Glanz und Untergang des Gilles de Rais

Der schwarze Ritter

Nantes. Bild von edmondlafoto auf Pixabay.

An jenem Tag im September 1440 schien es den Menschen in der Bretagne, als wäre das Ende der Welt gekommen. Ihr Herr, der sagenhaft reiche, prunkliebende und für seine Extravaganzen bekannte Baron Gilles de Rais, Herr von Retz, wurde verhaftet und wegen Hexerei, Kirchenschändung und den Ritualmorden an Kindern angeklagt.

Heute ist die Residenz des Baron de Rais – das einst so prächtige Schloß von Tiffauges – nur noch eine verlassene Ruine. Zerfallene Türme erheben sich aus dem dunklen Wasser der Burggräben, zerbrochene Pfeiler und Mauerreste künden von der einstigen Existenz einer großen Burgkpelle. Hier sangen einmal 30 reichgekleidete Chorknaben, Kapläne und Musiker das Lob des Herrn zu den Klängen einer Orgel, die der Baron de Rais selbst auf Reisen mitzuführen pflegte.

In den Sälen seiner Burg hielt Gilles de Rais offene Tafel – erlesenste Speisen und Weine wurden den Gästen in reicher Auswahl kredenzt. Die Gewölbe hallten wider vom Klang der Becher, von Musik und dem Treiben der Gaukler, die Mysterienspiele vor dem Baron aufführten, wie sonst nur in den Städten beim Einzug der Könige.

Als Gilles de Rais kein Geld mehr hatte, verkaufte er seine Ländereien, versuchte Gold zu machen und rief schließlich den Leibhaftigen zu Hilfe, um dem drohenden finanziellen Ruin zu entgehen. Ihm verschrieb er alles außer seinem Leben und seiner Seele, brachte Opfer dar und veranstaltete Gelage.

Wer war dieser Mann, der im Alter von nur 36 Jahren den Scheiterhaufen besteigen mußte?

Ein Kinderschänder und Mörder, den seine gerechte Strafe ereilte – oder aber das Opfer einer heimtückischen Verschwörung?

Gilles de Rais wurde im Jahr 1404 an der Grenze der Bretagne und des Anjou im Schloß Machecoul geboren. Über seine Kindheit ist so gut wie nichts bekannt. Sein Vater starb bereits im Jahr 1415 und kurz darauf heiratete seine Mutter zum zweiten Mal. Sie überließ Gilles und seinen jüngeren Bruder Renè de Rais ihrem Schicksal. Er wurde der Vormundschaft seines Großvaters Jean de Craon, des Herrn von Champtocè und La Suze unterstellt. Dem alternden Haudegen war jedoch eher an der Mehrung des Familienvermögens als an der Erziehung des jungen Gilles gelegen. Jean de Craon arrangierte die schnelle Hochzeit Gilles de Rais mit Catharina von Thouar. Am 30. November 1420 wurde der Sechzehnjährige verheiratet und Jean de Craon hatte sich des Mündels auf elegante Art entledigt.

Fünf Jahre später weilte Gilles de Rais am Hofe des Dauphin in Chinon. Welche Rolle er dort spielte, ist nicht im Einzelnen überliefert, doch gewiß brachte der schon zu dieser Zeit sagenhaft reiche Gilles – Erbe der größten Baronie der Bretagne – dem ewig bankrotten Karl VII. die lang ersehnte finanzielle Hilfe. Der Dauphin war in diesen Tagen am Ende seiner Kraft, ohne Geld und Autorität – die Lage Frankreichs konnte nur verzweifelt genannt werden. Der Krieg gegen England – er sollte als der „Hundertjährige“ in die Geschichte eingehen – hatte das Land ausgeblutet, die Pest und andere Seuchen wüteten in Frankreich. Die ausgeplünderten Städte und die toten Felder gaben nichts mehr her.

