Dietrich Bonhoeffer und die Engel: Aus lebensweltlicher und theologischer Perspektive

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Knapp fünf Monate vor dem Ende des Weltenbrandes mit Millionen von Toten, den die nationalsozialistischen Brandstifter entfacht hatten und der am 8. Mai 1945 sein Ende finden sollte, schreibt der Theologe Dietrich Bonhoeffer am 19. Dezember 1944 einen Weihnachtsgruß an seine junge Verlobte Maria von Wedemeyer und seine Eltern aus der Gestapo-Haft. In Zeiten persönlicher Finsternis und Hölle, umklammert von den Todesfingern seiner Häscher, wird dieser Brief und das auf der Rückseite vermerkte Gedicht „Von guten Mächten“ in die Geschichte der Literatur eingehen, Weltliteratur schreiben. Gedicht wie Brief sind Zeugnis dessen, was ein Mensch alles zu erleiden vermag, wenn ihn das Schicksal den „bitteren Kelch des Leides“ reicht – und dennoch nicht den Glauben verliert. Ob seines Widerstandes gegen das Hitler-Regime, selbst in auswegloser Situation gefangen, misshandelt und zum Schweigen gezwungen, schenkt Bonhoeffer aus der unendlichen Fülle seines gläubigen Optimismus heraus Mut, findet Worte des Trostes, hoffnungsaufgeladen und zukunftsweisend, Worte, die über die Gefängnismauern fliegen. Den eigenen Tod vor Augen ist es die innere Überzeugung, „dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. […] Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet“, wie es in seinem „Glaubensbekenntnis“ aus dem Jahr 1943 heißt.

Sinnloser Tod einer lichthellen Existenz

Die Jahre seiner Inhaftierung, die mit seiner feigen Ermordung durch den Strang am 9. April im KZ-Flossenbürg enden, nackt in bloßer Existenz vor den Galgen tretend, gehören zu den traurigsten Augenblicken der abendländischen Geistesgesichte, sind ein sinnloser Tiefpunkt, die einer der hellsten Existenzen – fast am Ende des Krieges – das Leben kostete. Doch alle Schmach, alle Demütigungen und ein Leben jenseits der menschlichen Würde haben Bonhoeffer nicht gebrochen. Für Adolf Hitler hingegen war dieser Widerstand, die Kraft des Glaubens unerträgliche Zeichen eines Menschen, der sich nicht seinem Diktat beugte. Die persönlich durch Hitler Anordnung der Todesvollstreckung blieb ein vergebliches Zeichen persönlicher Rache eines blutdürstigen Diktators, dem jede menschliche Wärme, jede Zivilcourage, jeder Glaube fehlte. Sein Selbstmord im Führerbunker am 30. April 1945 im von der Roten Armee umkesselten Berlin blieb feiger Selbstflucht. Bonhoeffer hingegen sah im eigenen im Tod ein Ende, das aber „auch der Anfang ist“. Denn je „schöner und voller die Erinnerung“ ist, „desto schwerer ist die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.“ Inmitten seiner unendlichen Einsamkeit des Landes- und Hochverrates angeklagt, bekannte er: „Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig“

Worte, die Flügel verleihen, die Kraft schenken und über die eigene Endlichkeit hinaus, anderen Mut schenken, zum Weiterleben motivieren, können nichts anderes als Engelsworte sein, die ein Mensch von Gott und einer tiefsten Christuszentrierung getragen nicht aus Sorge um seiner selbst willen, sondern für die anderen, die Verwandten und die Gemeinschaft der Christen geschrieben hat. Für Bonhoeffer, den Mitbegründer der Bekennenden Kirche und des Pfarrernotstandbundes bleibt seine Vision die einer lebendigen Kirche, die auf universelle Menschlichkeit setzt und den Irrsinn aller todbringenden Ideologien als Vergiftung der Seelen begreift. Es waren die lebensverachtenden Ideologen, die in die Brunnenstuben hinabgestiegen sind, um das lebendige Wasser des Lebens und des Glaubens zu vergiften.

