Die Faszination der Symmetrie oder Dopplereffekt

Zwillinge faszinieren. In der Menschheitsgeschichte spielte die Idee des Individuums im Doppelpack schon immer eine große Rolle. In manchen Kulturkreisen galten sie als göttliche Wesen, in anderen wurden sie verteufelt. So zeugt zum Beispiel die Geschichte von Castor und Pollux oder Romulus und Remus von der frühen Begeisterung der Menschen für das Phänomen. In der Antike allerdings hat man Zwillingspaare für eine Perversion der Natur gehalten, was dazu führte, dass eines der beiden Neugeborenen in der Regel getötet wurde, um die Natur zurück ins Gleichgewicht zu bringen und dem Menschen, der nur Differenz begreifen kann, sein Gefühl von Einzigartigkeit zu erhalten. Auch Schriftsteller haben sich der spannenden Frage von Gleichem und doch Gegensätzlichem gewidmet, die vielleicht bekanntesten Zwillinge in der Literatur sind die Schwestern in Erich Kästners Roman „Das doppelte Lottchen“.
Martin Schoeller, der 1968 in München geborene und in Frankfurt am Main aufgewachsene, in Deutschland allerdings noch recht unbekannte New York Bewohner, zählt in den USA zu den bekanntesten jungen Fotografen. Er hat sich dem Phänomen des „Dopplereffekts“ angenommen und 46 eineiige Zwillinge, zwei Drillinge und drei Vierlinge, differierend in Hautfarbe, Alter oder Geschlecht, vor seiner Linse platziert und in der ihm ganz eigenen Art abgelichtet. Close-up nennt er seine wohl reinste Form des Porträts – spektakuläre Nahaufnahmen, bei denen die Kameralinse genau auf Augenhöhe seines Gegenübers gebracht wird und weiches Neonlicht verwandt wird. Jede Falte, jede noch so kleine Sommersprosse oder Pore im Gesicht seines Gegenübers wird und bleibt auf seinen Aufnahmen sichtbar. Er fotografierte bereits zahlreiche Prominente wie Bill Clinton, Barack Obama, Angelia Jolie, Brad Pitt oder Eminem. Und nun nicht minder interessante, vielleicht sogar faszinierendere, augenscheinlich zwei (drei, vier) Versionen ein und derselben Persönlichkeit.
Der opulente Bildband von ausgezeichneter Qualität bildet jeweils auf einer Doppelseite (bei Drillings- und Vierlingspärchen sind die Seiten zum Ausklappen) Nahaufnahmen der „synchronen“ Geschwister ab, von denen eine unglaublich fesselnde Wirkung ausgeht. Scheinbar emotionslos und mit einem nahezu statischen, anscheinend nicht vorhandenen Ausdruck, schauen uns seine natürlichen „Klone der Natur“ direkt in die Augen, „wodurch der Betrachter ein Gesicht lesen muss, ohne den Vorteil umfeldbedingter Fingerzeige zu haben, die wir normalerweise für unsere zwischenmenschlichen Reaktionen benutzen.“, erklärt Schoeller. Ganz schnell wird dadurch sichtbar, dass die vermeintlich gleichen Versionen voneinander gänzlich unabhängig agieren und zuweilen recht deutliche Unterschiede vorhanden sind. Auch wenn diese Doppelgänger mit der gleichen genetischen Ausstattung ins Leben gestartet sind und sie sich zuweilen fast erschreckend ähnlich sehen, bewirken Umwelteinflüsse und Zufallsprozesse, dass sie doch nicht zu hundert Prozent identisch sind. Martin Schoeller zeigt uns, auch wenn man zunächst von Gleichheit und Symmetrie in der menschlichen Form ausgeht – als Einheit oder Erweiterung ihrer selbst -, völlig eigenständige Individuen, die sich im Extremfall sogar als konträr geschlechtlich herausstellen.
„Die räumliche Nähe dieser anscheinenden Gleichheit, identisch gerahmt und durch unser Bestreben unterstütz, Muster zu erkennen und hervorzubringen, gibt uns die Chance, mit Bedacht darüber nachzudenken, wie wir ein Gesicht anschauen – unvertraut, unvergesslich, verabscheut oder bewundert.“, stellt der deutsche Fotograf folgerichtig fest. Sein Wunsch, dass wir weniger schnell urteilen und dafür die zahllosen kleinen Assoziationen und feinen Unterschiede in Betracht ziehen sollten, aus denen jede dieser nonchalanten Einschätzungen besteht, geht nach dem Zuschlagen der letzten Seite dieses außergewöhnlichen, hochgradig emotionalen Buches, auch auf den Betrachter über und wirkt noch lange nach.

Martin Schoeller
Identical
Portraits of Twins
teNeues Verlag (September 2012)
96 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3832796649
ISBN-13: 978-3832796648
Preis: 49,90 EURO

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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