Im unsicheren Schutz der Loire erstickten Karl VII. und sein Hofstaat die Angst vor dem drohenden Zusammenbruch in Trunkenheit und Schwelgerei. Gilles de Rais – der „Schwarze Ritter“, so nach seiner stets dunklen Kleidung genannt – hatte auf eigene Kosten Truppen ausgehoben. Auch er veranstaltete Bankette und lieh dem Dauphin ansehnliche Summen, um dessen aufwendige Hofhaltung zu finanzieren.

Doch Gilles de Rais erschöpfte sich nicht in kleinlichen Intrigen und Ausschweifungen wie seine Standesgenossen. In Anjou und bei le Maine führte er seine Truppen meisterhaft gegen die englischen Heere, deren Übermacht ihn schließlich erdrückte und zum Rückzug zwang. Nun schien es niemanden mehr zu geben, der den Feind noch aufzuhalten vermochte. Die Engländer überschwemmten das Land.

Schon dachte der Dauphin daran, sich noch weiter in den Süden zurückzuziehen und sein Stammland preiszugeben. Das Schicksal Frankreichs hing an einem hauchdünnen Faden.

In diesem schicksalhaften Augenblick erschien Jeanne d’Arc am Hof in Chinon und verkündete, von Gott erwählt zu sein, um Frankreich aus den Händen seiner Feinde zu erretten. Es mag noch heute wie ein Wunder erscheinen, doch dieses Bauernmädchen gab einem zaudernden König wieder Mut und einte den zerstrittenen Hofstaat zum Widerstand gegen die Engländer.

Gilles de Rais war es, dem der König auftrug, die Jungfrau zu bewachen und zu geleiten. Er folgte ihr überall hin, stand ihr in zahlreichen Schlachten zur Seite – selbst unter den Mauern von Paris, als der Sieg schon so nahe schien und nur durch das übervorsichtige, diplomatische Taktieren Karls VII. zunichte gemacht wurde.

In Reims am Krönungstag des Dauphin stand er neben Jeanne d’Arc am Altar und wurde vom König – seiner Tapferkeit wegen – im Alter von 25 Jahren zum Marschall von Frankreich ernannt.

Über sein persönliches Verhältnis zu Jeanne d’Arc finden sich nur spärliche Zeitzeugnisse. So vermeldet lediglich Abbe Broussard, daß Gilles de Rais Jeannes ergebener und wachsamer Beschützer war. Diese Einschätzung erscheint mehr als zutreffend bei einem Mann wie Gilles de Rais, dessen Seele mit mystischen Vorstellungen gesättigt war und in dessen Person die Eigenschaften der Tempelritter – zugleich Soldat und Mönch zu sein – fortlebten.

Doch auch er konnte nicht verhindern, daß die „Jungfrau von Orleans“ bei ihrer unbedachten Attacke gegen die zahlenmäßig und technisch weit überlegenen Streitkräfte des Jean de Luxembourg vor Compiegne eine Niederlage erlitt und in Gefangenschaft geriet.

Doch als man Jeanne d’Arc in Rouen dem Inquisitionstribunal überantwortete, da war auch Gilles de Rais in der Nähe. Auf eigene Faust hatte er Söldner angeworben, um Jeanne d’Arc im Handstreich zu befreien. Doch ein Befehl des zögerlichen Karls VII. hinderte ihn.

Ebenso vergeblich waren seine Bemühungen, durch Aufwendungen aus seinem privaten Vermögen mit einem stattlichen Lösegeld die Gefangene freizukaufen. Die Engländer ignorierten das Angebot des Marschalls von Frankreich. Sie wollten nur eines – Jeanne d’Arc’s Tod.

Nach ihrem Tod zog sich Gilles de Rais – dem ewigen Taktieren und all der Hofintrigen längst überdrüssig – mehr und mehr aus dem politischen und militärischen Alltagsgeschehen zurück.