Engel als Symbole für das Vertrauen in Gottes Geborgenheit

Allein die „guten Mächte“ vermitteln in aller Irdisch- und Gottesvergessenheit, in Zeiten der Perspektivlosigkeit, des Leidens und der Ausweglosigkeit ein tiefes Vertrauen in die Gottes-Geborgenheit und Gegenwart Gottes, der selbst in dieser Finsternis nicht fern, sondern im Leiden ganz nah ist. So strahlen Bonhoeffers Engel Trost, Schutz und Führung aus, sind Hoffnungszeichen und Himmelsboten, die dem Menschen vermitteln, dass er bei seinem Kampf gegen das Böse nicht allein ist. Dabei verkürzt er sie nicht auf rein abstrakte Figuren, vielmehr begreift er sie als Teil dieser lebendigen Begegnung Gottes mit seiner Welt. In ihnen spiegelt sich die tiefe Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit und Frieden, ohne dabei den Glauben an Gottes Plan aufzugeben, wohl wissend, dass auf dieser Erde nicht alles gut ist, diese Ungewissheit durch die göttliche Präsenz jedoch gemildert wird.

Bonhoeffer schreibt in einem seiner letzten Briefe: „Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: ‚zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken‘, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder.“ Schützend spannen sich die Engel über die Gläubigen aus – nicht nur für den Einzelnen, sondern für die gesamte Gemeinschaft.

Mit seinen „guten Mächten“ begibt sich Bonhoeffer in eine lange Tradition der Engelsliteratur. Das „Alte“- und „Neue Testament“ bieten eine fast unüberschaubare Fülle von Engelszitaten. Theologen, Schriftsteller und Philosophen waren es über die Jahrtausende hinweg, die sich mit jenen Wesen beschäftigt haben, die zwischen der Welt und Gott vermitteln. Auch in Bonhoeffers Theologie sind die Engel Botschafter der göttlichen Realität, Zeugen eines unsichtbaren Gottes und versinnbildlichen die Überwindung der Trennung zwischen Himmel und Erde. „Von guten Mächten“ bleibt Vermächtnis und ein persönlicher Trost von einem Theologen, der Gott nicht allein ins Jenseits stellt, sondern ihn inmitten der schmerzvollen Welt ankommen lässt. Diesen Gott in der Welt gilt es zu verkündigen, ihn um Schutz und Begleitung im Gebet anzupreisen.

Wirkung und Vermächtnis

Nach seinem Tod 1945 wurde „Von guten Mächten“ zu einem der bekanntesten christlichen Texte des 20. Jahrhunderts, vielfach vertont, in Gottesdiensten und bei besonderen Anlässen rezitiert. Die Worte haben Millionen von Menschen Trost gespendet, insbesondere in schwierigen Zeiten. Und so ist sein Gedicht – über die Zeiten hinweg – ein bleibendes Zeugnis seines Glaubens und seiner inneren Stärke. In seiner Schönheit und Sprachkraft verdeutlich es, wie er selbst im Angesicht seiner ausweglosen Situation seinen Frieden in Gott gefunden hat. Im Angesicht des Todes hatte der Menschenfreund Bonhoeffer alle Erdenwesen aufgefordert, diesen „guten Mächten“, die uns durch die Höhen und Tiefen des Lebens tragen, zu vertrauen.

Von guten Mächten wunderbar geborgen

Von guten Mächten treu und still umgeben,

behütet und getröstet wunderbar,

so will ich diese Tage mit euch leben

und mit euch gehen in ein neues Jahr.

 

Noch will das alte unsre Herzen quälen,

noch drückt uns böser Tage schwere Last.

Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen

das Heil, für das du uns geschaffen hast.

 

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern

des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,

so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern

aus deiner guten und geliebten Hand.

 

Doch willst du uns noch einmal Freude schenken

an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,

dann wolln wir des Vergangenen gedenken,

und dann gehört dir unser Leben ganz.

 

Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,

die du in unsre Dunkelheit gebracht,

führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.

Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

 

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,

so lass uns hören jenen vollen Klang

der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,

all deiner Kinder hohen Lobgesang.

 

Von guten Mächten wunderbar geborgen,

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist bei uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

 

 

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2165 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".