Regionale Zusammenarbeit ohne Integration – Die EU ist für ASEAN kein Vorbild mehr

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Der 1976 von Indonesien, Malaysia, Singapur, Thailand und den Philippinen unterzeichnete Gründungsvertrag der ASEAN trug den Titel „Treaty of Amity and Cooperation in Southeast Asia“. Artikel 1 präzisiert: „Ziel dieses Vertrages ist es, dauerhaften Frieden, unverbrüchliche Freundschaft und die Zusammenarbeit zwischen unseren Völkern zu fördern, um damit zu ihrer Stärke, Solidarität und zu engen Beziehungen untereinander beizutragen“. Die Idee war ähnlich revolutionär wie die europäische Einigung, denn dreihundert Jahre Kolonialismus, die japanische Besatzung im Zweiten Weltkrieg, sowie der Kalte Krieg und seine heiße Variante in Vietnam und Indochina hatten die Bildung unabhängiger Staaten erheblich verzögert. Alte Träume von einem regionalen Riesenstaat aus Malaysia, Philippinen und Indonesien („Maphilindo“) trugen zwischen 1963 und 1966 zu erheblichen militärischen Spannungen bei. Auch der endgültige Abzug der Kolonialmächte hatte sich lange und blutig hingezogen und damit eine rasche Konsolidierung der jungen Nationen erschwert.

Die „Association of Southeast Asian Nations“ (ASEAN) hat inzwischen 10 Mitglieder, einen Beitrittskandidaten (Ost Timor) und einen Beobachter (Papua Neu Guinea). ASEAN hat die EU bisher weitgehend als nachahmenswertes Vorbild gesehen. Nach der Erweiterung auf 27 Mitglieder und acht Beitrittskandidaten, nach dem Brexit, den aktuellen Spannungen mit Ungarn und Italien und den wachsenden innenpolitischen und wirtschaftlichen Krisen in Europa dürfte es vor allem das supranationale Prinzip der EU sein, das in Südostasien Skepsis auslöst. Denn trotz manch interner Kritik an der oft schwerfälligen Konsensfindung in der ASEAN, die Einstimmigkeit erfordert, ist an eine freiwillige Aufgabe von Souveränitätsrechten nicht zu denken. Die tiefere und schnellere Integration Europas wurde lange bewundert, aber die nicht ausreichend transparenten Machtstrukturen in Kommission, Parlament und Rat, die in einer ganzen Reihe von Politikbereichen verbindliche Entscheidungen für alle Mitgliedstaaten treffen, werden in Südostasien genau so kritisch beobachtet wie zunehmend in Teilen der EU selbst. Die Länder Südostasiens haben bei aller internen Komplexität vieles gemein, darunter auch die Überzeugung, dass gerade wegen der regionalen und innerstaatlichen Vielfalt eine vertiefte Integration nach EU-Vorbild nicht förderlich sein kann. Sprache, Religion, zahllose ethnische Minderheiten und die unterschiedlichen Kolonialerfahrungen haben die Einzelstaaten historisch geprägt. Viele ländliche Regionen sind in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung noch weit zurück. Aber der Aufholprozess und die Urbanisierung sind in vollem Gange und alle Regierungen sind sich bewusst, dass nur politische Stabilität und die Vermeidung zwischenstaatlicher Konflikte ihn in Gang halten kann.

Konfliktpotential gibt es ausreichend, vom Bürgerkrieg gegen die Militärregierung in Myanmar und unterschiedliche Interessen im Südchinesischen Meer bis zur Frage, ob man mehr zu China oder mehr zur Fortsetzung der amerikanischen Hegemonie tendiert. Die gemeinsame Einstellung dabei, anders als in Europa, ist Neutralität, die Geschäfte mit beiden Weltmächten ermöglicht. Interessanterweise hat der Handelskonflikt zwischen den USA und China dazu geführt, dass der ASEAN- Handel mit beiden Ländern deutlich gewachsen ist.

Während sich die wirtschaftlichen Aussichten für die EU zunehmend eintrüben, sind sie für die meisten ASEAN-Länder ausgesprochen positiv. Das beginnt bereits bei den demographischen Voraussetzungen mit einer jüngeren (Durchschnittsalter 30-EU 45) und einer deutlich größeren Bevölkerung von 672 Millionen (EU 450). Daraus ergibt sich ein expandierendes Arbeitskräftereservoir, sodass über die jeweils nationalen Arbeitsmärkte hinaus überall dort, wo die Wirtschaft besonders schnell wächst, Fachkräfte und Hilfsarbeiter aus der Region zur Verfügung stehen. Die Metropolen profitieren zudem von jungen Frauen aus den ländlichen Gebieten, die als Haushaltshilfen durch Kinderbetreuung und Altenpflege den Alltag ihrer Arbeitgeber erleichtern und jungen Müttern nach kurzer Babypause die Rückkehr in den Beruf ermöglichen. Sie leben mit im Haushalt und finanzieren gleichzeitig mit ihrem Lohn die Familien in der Heimat. Ähnliches gab es übrigens in grauer Vorzeit auch einmal in Deutschland, denn um 1900 stellten Hausmädchen vom Lande die größte Berufsgruppe im aufstrebenden Kaiserreich.