Er suchte die Einsamkeit auf seinem Schloß in Tiffauges und zugleich neue Herausforderungen in der Kunst und Wissenschaft.

In seiner Zeit war ein Mann wie Gilles de Rais recht einsam. Während die meisten seiner Standesgenossen ihre Zeit mit Fehden, Jagd und endlosen Zechgelagen zubrachten, widmete er sich philosophischen und alchimistischen Schriften, und verfaßte selbst ein Werk über die Kunst, Geister zu beschwören.

Auch seine reichbestückte Bibliothek war einzigartig in dieser Zeit. Neben Manuskripten von Sueton, Valerius Maximus und Ovid gehörten dazu die Standardwerke über die Alchemie und Astrologie, verfaßt von Nicholas Flamel, Albertus Magnus, Arnaud de Villeneuve und Raymond Lulle.

Der Baron de Rais sammelte darüber hinaus mit wahrer Leidenschaft Möbel, Gemälde und seltene Kleinodien des Morgen- und Abendlandes. Dann widmete sich auf seinem einsamen Landsitz den verbotenen Studien der hermetischen Wissenschaften. Sein Trachten galt der Erlangung des „Steins der Weisen“, so berichtet die Überlieferung.

All diese Forschungen verschlangen ungeheure Summen, doch sie kosteten nur einen Bruchteil dessen, was Gilles de Rais für seine Hofhaltung ausgab.

Eine Leibwache von 200 prächtig ausgerüsteten Rittern stand ihm zur Verfügung und die Stiftskirche von Tiffauges konnte sich in ihrer Prachtentfaltung mit jedem Bischofssitz des mittelalterlichen Europa messen.

Darüber hinaus pflegte Baron de Rais stets eine offene Tafel zu halten, so daß aus ganz Europa Künstler, Dichter und Gelehrte an seinen Hof strömten, wo sie reiche Willkommensgaben, eine gesicherte Existenz und ebenso reiche Abschiedsgeschenke zu erwarten hatten.

Die Vermögenslage des Herrn von Tiffauges war schon durch die Aderlässe des Krieges schwer erschüttert. Unter den weiteren unmäßigen Ausgaben geriet sie endgültig ins Wanken.

Doch für Baron de Rais gab es kein Zurück. Für seine Wissenschaften – die Alchemie und die Astrologie – gab er alles auf, verpfändete seine Schlösser, Landsitze und Burgen, belieh den Kirchschmuck und sogar seine geliebte Bibliothek. Das „Große Werk“ der Alchimisten – in der materielle Welt die Transformation unedler Metalle in Gold, auf der spirituellen Ebene hingegen die Erlangung gottgleichen Wissens und ewiger Jugend – mußte ihm gelingen.

Sein ungeheures Vermögen zerschmolz in weniger als acht Jahren, ohne daß es Gilles de Rais sonderlich zu bekümmern schien – fast so, als ahnte er schon, wie wenig Zeit ihm eigentlich blieb.

Seine Familie versuchte, der Verschwendung des Vermögens Einhalt zu gebieten und erwirkte vom König einen Erlaß, der es dem Marschall von Frankreich bei Strafe verbot, seine Ländereien und Festungen zu beleihen, zu verpfänden oder zu veräußern.

Diese wohlmeinende Verordnung beschleunigte letztlich nur noch den Ruin des Entmündigten. Johann V., Herzog der Bretagne und an Geschäftstüchtigkeit sogar den Fuggern überlegen, weigerte sich, in seinen Ländern das Verdikt des Königs zu verkünden. Gerüchteweise ließ jedoch die Kanzlei des Herzogs den wahren Sachverhalt zu all jenen durchsickern, die mit Gilles de Rais in geschäftlichen Beziehungen standen. Nun wagte niemand mehr, des Marschalls Güter zu kaufen oder zu beleihen, aus der berechtigten Angst heraus, sich den Zorn des Herzogs der Bretagne oder sogar des Königs zuzuziehen. Als einziger Käufer verblieb Herzog Johann V., der nun den Preis bestimmte. Die Güter des Baron de Rais wechselten für ein Butterbrot den Besitzer.

