Eröffnet der Ukrainekrieg auch Chancen für die westliche Welt?

ukraine frieden solidarität vogel des friedens, Quelle: susan-lu4esm, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Unstrittig: ohne den Überfall Russlands auf die Ukraine ging es den Menschen auf der ganzen Welt besser. Aber in jedem Unheil, also auch hier, stecken sicher auch Chancen, die es zu entdecken und zu nutzen gilt:

 – Europäische Chancen

Die auf Dauer abträgliche Sonderrolle der sog. Visegrad-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei ist durch den russophilen Sonderweg von Orban-Ungarn praktisch beendet. Polen fühlt sich heute näher bei Deutschland als bei seinem Visegrad-Partner Ungarn.

Die globale Bedeutung und Präsenz der EU hat auch in der engen Partnerschaft mit den USA deutlich zugenommen. Die notwendige Zusammenarbeit innerhalb der EU mit den selbstbewussten und historisch gewachsenen Nationalstaaten bleibt zwar schwierig, aber das Bewusstsein, dass wir Europäer inzwischen eine europäische Schicksalsgemeinschaft sind, ist eben auch historisch schnell gewachsen. Die Notwendigkeit einer engen europäischen Zusammenarbeit wird nach der „Ukraine-Erfahrung“ praktisch von niemandem mehr bestritten.

Die durch den russischen Angriff entstandene faktische „Waffenbrüderschaft“ der westlichen Welt führte auch zu einer „Normalisierung“ der deutschen Diskussion über die Bedeutung militärischen Schutzes und damit zu einer völlig veränderten Haltung gegenüber der vorher zum Schattendasein verurteilten Bundeswehr. Unzweifelhaft hat dabei auch die NATO durch die Aufnahme von Schweden und Finnland eine kraftvolle Frischzellenkur bekommen.

Globalstrategisch entscheidend ist nun, dass ähnlich wie beim Untergang der Sowjetunion sich der erwartbare Niedergang des derzeitigen Regimes in Russland nicht mit einem Knall, sondern mit einem von allen verkraftbaren Ächzen vollzieht.

– Technisch-wirtschaftliche Chancen

Durch den entstandenen Energiemangel sind natürlich alle technischen Weiterentwicklungen regenerativer Energien und autonomer Selbstversorgungen dramatisch wichtig geworden und werden mit einem ganz anderen „Drive“ angegangen.

Gleichzeitig werden die offenbar in den letzten Jahren entstandenen Übertreibungen wie Abschaltung aller Atomkraftwerke und Kohlekraftwerke und ganz schnelle Aufgabe aller Verbrennungsmotoren einer heilsamen Machbarkeitsprobe unterworfen. Plötzlich hat die technische Vernunft wieder eine Chance gegenüber ideologischer Verbohrtheit.

– Gesellschaftliche, soziale und Resilienz-Chancen

Die historische Erfahrung lehrt, dass Staaten und Nationen durch die Bewältigung von Herausforderungen stärker und resilienter werden. Die heute von den Bürgern geforderte Anstrengung zur Bewältigung der Herausforderung Ukraine kann und sollte auch neue Ideen und Kräfte hervorbringen. Eine neue Bereitschaft zur Zusammenarbeit und gegenseitiger Unterstützung könnte heranwachsen. All dies kann den sozialen Zusammenhalt und die Resilienz der Gesellschaft insgesamt fördern.

Natürlich können die erwähnten Chancen und Möglichkeiten nicht darüber hinwegtäuschen, dass der russische Angriffskrieg furchtbare und tragische Konsequenzen für viele Menschen insbesondere in der Ukraine hat. Aber wenn das Unheil schon nicht kurzfristig beendet werden kann, dürfen wir nicht zulassen, dass allein dessen zerstörerische Kräfte das Feld bestimmen.

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Über Ingo Friedrich 59 Artikel
Dr. Ingo Friedrich war von 1979-2009 Abgeordneter des Europäischen Parlaments, von 1992 bis 1999 Vorsitzender der CSU-Europagruppe im Europäischen Parlament. Seit 1996 ist er Schatzmeister der Europäischen Volkspartei (EVP), seit 2001 Präsident der Europäischen Bewegung Bayern, seit 2009 Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats. Von 1999-2007 war Friedrich einer der 14 gewählten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments. 2004 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz. Friedrich ist Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments und seit 2015 Präsident der Wilhelm Löhe Hochschule.