Vereintes Tirol als „Europaregion“ – eine Schimäre

Seiser Alm in Tirol, Foto: Stefan Groß

Niemand fasste die Malaise in treffendere Worte als der Landeskommandant der Südtiroler Schützen: Dass er seit nunmehr hundert Jahren zum italienischen Staat gehöre, sei für den südlichen Teil Tirols negativ. Demgegenüber müsse, wer einen ungetrübten Blick auf die Geschichte werfe, das Positive darin erkennen, dass „wir nicht von italienischen Politikern, italienischer Verwaltung und italienischen Gewohnheiten, die wir uns angeeignet haben, abhängig waren, als Tirol noch eins war“. Major Elmar Thaler nahm die alljährlich  stattfindende Landesgedenkfeier für den Volkshelden Andreas Hofer in Meran zum Anlass, um „überbordende Gesetze, ausufernde Bürokratie, Schikanen gegenüber Betrieben, Beschlagnahme von Autos, nur weil ein ausländisches Kennzeichen drauf ist“, zu kritisieren, denen seine Landsleute unterworfen seien.

Nicht allein das – als unlängst 30 Zentimeter Neuschnee und einige Lawinen den Verkehr über den Brenner lahmgelegt hatten, sodass zwischen Innsbruck und Trient (vice versa) für nahezu 30 Stunden so gut wie nichts mehr ging, habe „jeder, egal ob in Nord- oder Südtirol, dem anderen die Schuld gegeben“, sagte Thaler. Zurecht fragte der ranghöchste Repräsentant des nach wie vor uneingeschränkt für die Tiroler Landeseinheit einstehenden Südtiroler Schützenbundes (SSB), wo denn in dieser winterlichen Notsituation die angeblichen Segnungen der seit einem Vierteljahrhundert in Sonntagsreden vielbeschworenen „Europaregion Tirol“ ihren Niederschlag gefunden hätten. Fehlanzeige – dieses Gebilde existiere lediglich auf dem Papier; es sei bei den Politikern, die stets davon sprächen, noch nicht angekommen, und beim Volk schon gar nicht, resümierte Thaler.

Ein niederschmetternder Befund

Das ist ein niederschmetternder Befund, der von der überwiegenden Mehrheit  aller Tiroler zwischen Kufstein und Salurn sowie aller Welschtiroler (Bewohner des Trentino) zwischen Kronmetz (Mezzocorona) und Borghetto geteilt werden dürfte, sofern diese überhaupt etwas mit diesem Begriff respektive dessen schlagwortartiger Verkürzung „Euregio Tirol“ anzufangen wissen.  Diese Skepsis sieht sich in der Umfrage „Jugend und Politik“ des Südtiroler Statistik-Instituts ASTAT  vom August 2017 bestätigt, welche ergab, dass sich lediglich 17,1 Prozent der Personen im Alter bis zum 30. Lebensjahr  für die „Euregio-Ebene“ interessier(t)en. Dies wiederum  ist Beleg genug dafür, dass besagtes Gebilde  ohne inhaltliche Tiefe ist und offenkundig weit unter dem bleibt, wofür es stehen und was es eigentlich  erbringen soll(te).

Am 1. Januar 1995 war Österreich der Europäischen Union (EU) beigetreten. Damit eröffneten sich neue Chancen und Möglichkeiten in der Südtirol-Politik. Die  Teilhabe am EU-Binnenmarkt sowie der 1997 vollzogene  Beitritt zum Schengener Abkommen beendeten trotz formellen Erhalts der Staatsgrenze zwischen den beiden Tiroler Landesteilen das zuvor gängige Grenzregime, womit die historisch stets als „Schandgrenze“ empfundene Teilungskonsequenz aus der aus dem  italienischen Seitenwechsel im Ersten Weltkrieg erlangten Kriegsbeute in ihrer Wirkung erheblich an Trennschärfe verlor. Wenngleich der institutionelle Abbau der Grenze eine erhebliche Erleichterung des Alltagslebens auf beiden Seiten  sowie eine Intensivierung des grenzüberschreitenden Verkehrs zur Folge hatte, ist das damit von der Politik beidseits des Brenners wie im Mantra  beschworene „Zusammenwachsen“ der Landesteile bisher allenfalls ein frommer Wunsch geblieben.

Zusammenwachsen der Landesteile?