Gilles de Rais reagierte mit kalter Konsequenz. Er trennte sich von Frau und Tochter – die in seinen Augen für diese Situation verantwortlich waren – hatten sie doch des Königs Eingreifen verlangt – und verbannte sie auf den weit entlegenen Landsitz von Pouzauges. Er verzieh seinen Angehörigen nicht, daß sie ihn der Krämerseele Johann V. ausgeliefert hatten.

Doch all dies waren für Gilles de Rais nicht mehr als lästige Tagesgeschäfte – viel mehr sorgte er sich um das Voranschreiten des „Großen Werkes“. Einen Flügel des Schlosses von Tiffauges hatte er zu einem riesigen Laboratorium umbauen lassen. Hier rauchte der Athanor, der Schmelzofen der Alchimisten, wurden in Retorten alle möglichen – und sicherlich auch unmöglichen – Rezepturen versucht, um die Bereitung des „Steins der Weisen“ zu erreichen. Die berühmtesten Alchimisten und Hermetiker Frankreichs weilten als Gäste und hochbezahlte Forscher auf dem Schloß des Baron de Rais. Doch nichts gelang – die französischen Spezialisten der Alchemie waren mit ihrem Latein recht bald am Ende. Viele von ihnen waren einfach der Versuchung eines bequemen Lebens im Schloß von Tiffauges erlegen, nicht ahnend, daß Baron de Rais in der Tat außergewöhnliche Leistungen von ihnen verlangte.

Als alle Versuche fehlschlugen, beschritt Gilles de Rais einen anderen Weg, der ihn schließlich ins Verderben stürzen sollte. Der Baron von Tiffauges versuchte sich in Schwarzer Magie. Mit den Adepten der Dunklen Kunst wie dem Magier Jean de la Riviere oder dem Scharlatan du Mesnil versuchte Gilles de Rais, sich der Hilfe Satans bei seinen Experimenten zu versichern. Obwohl einige durchaus außergewöhnliche Erlebnisse die nächtlichen Beschwörungen begleiteten, blieb der große Durchbruch aus. Offenbar waren die Mächte der Finsternis nicht so einfach bereit, dem Baron de Rais das Geheimnis des Ewigen Lebens zu verkaufen.

Bedrängt von immer akuter werdenden finanziellen Nöten und in der Hoffnung, der „Stein der Weisen“ möge ihm ein unbegrenztes materielles Vermögen schaffen, wandte sich Gilles de Rais schließlich an den Meister der Florentiner Magie, den Dämonenbeschwörer Francesco Prelati, der nur zu gern bereit war, dem Ruf des spendablen Adligen zu folgen.

Diesem Mann sollte Gilles de Rais unrettbar verfallen. Mit ihm gemeinsam forschte er wie besessen, bereitete alchemistische Mixturen, beschwor Geister, Dämonen, ja den Teufel selbst, doch nichts von all dem brachte ihn dem Geheimnis des „Steins der Weisen“ näher.

Zur gleichen Zeit, so berichten die Überlieferungen, verschwanden im Gebiet der Baronie de Rais Kinder und Jugendliche unter seltsamen Umständen.

Schon bald kamen Gerüchte auf, der dunkle Ritter und sein dämonischer Geisterbeschwörer veranstalteten Schwarze Messen, auf denen die Kinder dem Fürsten der Finsternis geopfert würden. Die ausschweifende Lebensweise des Baron de Rais war bekannt und es gibt durchaus Grund zu der Annahme, daß er auch pädophilen Neigungen nachgab.

Doch mußte der Marschall von Frankreich, der in Machecoul aus eigenen Mitteln eine Kirche zu Ehren der „Unschuldigen Kinder von Jerusalem“ errichten ließ, deswegen gleich ein Kindesmörder sein?

