Zentrale Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag des Mauerbaus

Am Morgen des 13. August 1961, einem Sonntag, hörte das junge Ehepaar Hartmut und Gerda Stachowitz in seiner Westberliner Studentenwohnung, dass an der Sektorengrenze eine Mauer gebaut werde. Voller Angst eilte Gerda Stachowitz in den Ostteil der Stadt, wo im Haus ihrer Eltern ihr kleiner Sohn Jörg war. Ihr Mann blieb im Westen. Viele Monate später wurden Hartmut und Gerda verhaftet, nachdem sie verzweifelt versucht hatten, durch einen Fluchttunnel wieder als Familie zueinander zu kommen. Beide kamen ins Gefängnis, der kleine Sohn in staatliche Hände, die Mutter wusste nicht, wie und wo. Erst zwei Jahre später war die Familie wieder vereint, erst 1973 durfte sie endlich die DDR verlassen.
Ein einzelnes schweres Schicksal unter Hunderttausenden.
Wir erinnern heute an einen verhängnisvollen Tag der deutschen Geschichte.
Zugleich ist es ein Glück – ein sehr seltenes –, dass wir in der Erinnerung an diesen Tag wissen: Die Geschichte ist glücklich ausgegangen! Das war nicht unbedingt zu erwarten. Und das haben irgendwann auch nicht mehr Viele erwartet.
Wir erinnern an die Weltlage der starren, hochgerüsteten Blöcke, der unversöhnlich gegeneinander stehenden Gesellschaftssysteme. Mittel- und Osteuropa unfrei. Deutschland geteilt, im Zentrum einer geteilten Welt. Und mitten durch Berlin die Mauer – drastisches Symbol der kommunistischen Zwangsherrschaft und Symbol ihres Scheiterns.
Wir denken an das Leid, das ungezählten Frauen, Männern und Kindern zugefügt wurde – an der Mauer und innerhalb der unmenschlichen Grenzen des SED-Unrechtsstaates, der ihm verdächtige Bürger körperlich und seelisch quälte und allen die elementaren Menschenrechte vorenthielt.
Wir erinnern an politische Verbrechen, deren plumpe bis subtile Brutalität der DDR-Bürgerrechtler Ehrhart Neubert so erschütternd dargestellt hat: von der Tötung schon gestellter Flüchtender bis zur psychischen Zermürbung und gezielten Zerstörung vertrauensvoller menschlicher Beziehungen.
So viele persönliche Schicksale auf beiden Seiten, Schicksale zerrissener Familien, Partnerschaften und Freundschaften. Menschenleben, Lebenschancen und Lebenshoffnungen zerrieben zwischen gewaltigen politischen Mächten, zerbrochen an dieser Mauer.
Immer neu wurde Blut an ihr vergossen, von Anfang an bis in das Jahr 1989. Mindestens 136 Tote beklagen wir – niemand kennt die genaue Zahl.
Das erste Todesopfer war Ida Siekmann am 22. August 1961. Sie wollte hier in der Bernauer Straße aus dem dritten Stock in die Freiheit springen. In ihrer Verzweiflung warf sie Bettzeug voraus, um den Sprung abzufedern. Es half nicht. Sie starb einen Tag vor ihrem 59sten Geburtstag.
Das zweite Opfer war zwei Tage später der 24 Jahre alte Schneidergeselle Günter Litfin. Zwischen Friedrichstraße und Lehrter Bahnhof eine Lücke in den Westen suchend, wurde er entdeckt, sprang in das Becken des Humboldthafens und schwamm zum Westberliner Ufer, das er fast erreicht hatte, als die tödliche Kugel seinen Kopf traf.
Unvergessen auch ist der 18-jährige Maurergeselle Peter Fechter, der am 17. August 1962 in der Zimmerstraße nahe am Checkpoint Charlie vergeblich um Hilfe schrie. Er verblutete auf dem Todesstreifen.
Und ich will an Chris Gueffroy erinnern. Der 20-jährige starb am 6. Februar 1989. Am Britzer Verbindungskanal versuchte er, die Mauer zu überwinden, wurde entdeckt, durch Schüsse verwundet und unter Schock reglos stehend durch einen gezielten Schuss getötet.
Liebe Frau Gueffroy, lieber Herr Litfin, ich bin dankbar, dass auch Sie heute bei uns sind. Unser Mitgefühl gilt Ihnen und den Angehörigen aller Opfer.
Wir verneigen uns vor allen Toten an der Mauer und vor den mehreren hundert Toten an der innerdeutschen Grenze, den Grenzen zu Drittstaaten und in der Ostsee. Bei der Gedenkminute heute um 12 Uhr wollen wir an sie denken.
