouetten der Reisenden. Valentine blickte hinaus in die Nacht, wo ein einsames Gehöft gerade von einem lodernden Feuer verschlungen wurde. Das Schreien der Rinder in den brennenden Ställen untermalten die gespenstische Szenerie, bis die tanzenden Schatten an den Wänden wieder in der Dunkelheit verschwanden und sich der Todeskampf der Tiere in der Ferne verlor.

„Wird alles wieder gut werden?“

Valentine blickte auf. Im schwachen Dämmerlicht sah er vage das Gesicht der schwangeren Frau, die ihm gegenübersaß. „Es wird doch alles wieder gut werden?“, wiederholte sie und legte schützend die Hände auf ihren runden Bauch. Er dachte erneut an seine Mutter, an die kleine Maggie in ihren Armen und an seinen Stiefvater Kane O’Sullivan, der nach der brutalen Hinrichtung seines Vaters dessen Platz eingenommen hatte. Nichts war wieder gut geworden. Er zwang sich trotzdem zu einem Lächeln und hoffte, die Frau würde nicht erkennen, wie schwer ihm das fiel.

Peter Grandl. Reset. Die Wahrheit stirbt zuerst. Thriller

COVER: Peter Grandl, Reset

Erscheint am 12.06.2025 bei dtv
© dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Autor kein 3436 Artikel
Hier finden Sie viele Texte, die unsere Redaktion für Sie ausgewählt hat. Manche Autoren genießen die Freiheit, ohne Nennung ihres eigenen Namens Debatten anzustoßen.