Die kirchlichen Autoritäten, allen voran der ebenso gebildete wie rücksichtslose Bischof von Nantes, Jean de Malestroit, waren offenbar dieser Auffassung.

Malestroit gehörte einem uralten Adelsgeschlecht an, und war ein naher Verwandter des Herzogs der Bretagne, Johannes V., der seinerseits nur allzu ungeduldig darauf wartete, endlich alle Besitzungen des Baron de Rais zum Nulltarif übernehmen zu können.

Der Bischof von Nantes begann bereits im Jahr 1439, geheime Untersuchungen gegen den Marschall von Frankreich anzustellen, dessen Lebenswandel und Forschungen ihm ganz offensichtlich eine Bedrohung der Lehren der ecclesia catholica darzustellen schienen.

Eine unbedachte Aktion des Barons de Rais lieferte ihm schließlich einen Vorwand, gegen den unbequemen Marschall ganz offiziell vorzugehen.

Gilles de Rais – finanziell durch seine aufwendigen Forschungen ärger denn je in der Klemme – verkaufte schweren Herzens nun auch die Gutsherrschaft Saint-Etienne de Mer Morte an Guillaume de Ferron, einen Strohmann des Herzogs Johannes V. der Bretagne. Guillaume de Ferron, dessen eigene Vermögensverhältnisse durchaus nicht zum besten standen, beauftragte wohlweislich seinen Bruder Jean mit der Übernahme des neu erworbenen Besitzes.

Guillaume de Ferron hatte nämlich nicht vor, den vereinbarten Kaufpreis zu bezahlen – es wäre ihm übrigens aus eigenem Vermögen auch gar nicht möglich gewesen.

Gilles de Rais wartete vergeblich auf die Übergabe der dringend benötigten finanziellen Mittel. Als auch Nachfragen in Saint-Etienne de Mer Morte und bei Herzog Johann V. selbst nichts fruchteten, beschloß der Marschall, sich den Familienbesitz zurückzuholen – und sei es mit Gewalt. An der Spitze von 200 Mann seiner Hausmacht rückte er am Pfingstsonntag in Saint-Etienne de Mer Morte ein, ließ die Kirche stürmen und drohte, Jean de Ferron eigenhändig hinzurichten, wenn der seinen Verpflichtungen nicht endlich nachkomme.

Als die Schloßbesatzung begriff, daß Gilles de Rais gewillt war, seine Ankündigung wahr zu machen, übergab sie schleunigst den Platz seinem rechtmäßigen Herrn.

Jean de Ferron ließ der Marschall von Frankreich nach Tiffauges bringen und dort vorsorglich in den Kerker werfen.

Nun war Gilles de Rais zwar wieder im Besitz der Herrschaft von Saint-Etienne, doch formal hatte er den Landfrieden der Bretagne verletzt, denn dieser verbot es jedem Adligen, ohne Genehmigung des Herzogs Truppen auszuheben und einzusetzen.

Ferner hatte sich der Baron de Rais auch einer doppelten Kirchenschändung schuldig gemacht, da er die Kapelle durch bewaffnetes Eindringen entweihte und sich Jean de Ferrons bemächtigte, der geweihter Geistlicher war.

Zu jener Zeit sahen die ecclesia catholica und ihre geldgierigen Repräsentanten noch über ganz andere Verbrechen hinweg, wenn es sich am Ende für sie lohnte. Doch in diesem Fall lohnte es offenbar mehr, dem „Recht Genüge zu tun“ – ganz so, wie die infame Intrige es von Anbeginn an vorgesehen hatte.

