Hegel, Schleiermacher und Schopenhauer und das Legitimationsproblem der Philosophiegeschichte

Das hier zu besprechende, hoch interessante Buch des Autors wurde im Jahre 2003 als Habilitationsschrift an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der TU Berlin angenommen. Der Verfasser versucht darin die unterschiedlichen Platonbilder wichtiger Philosophen des 19. Jahrhunderts darzustellen. Da dieses Thema ebenfalls sehr eng mit dem deutschen Idealismus verbunden ist spannt das Buch einen sehr weiten Rahmen. Einerseits beschäftigt sich der Autor mit den Vertretern des deutschen Idealismus wie unter anderem Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher und Schopenhauer, andererseits versucht er deren Platonbilder anhand der Leitbegriffe “Interpretation” und “Transformation” systematisch zu reflektieren. Diese beiden Begriffe scheinen sehr geeignet zu sein, um die unterschiedlichen Platonrezeptionen dieser Philosophen von dem Charakter einer “bloßen” Philosophiegeschichte zu befreien. Christoph Asmuth erörtert das Legitimationsproblem der Philosophiegeschichte auf einer sehr überzeugenden Art und Weise, indem er das zu bearbeitende Material systematisch reflektiert und die Ergebnisse effektiv dafür nutzt die eigene Position zu untermauern. (und die Ergebnisse effektiv in einer kohärenten Theorie zusammenfasst.)
Nach unserem Autor seien die beiden Wissenschaftsdisziplinen systematische Philosophie und Geschichte der Philosophie untrennbar miteinander verbunden, so dass sie zu einem Gefüge zusammengefasst werden müssen. Diese These versucht Asmuth anhand der Platonrezeptionen der oben genannten fünf Philosophen des 19. Jahrhunderts unter Beweis zu stellen.
Die Annahme, dass zwischen der systematischen Philosophie und der Geschichte der Philosophie eine Spannung herrsche, scheint ein in der wissenschaftlichen Welt weit verbreitetes Phänomen zu sein, das in der vorliegenden Habilitationsarbeit sehr umfassend und überzeugend dargestellt wird.[1] Das Ziel dieser Arbeit lag darin, die vermeintliche Spannung zwischen den oben genannten Wissenschaftszweigen durch eine Studie über das Platonbild im deutschen Idealismus endgültig aufzuheben. Der Autor selbst sagt dazu folgendes: „In gewisser Hinsicht ist dies das Thema des vorliegenden Buches: Es vertritt die Auffassung, dass es unmöglich ist, den historischen Bestand der Philosophie von der Systematik zu trennen. Es argumentiert für die Relevanz der Philosophiegeschichte im Hinblick auf die Philosophie. Es will die Situation analysieren und einen Vorschlag unterbreiten, wie das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte selbst philosophisch gedacht werden kann.“ (S. 11). Dazu gehören nicht nur die Darstellung eines philosophischen Themas im historischen Kontext, sondern auch dessen interpretierende und transformierende Aspekte, die „Teil einer genetischen Rekonstruktion tatsächlicher, d.h. konkreter und systematische Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte“ (S.13) gewesen sind.
Der Autor bezeichnet seine Studie nicht als eine Rezeptionsgeschichte, sondern vielmehr als eine theoretische Aufarbeitung der „Aneignung“[2] des fremden intellektuellen Gedankenguts:„Es wird darum gehen, zu beschreiben, wie ein anderes theoretisches und historisches Umfeld zu einer Neubewertung der Platonischen Texte führt. Es wird darum zu tun sein, die Bedingungen aufzuweisen, unter denen das ursprünglich fremde Material in eine neue Gedankenkonstellation eindringt und letztlich eine Transformation erfährt. Dadurch wird die Vorstellung unterwandert, es handle sich bei historischen Verstehensprozessen – im allgemeinen Sinne – um Vorgänge, die mit einem realistischen Schema von Ursache und Wirkung und nach dem Modus historischer Ereignisse zu erklären seien, etwa derart, dass die Lektüre Platons einen bestimmten Niederschlag in den Werken eines Autors, eine gewisse Veränderung seines Denkens hervorgerufen habe.“ (S. 16) Genau an dieser Stelle sehen wir den Versuch des Autors die historische Darstellung in das Systematische umzuwandeln, das er anhand der Analyse der einzelnen Autoren analytisch aufzeigt.
