Beseelte Werke, beseelte Besucher – Das Kölner Schnütgen-Museum widmet Arnt, dem Bilderschneider, eine Einzelausstellung

Goldene Madonna, Ausschnitt, Foto: Constantin Graf von Hoensbroech

Betend kniet der heilige Georg vor dem Rad, auf das er gleich gespannt und mit dem er dann gerädert wird. Betend und milde dreinblickend hockt er im Kessel und erträgt mit scheinbar stoischer Gelassenheit die Qualen durch das siedende Blei, in dem er gekocht wird. Gelassen wirkt er auch, als er neben dem kräftigen Mann kniet, der mit beiden Armen eine Axt schwingt, um dem frommen Mann im nächsten Moment einen Arm abzuhacken. Auf einem anderen Bild ist es ein glatzköpfiger Henkersmann mit groben Gesichtszügen, der einen kantigen Klotz erhebt, um dem Heiligen den nächsten Holzpflock in den malträtierten nackten Leib zu treiben. Die ungeheuerliche und in ihrer Lebendigkeit geradezu schmerzhaft nachfühlbare Gewalt kommt schließlich am unteren Bereich des riesigen Altarbildes an ihr Ende: In goldfarbener Rüstung, den Helm neben sich liegend, die Augen verbunden und mit gefalteten Händen in tiefes Gebet versunken, erwartet der geradezu demütig kniende Georg den Schwertschlag, mit dem er enthauptet und von seinem Martyrium endlich erlöst wird. Allen an ihm begangenen Gräuel zum Trotz scheint Georg von der Überzeugung beseelt zu sein, dass ihm nach dem Tode die himmlische Verheißung erwartet.

Die Drastik und Plastizität, mit der die Folter des heiligen Georg in dem ihm gewidmeten Altarbild dreidimensional und in Farbe dargestellt wird, ist auch über 500 Jahre nach der Entstehung ergreifend. Das gilt auch für die Darstellung, für die Georg gemeinhin bekannt ist: die Rettung einer Jungfrau oder Prinzessin vor dem Bösen, das sich in Gestalt eines hässlichen Drachens vor dem heroisch auf einem weißen Pferd sitzenden Georg in prächtiger Rüstung beugen muss. Wie mag der heute noch so wirkmächtige fünf Meter breite, wie ein reichhaltiges Bilderbuch gestaltete und durch seine optische Tiefe beeindruckende Altar erst auf die Menschen respektive Gläubigen im Mittelalter gewirkt haben, denen durch die Werke der damaligen Handwerker biblische Geschichten, Geschehnisse, Personen und Heilige so lebendig, so nahbar, so dynamisch wie möglich vor Augen gestellt wurden? Der hier beschriebene Georgsaltar aus der Nicolaikirche in Kalkar ist dafür ein staunenswerter Beleg. Wer vor dem wie ein Monumentalbild komponierten Retabel steht, wird auch nach langem Verweilen noch längst nicht alle Details und die so ungemein ansprechende Beseeltheit mit ihren vielfältigen erzählerischen Elementen erfasst haben.

„Arnt der Bilderschneider – Meister der beseelten Skulpturen“ ist denn auch treffend die großartige Sonderausstellung überschrieben, mit der das Museum Schnütgen in Köln aufwartet. Dabei handelt es sich um die erste monographische Schau überhaupt, die dem einem breiteren Publikum sicherlich noch weithin unbekannten Holzschnitzer gewidmet ist. Die Ausstellung versammelt rund 60 Exponate aus der Bildschnitzerschule des spätgotischen Handwerkers vom Niederrhein. Welches der Objekte im einzelnen tatsächlich aus des Meisters Hand stammt oder ,nur‘ aus seiner Werkstatt stammt, lässt sich oftmals nicht mit Gewissheit sagen – und spielt im Grunde genommen keine Rolle. Schließlich handelt es sich durchweg um Werke von formvollendeter Qualität. Der ehemalige Leiter des Museums Kurhaus Kleve, der niederländische Kunsthistoriker Guido de Werd, hat die Vorbereitung der Kölner Ausstellung in vielfacher Hinsicht  und mit seiner Expertise – insbesondere als ausgewiesener Arnt-Experte – begleitet.