Die Sbirren des Bischofs hatten Jean de Malestroit längst über die Aktion Gilles de Rais informiert und der Bischof säumte nicht, seinen Verwandten, den Herzog Johann V. von der Bretagne, ganz formell zu ersuchen, endlich mit Nachdruck gegen den aufrührerischen, teufelsanbetenden Herrn von Tiffauges vorzugehen und ihn gefangen z unehmen, auf daß er seiner „gerechten Strafe“ zugeführt werde.

Das Heer des Bischofs griff auch folgerichtig nur wenige Tage später Saint-Etienne de Mer Mortes an, daß sich erwartungsgemäß gegen die Übermacht nicht lange halten konnte. Eine zweite Heeresabteilung belagerte indessen das Schloß von Tiffauges, wo man Gilles de Rais vermutete. Die genaue Abstimmung und Effizienz dieser Schläge gegen den Marschall von Frankreich zeugen von einer gründlich vorbereiteten Aktion. Eine lange und mit großer Sorgfalt aufgebaute Falle schnappte jetzt zu.

Doch noch einmal war Gilles de Rais den Häschern entkommen und hatte sich mit wenigen Getreuen in die stark befestigte Burg Machecoul zurückziehen können.

Indessen durchstreiften die Sbirren des Bischofs die Dörfer der Baronie von Rais, erfragten, erkauften, erpreßten Aussagen und Beschuldigungen. Ein Monat genügte ihnen, um die Anschuldigungen gegen den Marschall von Frankreich fertig zu stellen. Dann veröffentlichte Bischof Jean de Malestroit das „Infamatio“ Gilles und erließ nach Ausschöpfung des kanonischen Verfahrens Haftbefehl gegen den Baron de Rais.

Der Waffenmeister Jean Labbè und der Notar Robin Guillaumet fanden sich daraufhin mit einer kleinen Eskorte von Bewaffneten am 20. September vor dem Schloß Machecoul ein, um den Marschall von Frankreich zu verhaften.

Das Unglaublich geschah – Gilles de Rais gab sich ohne Gegenwehr in die Hände seiner Feinde. Glaubte er, seine Unschuld beweisen zu können oder war er des Lebens, so wie er es in den letzten Jahren geführt hatte und all der vergeblichen Suche müde?

An seine Gefolgsleute hatte der Marschall jedoch gedacht – Roger de Briqueville und Gilles de Sillè – seinen Ratgebern – war die Flucht ermöglicht worden. Auch Francesco Prelati sollte nicht in den Untergang des Baron de Rais hineingerissen werden, doch der Magier wurde bei seinem Fluchtversuch gefaßt und mit seinem Herrn in das Gefängnis Tour Neuve in Nantes überstellt.

Bald darauf begann der Prozeß. Eigentlich existierten zwei Gerichtshöfe, wie im Inquisitionsverfahren üblich – ein kirchliches Gericht, daß über jene Taten des Marschalls befinden sollte, die in den Bereich des kanonischen Rechts fielen und ein bürgerliches Gericht, daß über den Vorwurf des Kindesmordes befinden sollte.

Das weltliche Gericht trat – wie es in Prozessen gegen Ketzer und Hexen durchaus üblich war, vollkommen hinter dem kirchlichen Gerichtshof zurück und schloß sich lediglich im Ergebnis dessen Urteil an.

Den Vorsitz der nun folgenden Verhandlungen leiteten Bischof Jean de Malestroit und der Inquisitor von Nantes – Johannes Blouyn, ein Dominikaner. Das Amt des Fiskals – dem des Staatsanwaltes vergleichbar – übte der Geistliche Wilhelm Chapeiron aus, ein Mann, den sogar kirchliche Chronisten als „redegewandt und verschlagen“ einschätzten.