Nach der Darstellung der verschiedenen Platonbilder gibt Asmuth am Ende seiner Studie zwei Diskussionswege an: Einerseits setzt er sich mit der Problematik der Philosophie undihrer Geschichte auseinander, anderseits debattiert er die Möglichkeit einer Interpretation und Transformation der historisch-philosophischen Kenntnisse in ein systematisches Philosophieren. Sein Ziel ist nicht die Darstellung „einer Rezeptionsgeschichte des antiken Denkens“, sondern vielmehr die Entwicklung eines grundlegenden Verhältnisses von Philosophie und Philosophiegeschichte“, welches er nach dem Umtausch von „Deutung und Verwandlung des Platonischen Denkens“ (S. 272), das er als ein Beispiel zu diesem Verhältnis herausliest.
Im vorletzten Abschnitt wird die Philosophiegeschichte problematisiert: „Es besteht der Verdacht, die Philosophiegeschichte sei – ganz oder teilweise – irrelevant.“ (S. 274) Dieser Verdacht wird mit der Zeit in einen Konsensus umgewandelt, „dass die Philosophiegeschichte ein substantieller Bestandteil der Philosophie ist und dies auch bleiben sollte.“ (S. 279) Nachdem er die grundlegenden Positionen in Bezug auf die Relevanz oder Irrelevanz der Philosophiegeschichte in der Philosophie vorgestellt hat, beschäftigt er sich mit den Grundlagen dieser Standpunkte. Nach seiner Besprechung wird der Gültigkeitsbereich von dem „Neuen“ noch überzeugender als dem „Alten“ aus. Diese Illusion lehnt Asmuth ab, da er die Philosophiegeschichte als „ein lebendiger Speicher des vergangenen Denkens“ annimmt. (S. 313).
Nach diesem Urteil wird im letzten Abschnitt des Buches über die verschiedenen Modi der Interpretation und Transformation diskutiert.[3] Demnach suggeriert der Autor für beide Phänomene vier verschiedene Modi, wodurch Interpretation und Transformation des philosophischen Gegenstandes ermöglicht wird. Zur Interpretation gehören die Funktionen der Darstellung, Prüfung, Einordnung und Bewertung, wohingegen die Projizierung, Dekontextuierung, Implementierung und Identifizierung zur Transformation gehören. Asmuth versucht in diesem Abschnitt die Relevanz seiner Studie für die einzelnen Verstehensebenen reflektierend zu erklären.
Für ihn endet dieser Prozess mit der Identifizierung, die die Transformationsprozedur mit der vollen Ausprägung zum Ende bringt. Daher verschwindet der fremde Charakter des philosophischen Gegenstandes der transformierten Kenntnisse. Daraus bildet sich eigenes philosophisches Denken. Das eigene Denken bringt den Verstehensprozess, der aus der Identitäts- und Differenzbildung stammt, hervor: „Im Nachdenken der Gedanken setze ich mein Denken an die Stelle der ursprünglichen, über das ich nachdenke. Das gelingt allerdings nur, wenn sich das ursprüngliche Denken durch die vitalisierende Kraft des eigenen Denkens fassen lässt. Es ist die quecksilbrige Essenz des Denkens, die in die Poren des Textes, sei es auch eines gänzlich fremden, eindringt, ihn aufschließt und die toten Gedanken in lebendiges Philosophieren verwandelt. Da diesem Denken das Prüfen und Selbstprüfen eingeschrieben ist, wird es sich bewusst sein, dass es das Fremde in seiner Fremdheit auffasst, es selbst dadurch verwandelt und sich aneignet. Es wird sich bewusst sein, wenn es die Grenze überschreitet und das Fremde als Eigenes fasst. Das ist der Schritt, der die Interpretation zur Transformation werden lässt. Während das Fremde, Andere, Unverstandene, Unzugängliche für die Interpretation eine Grenze bleibt, die sich im Auslegungsgeschehen als dynamisch erweisen kann, so besteht die Transformation darin, dass das Fremde im Eigenen aufgeht. Dies geschieht nie restlos, dass es – für einen Dritten – wie ein Einschluß erkennbar bleibt. Es ist noch zu identifizieren, man kann es namhaft machen, aber es ist Teil eines neuen, eines anderen Denkens.“ (S. 346)
Das Denken, das durch Interpretation und Transformation die fremden Erkenntnisse zum Eigentum umwandeln lässt, fängt in dem Moment wieder einen neuen zyklischen Prozess an, um das Nachgedachte zu einem verstandenen Gegenstand umformen zu können: Interpretation – Transformation.