Die Toten und Verwundeten, die Hunderttausenden politisch Inhaftierten und die Drangsalierten sind nicht die einzigen Opfer dieser Mauer. Hinter ihr mussten Millionen auf ein selbstbestimmtes Leben verzichten. Die persönliche Entfaltung, sich nach den eigenen Neigungen ungehindert zu entwickeln, das menschliche Streben zum Besseren hin oder einfach nur teilzuhaben an dem, was in der Welt gedacht und gemacht wurde – das hat dieser Staat zu ersticken gesucht.
Selten sind gegenüber dem vielfachen Leid die Geschichten von glücklicher Überwindung von Mauer und Eisernem Vorhang. Aber es gibt auch sie, und an sie denken wir mit Dankbarkeit: An die Tunnel in die Freiheit. An die Flucht der Familien Strelzyk und Wetzel 1979 mit einem selbstgebauten Heißluftballon. An die 48 Kilometer, die Peter Döbler 1971 von Kühlungsborn nach Fehmarn schwamm. Und an viele weniger spektakuläre.
Die Mauer richtete sich für alle sichtbar gegen das eigene Volk. Sie war Ausdruck der Angst vor dem eigenen Volk.
Die Weltlage, deren Symbol diese Mauer war, schien unabänderlich.
Aber einmal mehr hat sich gezeigt: Am Ende ist die Freiheit unbesiegbar. Keine Mauer widersteht dauerhaft dem Willen zur Freiheit. Die Gewalt der wenigen hat keinen Bestand gegen den Freiheitsdrang der vielen.
Willy Brandt hatte es bereits am Abend des 13. August 1961 den Bürgern in der DDR und in Ostberlin zugerufen: „Noch niemals konnten Menschen auf die Dauer in der Sklaverei gehalten werden.“
Die Bürger der DDR haben dann in jenen Revolutionstagen 1989 heldenhaften Mut bewiesen. Es konnte keinen Zweifel an der Entschlossenheit der aufmarschierten Sicherheitskräfte in Leipzig und anderswo geben, die Bewegung niederzuschlagen. Doch es triumphierte die Liebe der Menschen zur Freiheit.
Nie in den Jahrzehnten der Teilung konnte diese Liebe zur Freiheit ganz unterdrückt werden.
Da waren die vielen Menschen, die aus Freiheitssehnsucht unter Todesgefahr die Flucht über die Mauer und die innerdeutsche Grenze wagten.
Da waren die Männer und Frauen, die in kleinen Kreisen Veränderung diskutierten. Es waren sehr oft Christen, die sich nicht abfanden mit den Zuständen. Es waren Pfarrer und Gemeinden, die Schutz und Raum boten für politische Gespräche und Gebete. Daran möchte ich erinnern, gerade in einer Zeit, in der nicht wenige Kirche und Religion ins Private zurückdrängen wollen.
Da waren die immer wieder aufflammenden Aufstände gegen die Unfreiheit, von Panzern niedergewalzt, unter Kriegsrecht zertreten: am 17. Juni 1953 in der gesamten DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei, 1970 und 1980/81 in Polen.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Viele, allzu viele, hatten sich abgefunden mit Teilung und Mauer.
Viel Verständnis verdienen die Ostdeutschen, die vor der Alternative standen, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren oder Tod und Gefängnis zu riskieren. Wo immer das ging, zog man sich zurück in die Nischen des Privaten. Das war Leben – und das waren oft eindrucksvolle Lebensleistungen – unter den Bedingungen eines Unrechtsstaats.
Beschämend dagegen eine um sich greifende Gleichgültigkeit in Westdeutschland. Hier herrschte ein gerüttelt Maß an intellektueller und moralischer Bequemlichkeit. Unrecht von links empörte weniger als Unrecht von rechts. Die Sandinisten in Nicaragua fanden mehr Anteilnahme als die ostdeutschen Bürgerrechtler. Viele gewöhnten sich an die Mauer, viele verharmlosten sie. So manchen berührte das Schicksal von Millionen Deutschen jenseits des Stacheldrahts kaum noch. Dass das Ziel der Wiedervereinigung aus der Präambel des Grundgesetzes gestrichen werde, forderten nicht wenige noch 1989. Vielen in der Politik galt die deutsche Frage nicht mehr als offen. Die diskutierte Schließung der Erfassungsstelle Salzgitter für DDR-Unrecht fand immer mehr Anhänger. Das Thema Nation wurde Minderheitenprogramm, Demonstrationen zum Tag des Mauerbaus fanden in den Medien kaum mehr ein Echo. Wer an die Nation erinnerte und Mauer und Stacheldraht beklagte, galt weithin als Störenfried und fand sich auch beschimpft als Ewiggestriger, kalter Krieger, Feind des Weltfriedens.