Gilles de Rais wurde vorgeführt und mit den Anklagen konfrontiert, die im wesentlichen auf Hexerei, Kirchenschändung und Ritualmord lauteten. Der Marschall von Frankreich weigerte sich, die Zuständigkeit dieses Gerichtshofes für seinen Fall überhaupt anzuerkennen. Dieser Einspruch wurde jedoch durch den Fiskal mit der Begründung verworfen, „daß durch dieses Mittel die Bestrafung der Hexerei nicht aufgehalten werde“ – mit anderen Worten, auch wenn der Gerichtshof unzuständig sein sollte, der Ketzer und Hexer hatte verurteilt und verbrannt zu werden, weil das durch den Gerichtshof nun einmal von vornherein so beschlossen war.

Sowohl bei diesen Vernehmungen hinter verschlossenen Türen als auch bei den folgenden öffentlichen Verhandlungen wies Gilles de Rais jede Schuld von sich.

Die aufrechte und mutige Haltung des Baron reizte die kirchlichen Richter zum Äußersten. Sie verhängten den Bann – die gefürchtetste geistliche Waffe – wider den Herrn von Tiffauges und ordneten die Folter an.

Ob Gilles de Rais wirklich gefoltert worden ist, läßt sich mit letzter Sicherheit nicht sagen, bei seinem unglücklichen Gefährten Prelati und den übrigen Angeklagten des Prozeses war dies aber mit Sicherheit der Fall. Doch als dann der 21. Oktober 1440, der Tag des eigentlichen Prozesses nahte und der Marschall von Frankreich vor dem Tribunal erschien, da „war er entstellt, abgezehrt, um zwanzig Jahre gealtert“ – was von einigen Interpreten des Geschehens fromm als die Auswirkung eines schuldigen Gewissens gedeutet wird. Mir erscheint dies eher als die Auswirkung einer „peinlichen Befragung“, in deren Verlauf der Marschall sicher alle nur denkbaren Grausamkeiten gestanden hatte, deren er sich nun auch öffentlich bezichtigte.

Er gestand Morde an unzähligen Kindern, bekannte sich des Umganges mit dämonischen Mächten und höllischen Geistern schuldig. Zur Begründung führte der Baron aus, daß all diese Untaten der Befriedigung seiner Gelüste gedient hätten.

„Ich sage Euch, daß es andere Gründe nicht gegeben hat. Genügt, was ich Euch erzählt habe, nicht schon, um 10.000 Männer hinzurichten?“

Das Ungeheuer hatte gestanden. Die Schuld des Schwarzen Ritters schien erwiesen. Die allverzeihende ecclesia catholica nahm natürlich den reuigen Sünder wieder unter ihre Schäflein auf, bevor sie ihn der weltlichen Justiz überantwortete.

Der Inquisitionsprozeß hatte nahezu einen Monat gedauert. Das weltliche Gericht unter dem Vorsitz des Herzogs von der Bretagne entschied binnen 48 Stunden, sich dem kirchlichen Urteil anzuschließen. Gilles de Rais, und die übrigen Angeklagten wurden dem Scheiterhaufen überantwortet, mit Ausnahme von Francesco Prelati, den lebenslanger Kerker erwartete.

Bevor der Marschall von Frankreich zur Richtstatt schritt, nahm er Abschied von seinem Alchimisten und tröstete Francesco Prelati voller Zuversicht:

„Lebt wohl, Francesco, mein Freund. Nie werden wir uns in dieser Welt wiedersehen. Ich bete zu Gott, daß er Euch die rechte Geduld und Erkenntnis gebe, und seid gewiß, wenn Ihr die rechte Geduld habt und auf Gott hofft, werden wir uns in der Seligkeit des Paradieses wiedersehen.“

Spricht so ein Schuldiger?

Wenn denn aber der Marschall von Frankreich all diese Scheußlichkeiten, die man ihm zur Last legte, gar nicht begangen hatte, warum bekannte er sich dann schuldig?

Die angedeutete Möglichkeit, daß er es unter der Folter tat, ist eine Variante. Es gibt jedoch noch eine andere, recht plausible Erklärung für das Verhalten des Gilles de Rais.