[1]Eine umfangreiche Diskussion über dieses Thema ist im folgendem Buch zu sehen: Philosophy in History: Essays on the historiography of philosophy, ed. by Richard Rorty, J. B. Schneewind and Quentin Skinner. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1993. Einige Aufsätze sind direkt relevant zu dem Thema: Charles Taylor, „Philosophy and its history“, S. 17-30; Alasdair Macintyre, “The relationship of philosophy to its past”, S. 31-48; Richard Rorty, “The historiography of philosophy: four genres”, S. 49-78; Lorenz Krüger, “Why do we study of history of philosophy?”, S. 77-102; Wolf Lepenies, “ ‘Interesting questions’ in the history of philosophy and elsewhere”, S. 141-172. Einige andere Werke sind erwähnenswert: Lutz Geldsetzer, Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert: Zur Wissenschaftstheorie der Philosophiegeschichtsschreibung und –betrachtung, Meisenheim am Glan: Anton Hain Verlag, 1968; Wolfgang Wieland, „Über den Grund des Interesses der Philosophie an ihrer Geschichte“, S. 9-30; Wolfgang Röd, „Fortschritt und Rückschritt in der Philosphiehistorie“, S. 31-43; Hans Michael Baumgartner, „Anspruch und Einlösbarkeit: Geschichtstheoretische Bemerkungen zur Idee einer adäquaten Philosophiegeschichte“, S. 44-61, diese drei Aufsätze sind im folgenden Buch erschienen: Veritas filia temporis? Philosophiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte: Festschrift für Rainer Specht zum 65. Geburtstag, hrsg. von Rolf W. Puster, Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1995. Für die neuere Literatur zu diesem Thema, siehe: Pirmin Stekeler-Weithofer, Philosophiegeschichte, Berlin: Walter de Gruyter, 2006.

[2]In englischer Sprache wird dieser Begriff mit dem Konzept „appropriation“ übersetzt. Eine Forschungsgruppe unter dem Namen STEP (Science and Technology in the European Periphery) ist gegründet. Siehe: www.uoa.gr/step. Diese Gruppe beabsichtigt das Eindringen der neuen intellektuellen und wissenschaftlichen Ideen nach der wissenschaftlichen Revolution in Europäische Peripherie zu forschen. Ihres Erachtens nach waren die Kulturen, die diese neuen Ideen rezipieren, keine passiven Elemente in dieser Beziehung, sondern sie eignen sich diese neuen Ideen nach ihren lokalen, traditionellen und existierenden Kulturen an. Kostas Gavroglu hat viele Beiträge über die Aneignung der wissenschaftlichen Ideen in griechisch gesprochenen Territorien geschrieben. Siehe für die List seiner Werke: http://www.iono.noa.gr/hellinomnimon/gavroglu_pub.htm. Einige seiner Aufsätze über dieses Thema sind zu erwähnen: mit D. Dialetis, „Appropriating the new scientific ideas in the Greek speaking regions during the 17th and 18th Centuries”, Die Griechen und Europa – Auβen und Innensichten im Wandel der Zeit, H. Heppner – O. Katsiardi-Hering (Editors), Wien: Böhlau, 1998, S. 69-102; mit D. Dialetis und M. Patiniotis, „The Sciences in the Greek Speaking Regions During the 17th and 18th Centuries: The process of appropriation and the dynamics of reception and resistance”, ARCHIMEDES, Bd. 2, 1997;The transmission to and the assimilation of scientific ideas in the Greek speaking world 1700-1900: The case of chemistry”The Making of the Chemist, The Social History of Chemistry in Europe 1789-1914, edited by D.Knight, H.Kragh, Cambridge: Cambridge University Press, 1998, S. 289-304.
[3]Ein anderes Werk in der Ästhetik in diesem Thema ist 2007 erschienen: Michael Krausz, Interpretation and transformation: explorations in art and the self, Amsterdam [u.a.], Rodopi, 2007.
Hegel, Schleiermacher und Schopenhauer und das Legitimationsproblem der Philosophiegeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006. ISBN: 3-525-30152-9

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