Unser Land schuldet den Bürgerinnen und Bürgern der DDR bleibende Dankbarkeit. Ermutigt durch Gorbatschows Glasnost und Perestroika und die Veränderungen in Polen und Ungarn haben sie die Teilung des Kontinents überwunden und aller Welt gezeigt, welche Kraft der einzelne Wille zur Freiheit entfaltet, wenn er sich mit anderen zusammentut. Das Menschenrecht der Freiheit selbst erkämpft zu haben – das ist das große Geschenk der Deutschen aus der DDR an die Geschichte unseres Landes.
Die Erinnerung an das Unrecht der Mauer mahnt uns, in der Welt diejenigen nicht allein zu lassen, die für Freiheit, Demokratie und Bürgerrechte kämpfen. Und sie verlangt von uns, dafür zu sorgen, dass sich Geschichte nicht wiederholt.

Wir müssen erinnern und vor allem aufklären.
Dieser wichtige Ort hier in der Bernauer Straße steht für die vielen Menschen und Initiativen, Behörden, Opferverbände, Geschichtswerkstätten, Museen und Gedenkorte, die sich dafür engagieren. Dieses Engagement ist bitter nötig. Dass Mittel und Wege der Machtausübung in diesem Staat verbrecherisch waren, ist zu vielen Deutschen nicht bewusst. Es wird verklärt und verharmlost, nicht nur im Osten, nicht nur von Tätern.
Besonders in den Schulen kann und muss der Verfestigung falscher Geschichtsbilder und purer Unkenntnis vorgebeugt werden. Viele Lehrer engagieren sich hier, und ich möchte appellieren an die Lehrerinnen und Lehrer in unserem Land: Nutzen Sie mit Ihren Schülern die Möglichkeiten der Aufklärung, die sich an Orten wie diesem hier bieten! Es darf nicht sein, dass – wie Herr Litfin erzählt hat – noch nie eine Schulklasse aus dem Ostteil Berlins Gedenkstätte und Museum besucht hat, die er in Erinnerung an die Opfer der Mauer betreibt.
Den Unrechtscharakter des SED-Staats hervorzuheben, heißt nicht, in der DDR gelebtes Leben hochmütig und nachträglich zu entwerten. Unter den Folgen des Unrechts, das im Namen aller Deutschen vor 1945 verübt worden ist, haben die Ostdeutschen in besonderer Weise gelitten. Wie die Landsleute in der DDR unter den Bedingungen der Unfreiheit ihr Leben gemeistert haben, hat mich immer tief beeindruckt. Abseits der Verbrechen des Staates sind Millionen unter moralischen Anstrengungen anständig geblieben und haben in Beruf, Familie und Nachbarschaft Großes geleistet.
Sprechen wir über unsere jüngste Geschichte, stellt sich unweigerlich die Frage, ob die Täter ausreichend zur Rechenschaft gezogen worden sind. Die Opfer werden diese Frage mit Bitterkeit verneinen. Und das ist menschlich nur allzu verständlich. Wir denken an den Satz Bärbel Bohleys: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Es ist viel verlangt, aber denen, die in der DDR gelitten haben, will ich sagen: Versuchen Sie auch das Gute in diesem Satz zu hören. Es ist gut, dass in unserem Staat ein Handeln nur so weit bestraft wird, wie es sich persönlich zurechnen lässt, und nur dann, wenn es zum Zeitpunkt der Handlung am Ort des Geschehens unter Strafe stand. Es ist gut, dass es im Rechtsstaat möglich bleibt, auch den Täter als Opfer zu begreifen. Und nicht alles moralisch verwerfliche Handeln ist im Rechtsstaat strafrechtlich verfolgbar. Als „DDR-Systemunrecht“ wurde nach 1990 auch unter Verlängerung von Verjährungsfristen trotzdem vieles verfolgt und geahndet. Wichtiger als die Höhe der Strafen war und ist das Signal, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht ungestraft bleiben. Der Rechtsstaat kann das Gerechtigkeitsgefühl verletzen, aber es ist eine zivilisatorische Errungenschaft, dass nicht das Gefühl richtet.
Und wir heute, hier bei uns? Welche Lehren hält die Mauer für unser Gemeinwesen bereit?