Parallel zu den grundstürzenden Veränderungen, welche nach dem Kollaps des Kommunismus, dem Fall der Mauer in Berlin und der Beseitigung des Drahtverhaus quer durch Europa sowie dem Untergang der Sowjetunion und er Auflösung Jugoslawiens die politische Geographie neu zeichneten, stellte man in den Landtagen Tirols und Vorarlbergs sowie Südtirols und des Trentino Überlegungen an, wie man sich möglichst in institutionalisierter Form zunutze machen könnte, was sich – über die nach dem Pariser Vertrag von 1946 zwischen Österreich und Italien mühsamen errungenen sogenannten Accordino-Vereinbarungen  (geltend für Tirol, Süd- und Welschtirol) hinaus – an „regionaler Subsidiarität“ bot, wie sie schon EG-Europa begrenzt zuließ. Insbesondere der 1992 errichtete Vertrag von Maastricht (aus der EG wurde die EU) schuf mit seinem inkorporierten – aber nie politisch konsequent verwirklichten – Konzept eines „Europas der Regionen“  die Voraussetzungen für das inhaltlich und institutionell nur rudimentär ausgefüllte Projekt der „Euregio Tirol“.

Die Idee dazu  war am 21. Mai 1991 im Rahmen einer gemeinsamen Sitzung der Landtage der österreichischen Bundesländer Tirol und Vorarlberg sowie der beiden (seit De Gasperis Verwässerung des Pariser Vertrags von 1946 im 1. Autonomiestatut 1948  in einer Region zwangsvereinigten)  italienischen Provinzen Südtirol und Trient geboren worden. Obwohl sich Vorarlberg nach der zweiten gemeinsamen Sitzung am 2. Juni 1993 daraus  zurückzog, begannen die entsandten Delegierten, das Konzept sukzessiv weiterzuentwickeln. Im Mittelpunkt stand dabei insbesondere die weitere Ausgestaltung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Dies schlug sich im 1996 vorgestellten Statut über die künftige politische Marschroute sowie die institutionelle Ausgestaltung der Europaregion Tirol nieder.

Rom legt sich quer

Um den von Beginn an vorherrschenden römischen Vorwurf der Sezession zu entkräften, bewegte sich die institutionelle Ausgestaltung strikt innerhalb geltender verfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen sowie auf dem völkerrechtlichen Grundsatz des am 21. Mai 1980 getroffenen Madrider Rahmenübereinkommens bezüglich grenzüberschreitender Zusammenarbeit von Gebietskörperschaften. Zur Vermeidung von Problemen mit der italienischen Regierung nahm man  – zunächst – Abstand von der ursprünglichen Idee, die Europaregion als öffentliche Körperschaft mit eigener finanzieller Ausstattung und Völkerrechtssubjektivität  einzurichten.

Die Initiatoren  erhofften, dass durch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Wirtschaft und Politik nicht nur die wirtschaftliche Prosperität der Regionen, sondern damit auch eine Stärkung des Autonomie- und Föderalismusprinzips auf nationaler und EU-Ebene einhergehen würde.  Und insbesondere in Innsbruck und Bozen verband man mit der Europaregion die Hoffnung, dass die Kooperation nicht nur dem soziokulturellen „Auseinanderdriften“ der Landesteile Einhalt gebieten würde, sondern sogar das Gefühl der gemeinsamen Identität wiederaufleben ließe.  So beriefen sich führende Politiker beider Landesteile verstärkt auf gemeinsame Herkunft sowie Identität und begrüßten zugleich den faktischen Abbau der trennenden „Unrechtsgrenze“ im Rahmen der Europaregion.

„Sezessionismus, Irredentismus, Pangermanismus“

Dies führte sogleich dazu, dass von den damaligen  italienischen Regierungsparteien nicht etwa nur die – aus dem neofaschistischen MSI hervorgegangene – Alleanza Nazionale (AN) unter Fini, sondern auch die von Ministerpräsident Silvio Berlusconi geführte Forza Italia (FI)  immer wieder den reflexartigen Vorwurf des Sezessionismus / Irredentismus erhoben.  Aus anfangs vereinzelten Vorwürfen entwickelte sich ein breiter Proteststurm in Rom, der  1995  in einen handfesten  politischen Konflikt mündete. Auslöser  war die Absicht der drei Europa-Regionisten, ein gemeinsames Verbindungsbüro  in Brüssel einzurichten, um selbständig und überzeugtermaßen effektiver die eigenen regionalen Interessen gegenüber den EU-Institutionen vertreten zu können.  Obwohl Innsbruck ebenso wie Bozen und Trient versicherten, dass man allein föderalistische  Absichten verfolge, da das Büro auf ausschließlicher Grundlage von EU-Rechtsbestimmungen geschaffen werde, geriet insbesondere die Südtiroler Landesregierung ins Kreuzfeuer Roms.

