Die gute Kritik: Offene Feinde und ihre Gesellschaft gesucht

Dem Autor gelingt da etwas. Nietzsche äußert in einem Absatz, Offene Feinde, in der „Fröhlichen Wissenschaft“, Tapferkeit vor dem Feind … damit könne man „immer noch ein Feigling und ein unentschlossener Wirrkopf“ sein. Das ist generell der Schwachpunkt, scharf im Visier der Geheimdienste Aber natürlich ist nicht jeder tapfere Mensch insgeheim feige oder wirr, doch nimmt man sich gerade diese Leute in der Regel ganz besonders vor. Der Autor wurde besonders vorgenommen. Andere kippten um. Zu offen. Zu wirr. Verhörsysteme suchen geradezu ihre Geselllschaft.
Das Buch handelt auf 226 von hochexplosiven 295 Seiten vom DDR-Gefängnisleben eines Westagenten und von den Mitteln, die der DDR-Geheimdienst, die Stasi, in den frühen 1950igern anwendet, um diesen Schwachpunkt für sich nutzbar zu machen. Eine atemberaubende Gesellschaft ergeben die in ihren Kellerzellen vegetierenden Gefangen allemal: gefallene Funktionäre, höhere Ingenieure, aus West-Berlin entführte Bürger von strategischer Bedeutung.(ab S.138). Der Autor führt den Leser tief in diese Welt hinein. In den Zellen lagern die Gefangenen auf Strohsäcken. Aber eben kein Mittelalter, sondern frühe 1950iger.
Heute, fünfundzwanzig Jahre, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der DDR und der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit entbrennen überall Debatten um den eigentlichen Einfluss der Stasi. Nur treuer Diener der führenden Partei (SED)? Ist diese Frage nicht müßig? Fakt ist doch: der deutsche Teilstaat DDR hat seine eigenen höchst dramatische Konfliktgeschichte und die Bürger fühlen, dass es ihr Problem ist. Das tritt 1989 offen zu Tage. In den 1950igern in der DDR gibt das nur niemand so gerne zu. Man hält sich ziemlich bedeckt. Schließlich ist da ja noch was.
Werner Juretzko, der Autor, Oberschlesier, später Deutsch-Amerikaner, als Backfisch Hitlerjunge, Einsatz an einer irren Front am Ostwall, aber keine Verbrechen, wird gefangenen genommen, die Russen sagen: „der Krieg ist vorbei und nun beginnt der Frieden.“ (S. 17). Diesen Frieden bezahlt die Schwester mit dem Leben. Am Grab der Schwester, die ein Jahr nach der Vergewaltigung durch Rotarmisten stirbt, schwört er Rache. Er flieht über die „grüne Grenze“. Eine Lehre in Kassel. Seinen Anti-Kommunismus lässt er offen raus. Die politische Abteilung der Kriminalpolizei wird auf den Krakeeler aufmerksam und bittet zu Tisch. Der wartet im Lokal „Uhrtürmchen“. Die konspirative Konterbande-West nimmt Platz. Der Kriminologe stellt sich vor als „Dr. Brand“. In Wirklichkeit tragen die Brands jener Zeit in Ost wie West andere Namen. Die Aufgabe besteht darin, sich „in alle Aktivitäten der Kommunisten in den Betrieben der Henschel Lokomotiven- und Lastkraftwagenwerke einzumischen“. Gefordert sei Hingabe, Idealismus, Aufopferung. Kohle, Geld, gibt es keins (sic). Vor Augen die Flucht, die langen mühseligen Wanderungen, das Grab der Schwester, sagt der Autor zu. Doch hat er längst eine Freundin, Cherie, also lieber nein. Dann willigt Autor „nach langen Überlegungen“ doch ein. Cherie muss warten.
„Wir wählen die Freiheit!“ wird Adenauer am 3. Dezember 1952 vor dem Bundestag zur Unterzeichnung der Pariser Verträge (Westandbindung Westdeutschlands) ausrufen. Diese Freiheit gilt es zu verteidigen. Die Auftragserfüllung des Autors als geköderter V-Mann liegt bei hundert Prozent, linksradikale West-FDJ-Truppen aufzumischen. Dann kommen die Amerikaner ins Spiel. Beginn der Agententätigkeit: 1949. Das auszuspionierende Territorium liegt hinter dem Eisernen Vorhang. Also zurück in die sowjetische Besatzungszone, inzwischen die DDR..
Der Auftrag lautet Militärspionage. Es wird Pendler mit Ostarbeitsplatz, fotografiert Fluganlagen mit möglicher militärischer Nutzung und andere Anlagen, die einen geplanten Neubau von Flughäfen nahelegen. Als er 1955 erwischt wird, schreit ein Stasi-Mann „Du schwarzes Schwein! Ich werde dir deine Agentennase krumm schlagen!“ (S.91) In diesem Buch wird alles gnadenlos krumm geschlagen, was nach Tapferkeit riecht, und schließlich auch die Hoffnung. „Wer die DDR angreift, wird vernichtet“, lautete ein Spruchband an der Berliner Mauer.
Aber dieses Buch ist eben auch grandios geschrieben, so bleibt sie, die Hoffnung, als einzige zurück, wenn alle Höllengeister längst entflohen sind. Was der Autor erlebt, ist eine Reise von einem Gefängnis ins nächste, mit immer neuen Schikanen, immer wieder bekommt er eine neue Nummer verpasst. Die eingesperrten Feinde des Systems sollten keine Namen haben. Die einzige Alternative, nicht verrückt zu werden, bestand darin, einer Arbeitskolonne zugeteilt zu werden. Und am besten behauptete man immer das Gegenteil von dem, was einem fehlte.
Das System zielte darauf ab, seine Gegner bis zur Entmündigung zu bestrafen. Kein Mensch mehr, nur noch nutzbar. Die Gesellschaft in den Kellerzellen bildet eine Welt für sich. Die Vernehmer und die Wärter in den Stuben und in den Zellengängen bildet auch eine eigene Welt. Eine seltsame Welt, die wie süchtig nach offenen Feinden und ihrer Gesellschaft sucht. Dass der Autor, verurteilt zu vielen Jahren Haft, gerade durch diese Haftstrafe dem Fallbeil entkommt und am Ende wieder in der Freiheit leben wird, sei dennoch verraten.
Er verhielt sich geschickt, mit offenen Karten spielte er nie.

Werner Juretzko, Die Nacht begann am Morgen. Aufstieg und Fall eines westlichen Geheimagenten. Books on Demand, 300 Seiten, 19,90 Euro. ISBN: 978-3-8370-3943-6.
Erhältlich auch als E-Book für 15, 99 Euro.

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Über Axel Reitel 36 Artikel
Axel Reitel (*1961); 1982 Freikauf/Ausbürgerung; seit 1982 Hamburg, dann Westberlin; 1983 literarisches Debüt; 1985-1990 Studium (Kunstgeschichte/Philosophie); seit 1990 freischaffender Autor (u. a. Jugendstrafvollzug der DDR; Theorie vererbter Schuld); seit 2003 freier Mitarbeiter der ARD. Lebt in Berlin.

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