Beim regionalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt ASEAN mit fast 4 Billionen USD noch weit hinter der EU (17 Billionen), hat sein BIP aber seit 2009 mehr als verdoppelt und erwartet im laufenden Jahr ein Wachstum um 4,6 Prozent. Angetrieben wird es von steigender interner Nachfrage durch die rasch wachsende Mittelschicht und durch ausländische Investitionen. Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Erneuerbare Energien gehören zu den gemeinsamen Prioritäten, auch wenn sie nicht jedes Mitgliedsland in gleicher Geschwindigkeit einsetzen kann.

Nach China und den USA ist die EU der drittwichtigste Handelspartner der ASEAN, europäische Direktinvestitionen erreichten 2022 mehr als 400 Milliarden €. Wegen der zentralen Lage, der politischen Stabilität und seiner wirtschaftsfreundlichen Politik haben sich allein in Singapur mehr als 2300 deutsche Firmen angesiedelt, oft mit einem regionalen Hauptquartier.

Zwischenstaatlichkeit (ASEAN) und Supranationalität (EU)

Natürlich waren die Voraussetzungen bei der Gründung äußerst unterschiedlich, auch die historischen. In Südostasien hatten auswärtige Mächte die schlimmsten Kriege geführt, während der kriegerische Teil der Abnabelung von den Kolonialmächten eher zu den geteilten positiven Erinnerungen zählte, Stichwort Bandung-Konferenz 1955. Bei der Entwicklung der EU und ihren Anfängen in der Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), EURATOM und EWG spielten die Wunden der Kriege gegeneinander sowohl materiell als auch psychologisch noch eine einigende Rolle. Vermutlich trugen sie dazu bei, den Souveränitätsverzicht als Voraussetzung und Versprechen für eine bessere und friedlichere Zukunft zu sehen. Der gemeinsame Wirtschaftsraum schien dabei auch lange genügend Vorteile für alle Mitgliedsländer zu bieten, um bindende Entscheidungen aus Brüssel und die Angleichung der Rechtssysteme zu akzeptieren. Es darf allerdings bezweifelt werden, dass auch nur einer der Gründungsväter sich vorstellen konnte, wie die Supranationalität zunehmend ein Eigenleben entwickeln und eine “Regierung der Regierungen“ etablieren würde, die eine Bürokratie von 40.000 Mitarbeitern und einen Sprachendienst mit mehr als 4000 Übersetzern und Dolmetschern beschäftigt.

Supranationalität verspricht, dass die Kommission in Brüssel die Gesamtinteressen der EU im Blick hat und von eventuell abweichenden nationalen Interessen weitgehend unabhängig ist. Die Anpassung der Gesetzgebung in den einzelnen Mitgliedsländern kann nicht ohne weiteres als durchgeführt gelten, sie muss auch nachvollziehbar den Vorgaben entsprechen. Dazu gibt es ein förmliches Kontrollverfahren, das bei Abweichungen oder Nichtumsetzung ein „Vertragsverletzungsverfahren“ nach Artikel 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) auslöst. Zu den Beispielen der letzten Jahre gehören die Verfahren gegen Polen (Justizreform), Ungarn (Asylrecht), Italien (Umwelt, EU-Wasserrahmenrichtlinie) oder Deutschland (Nitratbelastung). Die Kommission kann als Sanktionen gegen die Nichtumsetzung Fördermittel streichen oder Vertragsstrafen festsetzen, was die Zusammenarbeit belastet. Denn bei den wirtschaftlich schwächeren Mitgliedern tragen gerade die Finanztransfers zur Vertragstreue bei. Gängelung weckt aber Widerstand, was die komplexe Bürokratie nicht gerade beliebt macht. Interessanterweise reagierten „Wirtschaftswoche“ und „Handelsblatt“ umgehend mit Kommentaren auf die Beauftragung von Elon Musk, die Verwaltung der USA schlanker und effizienter zu machen. So etwas könne Deutschland wie auch die EU gut gebrauchen…

Die Erweiterungswellen haben schon lange zu einer Spaltung in Geber- und Empfängerländer geführt, was auf beiden Seiten eher negative Emotionen erweckt. Was dem Geber zu viel erscheint, ist dem Nehmer zu wenig, und Sanktionen werden als Druckmittel und Einmischung empfunden. Ähnlich ergeben sich psychologisch unterschiedliche Einstellungen zwischen kleinen und großen Ländern, aber auch historische Animositäten überleben im Untergrund des jeweils nationalen Bewusstseins. Sie haben mit zur Brexit-Entscheidung der Briten beigetragen, deren Mehrheitserfolg von der älteren Generation mit ihrem traditionellen Grundgefühl   getragen war, dass die Insel etwas Besonderes ist und nicht ein Teil Europas. Weil sich die EU inzwischen in einer komplexen Krise befindet, die durch den Ukrainekrieg verschärft wird, dürfte das Wir-Gefühl auch an anderen Stellen leiden. Die gerade erst mühsam beigelegten Spannungen bei der Neubesetzung der Kommission zeigen die Bruchlinien zwischen den Mitgliedsländern auf sowie die neuen parteipolitischen Kräfteverhältnissen nach der Wahl des EU-Parlaments.

