Falsche Morgenröte des Nationalismus

In vielen Berichten unserer Massenmedien aus Kiew, vom Majdan, ist bei Moderatoren, Reportern, Gutachtern, bezüglich der ‚Anderen’ ein – wie soll man sagen? – Wahrnehmungsabusus zu beobachten, den wir sonst vor allem bei Army-Journalisten wegen ihres ‚embedded-status’ erwarten konnten. – Von der Gewalt dieses Umsturzes in Kiew wird mit einer seit dem sog. ‚arabischen Frühling’ eingeschliffenen Stereotype berichtet: ‚Ein-Diktator-schlachtet-sein-Volk … Dass hierbei aber gerade, exemplarisch in Lybien und Syrien, doch augenfällig von allem Anfang an eine ‚Gewaltphysik’ zu Tragen kommt, die in einem Bürger-(Stammes-, Konfessions- oder Nationalitäten-)Krieg ihre alltäglich Verkehrsform findet, wird mit jeweiliger Zielpropaganda des Einen (‚westlichen’) Blicks überblendet. Westlicherseits will man immer Freiheitsimpulse dort im Gemetzel spüren wollen, wo doch bloß die ältesten ‚bewährten’ Wir-gegen-sie, oder ‚Gläubig’-vs.- ‚Ungläubig’-Codes zum Tragen kommen. – So auch jetzt: Anstatt ein Gefühl für Motive und Anlässe der dort in Kiew an der Auseinandersetzung Beteiligten zu bekommen, die man beispielsweise aus deren Großen – natürlich gegensätzlichen – Erzählungen entnehmen könnte (die sich in Neuen Denkmalen, Ehrenpensionen, Neuen Schulbüchern manifestiert), kolportiert man im Boulevardstil immer bloß den (natürlich wirklichen!) empirischen Alltagsfrust in einer rechtsstaatsfreien korrupten Gemeinschaft mit einem Kleinkriminellen als Staatsoberhaupt. Aber subkutan wäre hier einerseitsauf ein (seit Ende des Ersten Weltkriegs) enttäuschtes Nationalverständnis (im alten Galizien) aufmerksam zu machen, das sich mit einer russisch-imperialen (gar panslawischen) Idee in einem auch allzu häufig düpierten, ehemals Weltmachtstaat tragisch verwickelt sieht. – Wo man zuhause (in Kreuzberg) die Gewaltchoreographien des sog. ‚Schwarzen Blocks’ am Ersten Mai als nicht hinnehmbaren momentanen Rechts- und Kommunikationszusammenbruch bewertet, wird diesselbe Rabulistik der radikalen Kräfte auf dem Majdan dort abgetan als Randproblem der Racker vom rechten Sektor.
Wie sich hier ein eliminatorischer Nationalismus (gegen Polen in den zwanziger/dreißiger/vierziger Jahren, gegen Juden und Sowjets in den Vierziger/Fünfzigern) erneut gegen den ‚Nationalstolz der Grossrussen’ (von Lenin 1922 schon kritisiert!) zur Geltung bringen will, wird von seinen Gründen her in den deutschen Medien völlig unterschätzt (es sei denn, ein veritabler Russlandkenner wie Jörg Baberowski, wird mal zur Runde eingeladen).
Im Ganzen wäre zu bedenken: hier, im Leben ‚an der Grenze’, so die ursprüngliche Bedeutung des Namens Ukraine, muß man eben auch Grenzen (und: Überschreitungen!) zu deuten und zu beachten wissen, wenn man sie zu übertreten wagen will …

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Über Dietzsch Steffen 16 Artikel
Steffen Dietzsch ist Professor für Philosophie und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin. Er ist Direktor des Kondylis-Instituts für Kulturanalyse und Alterationsforschung (Kondiaf). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Kantforschung und -biographik, Philosophie des Deutschen Idealismus und europäische Nietzsche-Rezeption. Zuletzt erschien: "Wandel der Welt, Gedankenexperimente", Heidelberg 2010.

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