Sobald er sich in der Gewalt seiner Feinde befand, erkannte der Marschall, daß er das abgekartete Spiel verloren hatte und für ihn keinerlei Hoffnung mehr bestand, sein Leben zu retten.

So mag in dieser Situation die Sorge des Barons dem Schicksal seiner Angehörigen gegolten haben. Stritt er die Taten ab und wurde dennoch für schuldig befunden, so würden alle verbliebenen Vermögenswerte des rückfälligen Ketzers und Hexers konfisziert. Starb er hingegen als reuiger Sünder, so sah das Gesetz die Möglichkeit vor, daß zumindest ein Teil des Vermögens auf seine Kinder überging.

So sehr der Baron seiner Familie wohl auch wegen der erwirkten Entmündigung gegrollt hatte, so sehr wünschte er auch, nach seiner Hinrichtung die Seinen nicht dem Elend preiszugeben.

Gilles de Rais bekannte sich schuldig. Die Schlösser Tiffauges, Machecoul und Saint-Etienne de Mer Mortes fielen dadurch zwar an Herzog Johann V. von der Bretagne, den großen Nutznießer dieser schmutzigen Intrige. Das übrige Vermögen jedoch verblieb den Kindern des Barons, so wie er es gewollt hatte.

Gilles de Rais starb im Alter von nur 36 Jahren am Ende einer kurzen, kometenhaften Laufbahn, die ihn zu den höchsten Höhen des Ruhmes und in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele führte. Als der Soldat, Wissenschaftler, Künstler, Sammler und Lebemann den Scheiterhaufen in Nantes bestieg, fürchtete er den Tod nicht mehr.

Auf seinem Weg, den er der Alchemie, der königlichen Wissenschaft, weihte, hatte der Marschall von Frankreich die geistigen Welten in all ihrer Pracht erfahren – auf dem Schlachtfeld und in den Intrigen am Hof seines Königs Karl VII. die Welt der Menschen in all ihrem Elend erlebt.

Als Gilles de Rais starb, gab es für ihn nichts mehr auf dieser Erde zu versuchen, nichts mehr zu erfahren. Nach seinem Tod in den Flammen des Scheiterhaufens wurde er mit einem feierlichen Leichenbegängnis bei den Karmelitern in Nantes begraben – doch als „Ritter Blaubart“ wird der Marschall von Frankreich in der Legende ewig leben.

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Verwendete Literatur

Bataille, Georges Gilles de Rais, Merlin Verlag, Gifkendorf, 2000

Cordier, Jaques Jeanne d’Arc, Bechtermünz Verlag, Augsburg, 1996

Huysmanns, Joris-Karl Magie im Poitou, belleville, München, 1996

Rupert, Furneaux Mörder oder Opfer? In Unglaublich aber wahr, Verlag Das Beste, Stuttgart Zürich Wien 1989

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Über Thomas Ritter 110 Artikel
Thomas Ritter, 1968 in Freital geboren, ist Autor und freier Mitarbeiter verschiedener grenzwissenschaftlicher und historischer Magazine. Thomas Ritter hat zahlreiche Bücher und Anthologien veröffentlicht. Außerdem veranstaltet er seit mehr als zwanzig Jahren Reisen auf den Spuren unserer Vorfahren zu rätselhaften Orten sowie zu den Mysterien unserer Zeit. Mit seiner Firma „Thomas Ritter Reiseservice“ hat er sich auf Kleingruppenreisen in Asien, dem Orient, Europa und Mittelamerika spezialisiert. Mehr Informationen auf: https://www.thomas-ritter-reisen.de Nach einer Ausbildung zum Stahlwerker im Edelstahlwerk Freital, der Erlangung der Hochschulreife und abgeleistetem Wehrdienst, studierte er Rechtswissenschaften und Geschichte an der TU Dresden von 1991 bis 1998. Seit 1990 unternimmt Thomas Ritter Studienreisen auf den Spuren früher Kulturen durch Europa und Asien.