Könnte die EU von der ASEAN etwas lernen?

Institutionell vermutlich wenig, dazu ist schon der Größenunterschied von 27 zu 10 Mitgliedern zu groß. Aber für immer neue Erweiterungsrunden der EU könnte ein Nachdenken über die Grenzen der Integration gerade im Vergleich mit den Prioritäten in Südostasien hilfreich sein. Für Kenner Südostasiens ist ein regionaltypischer mentaler Vorteil offensichtlich: Statt Schwarz-Weiß-Denken und Konfrontation findet sich dort in einem breiten Spektrum von Grautönen so gut wie immer eine praktikable Lösung. Falls einmal nicht, kommt das Problem in eine Warteschleife, bis eine Einigung möglich erscheint. Kompromiss und Konsens sind wichtiger als die Durchsetzung von Prinzipien und allgemeingültige Regelungen, die ohnehin nicht jeder in gleicher Weise einhalten kann. So flexibel sind deshalb auch die gemeinsamen Anstrengungen der ASEAN, den Binnenhandel zu optimieren und zu koordinieren. Die Zusammenarbeit ist durch eine Reihe von Handelsverträgen immer wieder ergänzt worden, die auch weitere Partner außerhalb der Region einbeziehen. Seit 1993 baut die „ASEAN Free Trade Area“ (AFTA) systematisch die internen Handelshemmnisse ab. Mit der „Regional Comprehensive Economic Partnership“ (RCEP) hat ASEAN zusammen mit China, Japan, Süd-Korea, Australien und Neuseeland die weltweit größte Freihandelszone etabliert. Zusätzlich reduzieren weitere bilaterale Abkommen mit diesen Ländern noch bestehende Zollschranken. Mit der EU gibt es bisher Freihandelsabkommen mit Singapur (seit 2019) und Vietnam (seit 2020), aber noch keine Lösung als regionale Organisationen. Die Verhandlungen mit Indonesien, Malaysia, Thailand und den Philippinen ziehen sich hin. Auch die Privatwirtschaft arbeitet mit. Seit 2015 hat sich ein Zusammenschluss der wichtigsten europäischen Unternehmen und der neun europäischen Handelskammern in Südostasien als EU-ASEAN Business Council (EU-ABC) um praktikable Lösungen für noch bestehende Handelshemmnisse verdient gemacht. Geopolitisch stehen die Zeichen allerdings auf Sturm. Wie das „Handelsblatt“ befürchtet, gehört der von Trump designierte neue Wirtschaftsminister Howard Lutnick zu den China-Falken und dürfte die deutsche Verflechtung mit der Volksrepublik äußerst misstrauisch beurteilen. Lutnick, ein prominenter Investmentbanker, soll gleichzeitig Handelsbeauftragter werden und wird dadurch eine Schlüsselrolle in dem sich ausweitenden Handelskrieg mit China spielen. Die deutsche Autoindustrie kann dann zur Absatzflaue im Inland mit weiteren Problemen in China und den USA gleichzeitig rechnen.

Während die EU völlig eindeutig zum westlichen Bündnis und zur transatlantischen Partnerschaft steht, versuchen die ASEAN-Mitglieder, eine klare Entscheidung zu vermeiden und mit beiden Weltmächten gut auszukommen. Wirtschaftlich wächst die Verflechtung mit China ohnehin kontinuierlich und ersetzt zunehmend traditionelle Handelsströme, denn China kann praktisch alle denkbaren Produkte preiswerter und schneller liefern, zunehmend auch in Spitzenqualität. Ferdinand Marcos Junior, der neue Präsident der Philippinen, hat die pro-chinesische Politik seines Vorgängers vor allem militärisch in Richtung USA umgekehrt. Die Philippinen waren von 1898 bis 1942 amerikanische Kolonie, und Marcos hat nach dem Sturz seines Vaters 1986 Jahrzehnte im Exil in Hawaii gelebt. Dagegen versucht der gerade vereidigte neue Präsident Indonesiens, Prabowo, den Spagat zwischen mehr Handel mit China und guten Beziehungen zu Donald Trump. Und Singapur mit seiner chinesischen Bevölkerungsmehrheit ist es geradezu beispielhaft gelungen, mit beiden Supermächten vertrauensvoll zusammen zu arbeiten. Vielleicht wäre eine ähnliche Flexibilität ohne ideologische Scheuklappen ein Beispiel für die EU und für Deutschland. Aber das eine zu tun ohne das andere zu lassen ist wohl zur Zeit keine Stärke der Deutschen und der Europäer.

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