Selbst von höchster Ebene wurden offene Vorwürfe oder gar Drohungen gegenüber der Landesregierung geäußert. So etwa von der Generalstaatsanwaltschaft in Trient, die die Südtiroler der „zunehmenden Staatsfeindlichkeit“ bezichtigte. Auch Staatspräsident Luigi Scalfaro drohte Bozen offen an, etwaige Sezessionsabsichten stellten einen evidenten Verstoß gegen die Verfassung dar und zögen schwerwiegende Konsequenzen nach sich. Im internen Jahresbericht des italienischen Innenministeriums wurde das Verbindungsbüro als „provozierend“ und „subversiv“ eingestuft, und zufolge von Anzeigen mehrerer rechter italienischer Parteien, besonders aus deren  Südtiroler Dependancen, wonach mit der Europaregion die „Zerstörung der Einheit Italiens“ oder „die Rückgliederung Südtirols nach Österreich“ angestrebt werde, wies Ministerpräsident Lamberto Dini die Staatsanwaltschaft in Rom an, den Vorwürfen nachzugehen. Wenngleich selbst  Büros von SVP-Abgeordneten durchsucht wurden, konnten die ermittelnden Staatsanwälte keine Indizien für den Vorwurf des Sezessionismus finden. Schließlich musste der italienische Verfassungsgerichtshof anno 1997 die Rechtmäßigkeit des Büros anerkennen.

 Wien verharrt in Passivität

Trotz dieses zwischen 1995 und 1997 das politische Klima zwischen Rom, Trient, Bozen und Innsbruck vergiftenden Konflikts vermied es die österreichische Regierung, zugunsten der Europaregion Tirol  Partei zu ergreifen, sondern verharrte am Ballhausplatz in Passivität.  In internen Aktenvermerken der Regierungen Vranitzky/Mock bzw. Vranitzky/Schüssel wurde  kritisiert, Bozen und Innsbruck hätten  es verabsäumt,  Wien in ausreichendem Maße über das Vorhaben in Kenntnis zu setzen. Außenminister Alois Mock sowie sein Nachfolger Wolfgang Schüssel vermieden es, öffentlich Stellung zu nehmen. Ihre Partei ÖVP befleißigte sich der  Zurückhaltung, wohingegen  Grüne und Teile der in großer Koalition mit der ÖVP verbundenen Kanzlerpartei SPÖ  sogar offen vor angeblichen Gefahren eines Wiedererstarkens des „pangermanistischen Nationalismus“  warnen zu müssen glaubten. Lediglich die FPÖ sowie die Schützenverbände Tirols, Südtirols und Welschtirols  sprachen sich geschlossen und eindeutig zugunsten der Europaregion aus. Die  österreichischen Parteien spielten Italien faktisch  in die Hände, indem Rom das Projekt mit dem Hinweis darauf, dass FPÖ wie Schützen zuvor  offen das Recht auf Selbstbestimmung für Südtirol eingefordert hätten, als „Föderalismusprojekt von Rechtsaußen“ zu stigmatisieren trachtete, das  dem „sezessionistischen Pangermanismus“ diene.

