Was ist die Zukunft des Wirtschaftsmodells Deutschland?

Wirtschaftsmodell Deutschland – Niedergang oder zweites Wirtschaftswunder?

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Was ist die Zukunft des Wirtschaftsmodells Deutschland? Der russische Angriff auf die Ukraine hat eine Debatte über die weitere Entwicklung des Wohlstands in Deutschlands ausgelöst. Es wachsen die Sorgen vor einem wirtschaftlichen Niedergang. Steigende Energiepreise, hohe Kosten des Klimaschutzes, zunehmende geopolitische Konflikte und eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung könnten den Erfolgen des deutschen Wirtschaftsmodells ein Ende setzen. Aktuelle Entscheidungen energieintensiver Unternehmen, Investitionen in die USA und nach China zu verlagern, scheinen das zu bestätigen. Optimisten halten dem entgegen, das weltweit wachsende Interesse an sauberen Technologien käme den Fähigkeiten der deutschen Unternehmen entgegen. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht sogar davon, Deutschland stehe wegen der Investitionen in die Dekarbonisierung vor einer Zeit hoher Wachstumsraten, ähnlich wie in den Jahren des Wirtschaftswunders.

Steht Deutschland also vor dem wirtschaftlichen Niedergang oder vor einem zweiten Wirtschaftswunder? Auf Wunder sollte man nicht hoffen, aber wie sich der Wohlstand tatsächlich entwickelt, wird in erheblichem Ausmaß davon abhängen, wie die Wirtschaftspolitik die Weichen für die kommenden Jahre stellt.

Was das deutsche Wirtschaftsmodell ausmacht

Was ist gemeint, wenn vom Wirtschaftsmodell Deutschland gesprochen wird? Erstens gehört dazu die starke Außenhandelsorientierung. Dabei wird häufig Deutschlands Abhängigkeit von China betont. Für einzelne Branchen ist dieser Markt in der Tat von großer Bedeutung. Die deutschen Autofirmen verkaufen mittlerweile etwa jedes dritte Auto in China. Der deutsche Außenhandel insgesamt ist aber deutlich stärker diversifiziert. Der Anteil Chinas beträgt rund 10 %.

Zweitens spielt die Industrie in Deutschland eine wichtige Rolle. Ihr Anteil an der Wertschöpfung liegt derzeit bei 18,3 %, deutlich höher als in Ländern wie Italien mit 15,2 % oder Frankreich mit 9,2 %.

Drittens ist Deutschland stark von fossilen Energieträgern abhängig, die bis vor Kurzem zu einem erheblichen Teil aus Russland importiert wurden. Klimaneutrale Energien, also Kernenergie und erneuerbare Energien, hatten 2021 einen Anteil von nur 22 % am deutschen Primärenergieverbrauch. Ohne die Kernenergie, die in diesem Jahr abgeschaltet wird, sinkt der Anteil noch einmal. Der Rest entfällt auf Öl, Kohle und Erdgas.

Viertens hat Deutschland seit dem Ende des Kalten Krieges den Anteil der Verteidigungsausgaben am Budget gesenkt und das Geld in angenehmere Verwendungen umgelenkt. Man verlässt sich darauf, dass die USA Europa im Fall eines Krieges schon verteidigen werden.

Die Zeitenwende hat direkte Folgen für unseren Wohlstand

Dieses Wirtschaftsmodell steht vor zwei Herausforderungen. Die erste existierte schon vor den aktuellen Krisen aufgrund der längerfristigen Veränderungen wie der Digitalisierung, des demografischen Wandels und der Klimaerwärmung. Zweitens hat der russische Angriff auf die Ukraine die ökonomischen Rahmenbedingungen verändert. Diese Zeitenwende hat direkte Folgen für den Wohlstand in Deutschland, aber auch für die Art und Weise, mit den genannten längerfristigen Veränderungen umzugehen.

Wie erfolgreich war Deutschland bislang darin, mit Digitalisierung, demografischem Wandel und Klimaerwärmung umzugehen? Im Bereich der Digitalisierung reichen die Herausforderungen von der Bereitstellung der richtigen Infrastruktur über die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung bis zur Gestaltung von Rahmenbedingungen für digitale Geschäftsmodelle und Datenmärkte. Entscheidend ist außerdem die Aus- und Weiterbildung der Erwerbsbevölkerung in digitalen Fähigkeiten. Folgt man international vergleichenden Studien und Rankings zur Digitalisierung, dann bewegt sich Deutschland insgesamt im Mittelfeld.

Schwächen bestehen bei der Digitalisierung des öffentlichen Sektors und des Gesundheitswesens sowie wegen mangelnder Offenheit für digitale Geschäftsmodelle. Man denke nur an die Widerstände gegen Unternehmen wie Uber, Airbnb oder Online-Apotheken. Hinzu kommt eine unglückliche europäische Datenschutzgesetzgebung, die Datennutzung eher behindert, statt sie sicherer zu machen. Es ist nicht überraschend, dass in den gut 50 Jahren seit der Gründung von SAP in Deutschland kein neues Digitalunternehmen von Weltrang entstanden ist.