Es läge nahe, nun metaphorisch von Mauern in unserer Gesellschaft und in den Köpfen heute zu reden. Ich will das nicht tun. Denn es hieße, das Schreckliche und Böse der wirklichen Mauer zu banalisieren. Keines der heutigen Probleme in unserem Land reicht auch nur entfernt an das Leid heran, dessen wir hier gedenken. Alle können wir sie lösen. Denn wir haben die Freiheit, das zu tun. Und darauf kommt es an. Unsere Zukunft liegt in unseren Händen.
Das Ende der Geschichte der Mauer kann uns Mut machen: Denn die Geschichte dieses Endes haben Menschen geschrieben. Die Mauer fiel nicht – sie wurde umgestürzt.
Wir können Veränderungen erreichen. Streben wir deshalb zuversichtlich nach noch mehr wirklicher Freiheit in unserem wiedervereinigten Land. Das heißt heute vor allem: Jedem die Möglichkeit, sich frei zu entfalten! Wir müssen die zu uns Gekommenen besser integrieren und für alle in unserer Gesellschaft noch mehr Entfaltungschancen schaffen. Mehr aus sich zu machen, muss tatsächlich allen möglich sein.
Wenn Menschen der verschiedensten Herkunft sagen: Wir leben gern hier, dies ist ein gutes Land, für das ich mich einsetzen will, weil es auch mir viele Chancen bietet – dann haben wir erreicht, was wir mit Integration und besserer Bildung meinen.
Unser Gemeinwesen, in dem wir in hohem Maße frei, solidarisch und gerecht zusammenleben, verdient eine solche zustimmende Grundhaltung. Es ist die Haltung von „Bürgern“ im eigentlichen Sinne. Begreifen wir dieses Gemeinwesen immer neu als das unsere. Übernehmen wir Verantwortung für die gemeinsame Sache. Tun wir Dienst an der Gesellschaft, ob im Ehrenamt, als freiwillig Wehrdienstleistende, im Bundesfreiwilligendienst oder ganz einfach als Mensch am Menschen.
Die Erinnerung an die Leben erstickende Mauer mahnt uns, die Offenheit unserer heutigen Welt und die Präsenz des Fremden in ihr auszuhalten, auch wenn es anstrengend ist. Offenheit und die Bereitschaft einer Gesellschaft, sich zu verändern, werden belohnt. All das erfordert Mut. Aber wir haben keinen Anlass, davor zu erschrecken.
Wir Deutsche haben diesen Mut seit 1945 vielfach bewiesen. Wir haben im Osten wie im Westen unser Land wieder aufgebaut und Millionen Vertriebene und Flüchtlinge integriert. Wir haben eine Demokratie gegründet und eine Diktatur zu Fall gebracht. Wir haben seither erreicht, dass dieses Land mehr und mehr zu einem tatsächlich einigen, zu unserem gemeinsamen geworden ist und dass die Unterschiede der Herkunft an Bedeutung verlieren, zumal in der jungen Generation. Die Wiedervereinigung ist uns erstaunlich gut gelungen – das nehmen ausländische Beobachter oft schärfer wahr als wir selbst.
Ich erfahre täglich, was für ein großartiges Land Deutschland heute ist. Was die Bürgerinnen und Bürger für den Zusammenhalt leisten. Auf wie viel Neues wir uns eingelassen haben, gerade die Ostdeutschen in den Jahren seit dem Umsturz der Mauer. Wie wir uns dem weltweiten Wettbewerb stellen und bisher besser als die meisten anderen Industrienationen durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen sind.
Wir haben Mut zum Wandel bewiesen. Und wir werden ihn weiter beweisen müssen, wenn wir etwa an die zu geringe Zahl junger Menschen in unserer Gesellschaft denken, wenn wir die Energiewende zum Erfolg führen wollen oder unsere Schulden mit Rücksicht auf die jungen Menschen wirklich und nachhaltig begrenzen wollen.
Einigkeit und Recht und Freiheit – was das Lied der Deutschen in diesem August seit genau 170 Jahren ersehnt, das haben wir erst seit gut 20 Jahren. Ich wünsche mir, dass wir unser Glück von Freiheit und Einheit und Recht wirklich schätzen und unser wiedervereinigtes Deutschland immer neu zum Blühen bringen – eingebettet in ein einiges und starkes Europa, das dem Frieden in der Welt dient.
Schätzen und schützen wir die Freiheit, die wir haben!
www.bundespraesident.de

Über Wulff Christian 10 Artikel
Christian Wulff, geboren 1959 in Osnabrück, studierte Rechtswissenschaften. Vom 4. März 2003 war er Ministerpräsident des Landes Niedersachsen. Von Oktober 2006 bis Oktober 2007 Vorsitzender der deutschen Ministerpräsidentenkonferenz. Vom 30. Juni 2010 bis zum 17. Februar 2012 war er Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.

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