„Aufstand gegen Gleichgültigkeit“

Da es seit der Initiierung eher durch Konflikte mit Rom denn durch signifikante politische Erfolge aufgefallen war, erlangte das Projekt erst mit der  nomenklatorischen Prägung  „Europaregion Tirol Südtirol Trentino” wieder ein wenig Auftrieb, zumal da sich die drei Landesregierungen verstärkt seiner Erweckung aus dem „Dornröschenschlaf” widmeten.  Ziel war die Stärkung der „Achse Innsbruck-Bozen-Trient“ auf kultureller Ebene sowie der  grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in  Politik und Wirtschaft. Im Kulturellen erhoffte man sich, den seit Jahrzehnten doch recht weit fortgeschrittenen Entfremdungsprozess südlich und nördlich des Brenners zu stoppen. Obwohl das postulierte Ziel eines „Aufstands gegen die Gleichgültigkeit“ – am 21. Februar 2009 auf Schloss Tirol begrifflich geprägt  vom damaligen Trentiner Landeshauptmann Lorenzo Dellai  während einer gemeinsamen Sitzung der Landeshauptleute –   an sich nicht neu war, erfuhr es  in Bozen  eine besondere Ausformung. In Anbetracht des Wählerzulaufs  zum oppositionellen  Lager der Selbstbestimmungsbefürworter, welcher sich nicht allein in Wahlerfolgen von Süd-Tiroler Freiheit (STF) und Freiheitlicher Partei Südtirols (FPS)  abzeichnete, wollte man  mit dem Ausbau der Euregio ein alternatives Modell schaffen und möglichst attraktiv machen.  So gaben  insbesondere SVP und Nordtiroler ÖVP vor, mit der Intensivierung der grenzüberschreitenden  Zusammenarbeit  werde die politische Unabhängigkeit der Landesteile gegenüber Rom, Wien und Brüssel gestärkt, was dazu beitrage, dass die Teilung Tirols im „europäischen Geiste“ überwunden werde.

Außenminister Kurz: „Ewiggestrige“

Das Werben mit der politischen „Nord-Süd-Achse“ postulierten die Regierungsparteien  in Bozen (SVP), Innsbruck (ÖVP) und Wien als „einzige realpolitische Alternative“ zur Freistaatslösung, wie sie die oppositionelle FPS vertritt, und zur Wiedervereinigung mit Tirol, mithin der Rückgliederung zu Österreich nach erfolgreicher Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, wie sie die ebenfalls oppositionelle STF auf ihre Fahnen geschrieben hat. Zugleich erhoben die Regierungsvertreter gegenüber den Selbstbestimmungsparteien und -befürwortern scharfe Kritik. Diese nannte  der damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) seinerzeit  „Ewiggestrige“, die  vom „Aufziehen neuer Grenzen“ träumten.  Zugleich verstörten er und seine  ÖVP mit der faktisch die Aufgabe des Selbstbestimmungsverlangens markierenden  (und von der neuen SVP-Führung unter Philipp Achammer sowie Landeshauptmann Arno Kompatscher stillschweigend-freudig  gutgeheißenen)  Position alle patriotischen Kräfte, wonach mit der Südtirol-Autonomie „eine besondere  Form der Selbstbestimmung  verwirklicht“ sei.

Hinsichtlich einer besseren  funktionellen  Zusammenarbeit in der „Euregio“ vereinbarten nunmehr die drei Landesregierungen, die bis dato als „träge“ geltenden Entscheidungsprozesse, wie sie etwa im Rahmen der Dreierlandtage gang und gäbe waren,  durch neue effektivere und stärker institutionalisierte Mechanismen zu ersetzen. Wenngleich die Treffen der Landtage – trotz ihres gemeinsamen Zusammentretens im Zwei-Jahres-Rhythmus – durchaus einen  politischen  Fortschritt darstellten, war durch das dort geltende Einstimmigkeitsprinzip die Entscheidungsfindung  erschwert. Daher vermied man es, im Rahmen dieses Gremiums strikt,  politisch heikle Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Dies wiederum führte dazu, dass die realpolitische Bedeutung der gemeinsamen Landtagssitzungen als sehr gering einzuschätzen war und lediglich einen symbolischen Zweck erfüllte. Daher entschieden sich die Landesregierungen am 15. Oktober 2009 zur Einrichtung  des sogenannten „Europäischen Verbunds territorialer Zusammenarbeit“ (EVTZ), um die Europaregion mit eigener Rechtspersönlichkeit und damit auch größerer politischer  Selbständigkeit auszustatten.

Die „Euregio“ als „EVTZ“

 Das Konzept  fußt auf der Verordnung 1082/2006 des Europäischen Parlaments und verfolgt dabei Ziel und Zweck, „[…] regionalen und kommunalen Behörden (und auch nationalen Behörden in kleineren oder zentralisierten Ländern) sowie öffentlichen Unternehmen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten die Einrichtung von Verbünden mit eigener Rechtspersönlichkeit zur Lieferung gemeinsamer Leistungen“ im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu ermöglichen. Die Gründung der EVTZ  rief zwar neuerlich Einspruch seitens der italienischen Regierung hervor;  der Protest fiel jedoch weitaus „gemäßigter“ aus  als beim ersten Anlauf  (s.o.). So trug  Rom jetzt lediglich „formelle Bedenken“  vor und zeigte sich zudem bereit, über das Projekt am Verhandlungstisch zu diskutieren. Bereits nach  einigen Konsultationen zog sie ihre anfänglichen Vorbehalte  zurück und stimmte schlußendlich zu, sodaß der  Eröffnung des EVTZ-Büros in Bozen nichts mehr im Wege stand.