Der Georgsaltar wird in der Schau dabei erstmals überhaupt in einer Einzelausstellung außerhalb des Kirchenraumes präsentiert. „Die Werke bestechen durch außerordentliche Lebendigkeit, Themenreichtum und Erzählfreude“, sagt Museumsdirektor Moritz Woelk und verweist beispielsweise auf die beseelte und emotionale Darstellung eines predigenden Dominikaners: „Da glauben Sie alles.“ Von dieser Individualität werden die Besucher gleich zu Beginn des Rundgangs gepackt. Da nimmt die porträthafte und höchst lebendig wirkende Büste eines heiligen Bischofs die Gäste aus seinem prägnanten feinsinnigen Gesicht mit leichter Skepsis in den Blick. Durch die plastischen Ziernägel  in dem Gewand und in der Mitra sowie durch die sorgfältige Punzierung bekommt die farbige Plastik aus Eichenholz zusätzliche Unmittelbarkeit. Wer durch die Ausstellungsräume wandelt, wird sich kaum den vielen suggestiven Wirkungen und Emotionen entziehen können, die von den Objekten ausgehen. Wer ist nicht von der weinenden Muttergottes angerührt, die den Leichnam ihres Sohnes hält, ja vielmehr dergestalt präsentiert als flehe sie die Betrachter an, das Leid mit ihr zu teilen?

Der Museumsleiter ist davon überzeugt, dass die Menschen schon im Mittelalter diese Art der erzählerischen Darstellungen als Kunst zu würdigen wussten. Das gilt für die fast überbordenden figurenreichen Darstellungen ebenso wie für die markanten Einzeldarstellungen von Heiligen, der Muttergottes mit Kind, Engeln oder von Christus. Hinzu kommt, dass alle Arbeiten durch höchste handwerkliche Qualität bestechen, die den Vergleich mit den weitaus bekannteren Meistern spätgotischer Bildschnitzerkunst – der Würzburger Tilmann Riemenschneider (1460 bis 1531) oder etwa der Nürnberger Veit Stoß (1447 bis 1533) – in keiner Weise scheuen müssen.

„ic, aernt die beeldesnider“ steht auf einer ebenfalls in der Ausstellung gezeigten Quittung, mit der „Ich, Arnt der Bilderschneider“ im Jahr 1460 den Empfang eines Honorars bestätigt. Er quittiert damit den Erhalt von viereinhalb Goldgulden für die Anfertigung eines Wappenschildes für seinen Landesherrn, Herzog Johann I. von Kleve. Mit diesem Beleg konnten Kunsthistoriker in den vergangenen rund 60 Jahren nicht nur die Existenz von Meister Arnt und dessen Wirken bis etwa 1492 am Niederrhein sowie im heute niederländischen Zwolle erschließen, sondern ihm selbst und der von ihm begründeten Schule zahlreiche Holzschnitzarbeiten zuordnen. Somit lädt die Sonderausstellung besonders Fachkundige zu einer Neuentdeckung ein, die meisten Interessierten wohl aber überhaupt zu einer faszinierenden Entdeckung dieses genial begabten Künstlers. Wie wichtig und bedeutend die Schau eingeordnet werden kann, lässt sich auch an dem Umstand ablesen, dass sie einerseits von bedeutenden privaten und öffentlichen Stiftungen großzügig unterstützt wird.

Noch bemerkenswerter ist andererseits der Umstand, dass trotz der durch die Pandemie bedingten Verschiebungen und Unsicherheiten sämtliche Leihgeber an ihrem Engagement festgehalten haben – darunter sind Objekte aus so herausragenden Häusern wie dem Rijksmuseum Amsterdam, dem Musée de Cluny in Paris und dem Musée Art&Histoire in Brüssel. Viele Objekte kommen aus Kirchengemeinden am Niederrhein sowie aus den niederländischen Provinzen Gelderland und Limburg. Der Museumsdirektor vergisst nicht, die Bereitschaft der Kirchengemeinden, Objekte für die Dauer der Ausstellung abzugeben, dankbar hervorzuheben. „In Pfarrkirchen am Niederrhein fehlen vorübergehend Exponate, denen die Gläubigen seit Jahrhunderten besondere Verehrung entgegenbringen.“ So beispielsweise die goldene Madonna, eine Darstellung von jugendlicher Anmut.Die großzügige Bereitschaft aller Leihgeber lässt sich auch als Wertschätzung und Anerkennung ablesen, die dem Museum Schnütgen und seiner Arbeit als einem der weltweit führenden Häuser für mittelalterliche Kunst entgegengebracht wird.

Das konnte auch das Virus Covid-19 nicht verhindern. Allerdings musste die eigentlich ab April geplante Schau auf Ende Juni verschoben werden. Für den Ausstellungsbesuch ist das Tragen einer Maske verpflichtend. Es gibt klar definierte Abstandsregeln. Eine App für das Mobiltelefon kann heruntergeladen werden und liefert Bilderklärungen aus der Distanz. Führungen finden nur mit kurzem Zeitrahmen sowie mit jeweils maximal fünf Personen statt. Kunstinteressierte und Museumsbesucher dürften ohnehin wohl einfach erfreut sein, dass es nach der monatelangen Schließung des Kunst- und Kulturbetriebs wieder zugängliche Angebote gibt. Da setzt das Kölner Museum mit dieser Ausstellung ein Ausrufezeichen, das wie ein nachhallender Donnerschlag in den krisenbehafteten Alltag einfällt. Es gibt zudem eine erstaunliche Parallelität zur gegenwärtigen Erfahrung mit einer existenziell bedrohlichen Krisensituation. Denn im Jahr 1484 bestellte Bildschnitzer Arnt vier Särge. In Europa wütete damals die Pest und Arnt hatte offensichtlich einige seiner Angehörigen, vielleicht gar seine Familie, durch den Schwarzen Tod verloren. Ob er sich vom katholischen Glauben und dessen Überzeugung getragen wusste, dass der menschliche Lebensweg in der Geborgenheit des himmlischen Vaters endet? Arnts Altäre und Heiligenfiguren erzählen jedenfalls davon im Museum Schnütgen.