Keine überzeugende Antwort auf den demografischen Wandel

Kaum überzeugender ist Deutschlands bisherige Antwort auf den demografischen Wandel. Eigentlich würden Reformen dringend gebraucht, die das Arbeiten fördern und die sozialen Sicherungssysteme, allen voran die Rentenversicherung, finanziell entlasten. Stattdessen hat die Politik in den letzten Jahren durch die Rente ab 63, die Mütterrente und großzügige Rentenerhöhungen dafür gesorgt, dass Menschen früher in den Ruhestand gehen und die finanziellen Lasten der Rentenversicherung zunehmen. Das Steuer- und Transfersystem begünstigt Teilzeitbeschäftigung statt Vollzeit.

Lediglich im Bereich der Zuwanderung hat es in den letzten Jahren Liberalisierungen gegeben, die es ausländischen Fachkräften erleichtern, einzuwandern. Seit 2010 lag die Nettozuwanderung nach Deutschland bei immerhin rund 500 000 Personen pro Jahr. Diese Migrationsbewegungen sind allerdings nicht allein das Ergebnis einer systematischen Anwerbung von Fachkräften. Zu einem erheblichen Anteil handelt es sich um Asylsuchende, die vor allem in den Flüchtlingswellen der Jahre 2014 bis 2016 nach Deutschland gekommen sind.

Dekarbonisierung erfordert tiefgreifende Veränderungen

Defizite weist Deutschland auch in der Klimapolitik auf. In den letzten drei Jahrzehnten hat Deutschland seine CO2-Emissionen gegenüber 1990 um rund 39 % gesenkt. Das wurde dadurch erleichtert, dass die Industrie der DDR einen extrem hohen CO2-Ausstoß hatte. Die Schließung dieser Industrie in den 1990er Jahren hat viel zum Abbau der Emissionen beigetragen. Die niedrig hängenden Früchte sind also bereits geerntet. Gemessen an den Minderungszielen für Treibhausgase, zu denen sich Deutschland verpflichtet hat, sind die erreichten 39 % aber zu wenig. Bis 2030 müssten weitere 26 Prozentpunkte dazukommen, bis zum Jahr 2045 sollen die CO2-Emissionen dann auf null fallen. Dass diese Ziele erreicht werden, erscheint heute unrealistisch.

In jedem Fall erfordert der weitere Weg der Dekarbonisierung tiefgreifende Veränderungen in wichtigen Sektoren der deutschen Wirtschaft. Ein Beispiel ist die Autoindustrie. Beim Wandel zur Elektromobilität, einem zentralen Baustein der Dekarbonisierung, war es nicht die deutsche Autoindustrie, sondern das US-Unternehmen Tesla, das die Entwicklungen antrieb. Mittlerweile haben sich deutsche Hersteller umgestellt und gezeigt, dass sie in der Welt der Elektromobilität eine wichtige Rolle spielen wollen. Dennoch haben vor allem viele Zulieferer, die sich auf Verbrennertechnologien spezialisiert haben, zumindest in Europa ein sterbendes Geschäftsmodell.

Fragezeichen stehen auch über der Zukunft anderer Industriesektoren. Das betrifft vor allem die energieintensiven Teile der Chemieindustrie. Ihre Abwanderung an Standorte mit günstigeren Energiekosten wie etwa die USA ist wohl nicht mehr aufzuhalten.

Die Elektrifizierung des Verkehrs, der Gebäudeheizungen und der industriellen Produktion erfordert einen massiven Ausbau der Stromproduktion und der Stromnetze. Derzeit produziert Deutschland aber 40 % seines Stroms aus Kernkraft und Kohle. Die Kernkraftwerke werden in diesem Frühling abgeschaltet, die Kohleverstromung soll bis 2030 enden. Damit bleiben 60 % der Stromerzeugungskapazität des Jahres 2022, gebraucht werden aber wegen der wachsenden Stromnachfrage deutlich mehr als 100 %. Die verbleibenden Kapazitäten müssen also innerhalb von sieben Jahren ungefähr verdoppelt werden. Bis 2045 muss der Ausbau darüber weit hinausgehen.

Ein beschleunigter Ausbau von Wind- und Sonnenenergie kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass wegen der gelegentlichen Dunkelflauten die gesamte Stromversorgung zumindest vorübergehend aus anderen Quellen als Wind und Sonne bereitgestellt werden muss. Entsprechend größer muss der Kapazitätsaufbau sein. In Zukunft soll neben Batteriespeichern vor allem der Einsatz von grünem Wasserstoff die Schwankungen bei Wind- und Sonnenenergie ausgleichen.

Ob das jemals im erforderlichen Umfang funktionieren wird, ist umstritten. Konsens besteht aber darüber, dass es viele Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern wird, die gesamte Energieversorgung der Volkswirtschaft darauf umzustellen. Um diese Zeit zu überbrücken, war bislang geplant, in großer Zahl Gaskraftwerke zu bauen, die später auf Wasserstoff umgerüstet werden können.