Die Aufgabenfelder der Europaregion à la EVTZ sollten nunmehr  eine umfassende politische, wirtschaftliche und soziale Bandbreite  abdecken.  Dies führte allerdings bereits nach kurzer Zeit zu  Bedenken. So befürchtete man sogar in den jeweiligen Landesregierungen,  man könne sich dabei, wie schon einmal,  politisch übernehmen. Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher, sonst eher ein glühender EVTZ-Akteur, befand sogar zu Beginn seiner Amtszeit 2014 nüchtern, dass es der Europaregion –  mit Ausnahme des im Bau befindlichen Brenner-Basistunnels –  an großen „politischen Leuchtturmprojekten“ fehle und mahnte,  die EVTZ dürfe „nicht wieder nur  zu einem Schlagwortprojekt“ verkommen.  Daher stufte die Südtiroler Landesregierung die EVTZ  als „Projekt herausgehobener politischer Priorität” ein und stellte dafür zusätzliche Mittel bereit. 

Nationalstaatliche Interessen

Nichtsdestotrotz  bleibt  abzuwarten, welche  Entwicklung die Euregio Tirol-Südtirol-Trentino in Zukunft tatsächlich nimmt, und es muß sich auch erst noch herausstellen, ob damit tatsächlich das Wiederzusammenwachsen der seit hundert Jahren getrennten Landesteile begünstigt werden  kann. Skepsis ist angesichts des eingangs (mit Bezug auf das winterlich bedingte Verkehrschaos) geschilderten  Zuständigkeitsproblems  schon im Kleinen angebracht. Und wenn es um größere Bedürfnisse geht, welche nationalstaatliche Interessen unmittelbar berühren, bleibt von der hehren Euregio wenig mehr als ein matter Schein.

Das zeigte sich 2016 in aller Deutlichkeit, als Österreich im Zuge der sogenannten „Flüchtlingskrise”, die infolge  politischen Fehlverhaltens und selbstzerstörerischer Willkommens-Signale  in Wahrheit einer Masseninvasion überwiegend junger Männer aus zuvorderst muslimisch geprägten nah- und fernöstlichen sowie afrikanischen Ländern glich, ernstlich erwog,  nach der vom damaligen Außenminister Kurz maßgeblich zustande gebrachten Unterbindung des Zustroms über die Balkan-Route  auch  jenen über die stark frequentierte  Italien-Route durch Wiedereinführung von (auch mit militärischen Mitteln unterstützten)  Brenner-Kontrollen  zu stoppen. Was jedoch  unterbleiben konnte, da sich Rom tatsächlich zur Abkehr von zuvor  eher laxem  „Durchwinke”-Verhalten bequemte.  Und seit dem mit der vorgezogenen Parlamentswahl 2018 vollzogenen  Machtwechsel hin zu der von der Fünf-Sterne-Bewegung und Lega Nord gebildeten Regierung betreibt Rom – eben im nationalen Interesse des vom einstigen königlichen Regierungschef Antonio Salandra 1915 beim Kriegseintritt  Italiens auf der Seite der Entente-Mächte Frankreich und Großbritannien geprägten  Prinzips des „Sacro egoismo” – neben den Visegrad-Vier Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen die weitaus strengste  Flüchtlings(abweisungs)politik im Rahmen der EU.