Im vergangenen Jahr hat die von dem Kölner Geistlichen Alexander Schnütgen (1843 bis 1918) begründete und nach ihm benannte Sammlung drei verschollene Fragmente erworben, um eines der in der Sammlung bereits befindlichen Hauptwerke von Arnt zu vervollständigen: das Relief mit der Anbetung der Heiligen Drei Könige. Freilich, ein sattsam bekanntes und mannigfach gestaltetes Motiv. Doch hier werden die Betrachter gleichsam unmittelbar hineingezogen in eine farbenfrohe und realistische Szenerie mit der so dankbar blickenden Gottesmutter und dem lieblichen Jesuskind mit roten Pausbäckchen. Das mit der spürbaren Lust am Erzählen so ergreifend gestaltete Relief steht gleich zu Beginn des klar gegliederten Rundgangs unter der Überschrift „Wieder zusammengeführt“. Weitere Themenräume sind tot etwa das Pariser Kartäuserretabel, die Marien-, Heiligen- und Christusbilder oder der unter der Überschrift „Superheld“ platzierte Georgsaltar. Besinnliche und dramatische Darstellungen wechseln sich dabei ab mit sinnlich-lebensnahen und geistlich-metaphysischen Bildern und Sujets sowie ausdrucksstark und höchst individuell gestalteten Figuren.

Dass es bei den mehrfigurigen Reliefszenen nicht nur darum geht, den Betrachtern biblische Themen oder Heiligengeschichten nahezubringen, betont Karen Straub: „Der Betrachter wird mit einbezogen“, schreibt die Museumskustodin in dem lesens- und sehenswerten Katalog, der zur Ausstellung erschienen ist. Diese direkte Ansprache des Betrachters gelingt durch verschiedene bildnerische Mittel, etwa mithilfe der Vergegenwärtigung oder durch die emotionale Einbeziehung. Szenen aus dem Leben Christi oder auch der Heiligen werden in die damalige Zeit, Umgebung, Landschaft und Architektur gestellt. Viele Figuren tragen die Kleidung oder Rüstungen des 15. Jahrhunderts. Die Geschichte und Legende des heiligen Georg vollziehen sich unter der von dicken Mauern eingefassten Stadtsilhouette von Kalkar.

„Die aus der Werkstatt Arnt hervorgegangenen Skulpturen zeichnen sich durch charakteristische Übereinstimmungen in den bewegten Gewandmotiven, lebendigen Körperhaltungen und Gesichtstypen aus sowie in der Art, einzelne Figuren auf unregelmäßig geschweifte Sockel zu stellen und bildhafte Reliefkompositionen zu gestalten“, fasst Moritz Woelk die Kriterien für Meister Arnt und dessen Werkstatt zusammen. Dass dies heute so klar gesagt werden kann, ist der kunsthistorischen Forschung zu verdanken, die in den zurückliegenden Jahrzehnten das Werk von Arnt sukzessive zusammengestellt hat. Wie indes die Werkstatt des Holzschnitzers arbeitete, ist weitestgehend unbekannt. „Aufgrund der Qualität und Produktivität kann sie keineswegs unbedeutend gewesen sein“, betont Woelk.

Foto: Constantin Graf von Hoensbroech

Am Ausgang der Ausstellung fällt der Blick auf eine Predella. Dieser Altarsockel sollte ein Werk von Arnt zieren, das er nicht mehr vollenden konnte: eine Darstellung der Kreuzigung für den Hochaltar in St. Nicolai. Die Predella zeigt die Fußwaschung Petri. Jedes Gesicht, jede Mimik, jede Körperspannung von Christus und seinen Jüngern ist dabei höchst individuell und eben einfach: beseelt dargestellt. Nicht nur bei diesem letzten Werk aus der produktiven Werkstatt von Arnt, sondern bei allen ausgestellten Objekten spiegeln sich Emotionen wider und übertragen, so Moritz Woelk, die Emotionalität und Dynamik der dargestellten Personen auf die Betrachter.

Wer die Ausstellung gesehen hat, verlässt sie wahrlich beseelt.

Museum Schnütgen, Cäcilienstraße 29-33, Köln. Bis 20. September, dienstags bis sonntags 10 bis 18 Uhr, donnerstags 10 bis 20 Uhr