Die verstärkte Nutzung von Gas während des Ausbaus erneuerbarer Energien ist ein Beispiel für Pläne, die vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine überdacht werden müssen. Die Gasimporte aus Russland werden auf absehbare Zeit ausfallen. Ob das erforderliche Gas über den Weg von Flüssiggasimporten beschafft werden kann, ist unklar. Zumindest werden die Kosten erheblich steigen.

Außenhandel unter Druck

Folgen hat der Ukraine-Krieg auch für den Außenhandel. Die wachsenden geopolitischen Spannungen zwischen China und den USA setzen auch die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen unter Druck. Da das Risiko konfliktbedingter Handelsunterbrechungen steigt, werden viele Unternehmen andere Absatzmärkte erschließen und Bezugsquellen diversifizieren müssen, was zu höheren Kosten führt. Diese Friktionen werden dadurch verstärkt, dass die USA vermehrt Druck auf Deutschland ausüben werden, die Beziehungen zu China einzuschränken.

Nicht zuletzt verlangt die neue geopolitische Lage von Deutschland höhere Rüstungsausgaben. Wenn man davon ausgeht, dass zumindest das im Rahmen der Nato schon lange vor dem Ukraine-Krieg vereinbarte Ziel eines Rüstungsetats von 2 % des Bruttoinlandsprodukts erreicht werden soll, müssen rund 25 Mrd. Euro pro Jahr zusätzlich aufgebracht werden. In Kombination mit höheren öffentlichen Ausgaben für Klimaschutz ergeben sich erhebliche Lasten für die Staatshaushalte, die durch andere Faktoren wie den demografischen Wandel ohnehin unter Druck stehen.

Wie ist vor diesem Hintergrund die These zu bewerten, dass es wegen hoher Investitionen für die Dekarbonisierung der Wirtschaft zu einem zweiten Wirtschaftswunder kommen wird? Leider wird dieses Wunder ausbleiben wegen der vielfältigen Belastungen durch dauerhaft höhere Energiepreise und Außenhandelsfriktionen, wegen der Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung, aber noch aus einem fundamentaleren Grund. Wenn das Energiesystem mit hohen Investitionen so umgebaut wird, dass es das Gleiche leistet wie bisher, nur mit weniger CO2-Emissionen, wird das in erheblichem Umfang Ressourcen beanspruchen, die für die Produktion anderer Güter nicht mehr zur Verfügung stehen. Das wäre kein Problem, wenn es hinreichend viele freie Produktionskapazitäten gäbe, die diesen Umbau leisten könnten, ohne dass andere Aktivitäten wegfallen. Das ist angesichts der Arbeitskräfteknappheit jedoch nicht der Fall. Da die Investitionen außerdem nicht zusätzliche Produktionskapazitäten schaffen, sondern bestehende ersetzen, werden sie kaum zusätzliches Wachstumspotenzial schaffen. Das Wirtschaftswunder fällt also aus. Der Wohlstand, gemessen am Konsum von Gütern und Dienstleistungen, wird eher sinken.

Was die Wirtschaftspolitik leisten kann

Was kann die Wirtschaftspolitik in dieser Lage tun? Sie kann die Lasten der anstehenden Transformationen nicht aus der Welt schaffen, aber dazu beitragen, sie nicht größer werden zu lassen, als unvermeidlich ist. Reformen des Steuer- und Transfersystems, der Kinderbetreuung, des Rentenzugangsalters und der Einwanderungsgesetze können das Arbeitsangebot stärken. Mehr Digitalisierung kann Produktivität steigern und so die Arbeitskräfteknappheit lindern. Neue Handelsabkommen können helfen, Friktionen in den Beziehungen zu China auszugleichen.

Das Energieangebot in Deutschland könnte durch eigene Gasförderung und eine weitere Laufzeitverlängerung für die Kernkraftwerke verbessert werden. Im Bereich der Dekarbonisierung ist es dringend erforderlich, stärker als bisher auf den CO2-Preis als zentrales klimapolitisches Instrument zu setzen. Planwirtschaftliche Eingriffe wie Verbote von Verbrennungsmotoren oder Ölheizungen und Verpflichtungen zur energetischen Gebäudesanierung verteuern die Dekarbonisierung unnötig.

Der Ausbau der Energienetze hat höchste Priorität. Die Regulierung sollte den Aufbau einer Plattformökonomie im Energiebereich ermöglichen, in der alle Unternehmen und private Haushalte Konsumenten und Anbieter von Strom sind. Die industrielle Transformation sollte auf wettbewerblich vergebene Förderung von Forschung, Entwicklung und industriellen Innovationen setzen. Wenn Klimaschutzstandards eingeführt werden, sollte sich das prioritär auf Konsum und Verwendung von Gütern in Europa beziehen, damit der Wettbewerb zwischen Anbietern aus der EU und aus Drittländern nicht verzerrt wird.

Ein zweites Wirtschaftswunder wird die Politik nicht produzieren können, aber sie hat durchaus Möglichkeiten, dazu beizutragen, dass ein wirtschaftlicher Niedergang verhindert wird.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel „Wirtschaftsmodell Deutschland – Niedergang oder zweites Wirtschaftswunder?“, Handelsblatt, 17. März 2023