Institutionell funktionierende „Euregios”, jeweils ausgestattet  mit politischer Selbstverwaltung, Regionalparlament und -regierung, welche  tatsächlich die  vielen ursächlich von der ohne Beachtung der historisch-kulturellen Identität und Volkszusammengehörigkeit  sowie der Verweigerung   des  Selbstbestimmungsrechts  gezogenen) Grenzen  verschwinden ließen und damit auch  die dadurch erst entstandenen und bis heute fortwirkenden Probleme nationaler Minderheiten auf einen Schlag beseitigten, würden wohl nur durch Aufhebung des Nationalstaatsprinzips und demzufolge mit der herbeizuführenden Metamorphose   der Nationalstaaten  zu  einer wirklich politischen EUnion möglich. Deren Parlament müsste sich aus gewählten  Abgeordneten aller Europaregionen konstituieren und  aus dessen Mitte die EU-Regierung hervorgehen.  Derartigen  Träumen, wie sie vielleicht  in den 1990er  Jahren  von einigen  in der Minderheiten- und Volksgruppenpolitik Engagierten   geträumt worden sein mochten, stehen Entwicklung, Zustand und Lage, in der/dem sich EUropa befindet, diametral entgegen.  Es dominieren nationalstaatliche Interessen, um nicht zu sagen Egoismen, und es gewinnen auf Loslösung und Eigenstaatlichkeit bedachte Fliehkräfte – just auch innerhalb der  Nationalstaaten (beispielsweise in Spanien, Italien, Belgien, Großbritannien) – ebenso an Attraktivität wie politisches Handeln in nationalstaatlicher Fasson.

Landeseinheit durch Euregio – ein Wunschbild

Wider den in der Europa-Frage gleichsam  missionarisch  agierenden österreichischen Schriftsteller Menasse ruft der  türkisch-deutsche Literat Zafer Senocak ernüchternd den „Abschied vom Fetisch eines politisch vereinten Europa” aus und stellt fest, Europas Zukunft könne nur in der wertgebundenen Zusammenarbeit souveräner Nationalstaaten liegen. Wie diese „wertgebundene Zusammenarbeit“ in Bezug auf die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino funktioniert, geht aus dem auf den einleitend erwähnten Meraner Andreas-Hofer-Feierlichkeiten getroffenen  Befund des Schützen-Kommandanten Elmar Thaler  hervor. Dem stellte der in Mailand angesiedelte österreichische Generalkonsul  Wolfgang  Spadinger im Beisein von Schützenformationen aus besagter Euregio auf der Gedenkfeier in Mantua am Denkmal des dort vor 209 Jahren  füsilierten Tiroler Volkshelden entgegen, Andreas Hofer sei ein „früher Vertreter der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino“ gewesen, die heute gut funktioniere. Wie dem auch sei – unter dem Aspekt der Aufhebung der Teilung des Landes und  des nach wie vor nicht aus den Augen zu verlierenden Ziels des Wiedergewinnens seiner Einheit reicht sie kaum über die Wunschbildkontur einer Schimäre hinaus.

Über Reinhardt Olt 33 Artikel
Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt war seit 1. November 1985 politischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und seit 1. September 1994 bis zu seinem Ausscheiden am 31. August 2012 mit Sitz in Wien deren politischer Korrespondent für Österreich, Ungarn, Slowenien, zeitweise auch für die Slowakei. In der FAZ hat er die meiste Zeit seines beruflichen Wirkens zugebracht; daneben nahm er Lehraufträge an deutschen und österreichischen Hochschulen sowie in Budapest wahr. Seit 1990 ist er Träger des Tiroler Adler-Ordens, seit 2013 des Großen Adler-Ordens. 1993 erhielt er den Medienpreis des Bundes der Vertriebenen. 2003 zeichnete ihn der österreichische Bundeskanzler mit dem Leopold-Kunschak-Preis aus, und der Bundespräsident verlieh ihm im gleichen Jahr den Titel Professor. 2004 wurde er als erster von diesem mit dem "Otto-von-Habsburg-Journalistenpreis für Minderheitenschutz und kulturelle Vielfalt geehrt"; ebenfalls 2004 wurde ihm das Goldene Ehrenzeichen der Steiermark verliehen. 2012 ernannte ihn die Eötvös-Loránt-Universität in Budapest zum Ehrendoktor (Dr. h.c.) sowie Professor, und 2013 verlieh ihm der österreichische Bundespräsident das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. Geboren wurde Olt 1952 als Sohn eines Bauern im Odenwald. Sein Abitur bestand er 1971 in Michelstadt. Nach Ableistung des Wehrdienstes studierte er Germanistik, Volkskunde, osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft in Mainz, Freiburg und Gießen bis zur Promotion 1980. Es folgte an der Universität Gießen eine Assistententätigkeit. Dann begann 1985 seine Zeit in der FAZ.