In einer dunkelblauen Stunde. Der neue Roman von Peter Stamm

Lausbergs Buchtipp

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Peter Stamm:  In einer dunkelblauen Stunde. Roman, S. Fischer, Frankfurt/Main 2022, ISBN: 978-3-10-397128-6, 24 EURO (D) 

Rechtzeitig zu seinem 60. Geburtstag erscheint der neue Roman von Peter Stamm. Der Schriftsteller Richard Wechsler, hier Stamms Alter Ego, arbeitet gerade an einem Roman. Dabei wird er von einem Filmteam begleitet, wo besonders die Nachwuchsfilmemacherin Andrea und ihr Freund, der Kameramann Tom, die Hauptprotagonisten sind. Der geplante Film wird zuerst an Wechslers Wohnort Paris gedreht. Danach geht es weiter in sein Heimatdorf in der Schweiz. Während der Dreharbeiten und für den Film versuchen Andrea und Tom, mehr Privates über den eigenwilligen Schriftsteller herauszukriegen. Für sie bleibt er ein Mysterium. Tom und Andrea beginnen jedes Gespräch mit Wechsler zu deuten und zu interpretieren. Dies führt schon dazu, dass sie die bisherigen Werke des Autors nach Hinweisen auf sein Leben durchforsten und Situationen weiter imaginieren. Dies zeigt sich besonders bei der Ich-Erzählerin Andrea:  Die fehlenden Fakten zum Verständnis Wechslers Persönlichkeit interpretiert sie Stellen in seinen Roman, lässt ihrer Phantasie freien Lauf oder spinnt Geschichten daraus, die immer mit einem dicken Konjunktiv versehen sind.  Das Verschwimmen der einzelnen Ebenen und das Wechselspiel zwischen Imagination und Konkretem wird in vielen Sequenzen sichtbar gemacht.

Trotz Termins erscheint Wechsler nicht zum vereinbarten Ort und Zeitpunkt. Um die Zeit gewinnbringend zu nutzen, machen sich die beiden auf, um im Ort frühere Freunde und Bekannte des Autors zu finden und nach seiner Vergangenheit zu befragen. Dort lernt Andrea die frühere Liebe Wechslers kennen und erfährt so einiges über ihn und ihre Beziehung. Selbst als der Film abgebrochen werden muss, geht die Suche zum Mysterium Wechsler weiter, teils aus Neugier, teils aus neu gewonnener Freundschaft zu Wechslers früherer Beziehung.

Hintergrund des Romans ist die Auseinandersetzung mit dem boomenden Genre der autofiktionalen Erzählung, die auch stilprägend für deutsche Bestseller ist. Wie zum Beispiel Oskar Roehler: Der Mangel. Roman, Ullstein, Berlin 2020, ISBN: 978-3-550-20038-0, wo der Autor ausgehend von seiner eigenen Kindheit  fiktional die Geschichte der Lebensumstände in den 1960er Jahren in Westdeutschland erzählt. Oder Michael Brandner. Kerl aus Koks. Roman, List, Berlin 2022, ISBN: 978-3-471-36045-3: In diesem Roman mit autobiografischen Elementen geht es um den Lebensweg des kleinen Paul bis zu seiner nicht geplanten Passion als Schauspieler.  Die Frage, die sich durchgängig stellt, ob die jeweiligen Szenen nun autobiografisch sind oder rein fiktional.

Stamm kritisiert durch sein Alter Ego das Genre, wo immer die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion verschwimmen. Stimmen eigene Angaben oder sind es nur Halbwahrheiten oder gar Lügen, um seine eigene Legende zu stricken? Lassen sich aus dem Werk eines Autors Rückschlüsse über ihn selbst ziehen?

Spannungskurven hat der Roman meist nur, wenn es um das Geheimnis oder die vermuteten Geheimnisse, die Wechsler umgeben. Die Charakterdarstellungen sind durchschnittlich, auch Stamms Alter Ago Wechsler. Der Roman lebt von der durchgängigen Kritik an der autofiktionalen Erzählweise, indem er die Leser*innen mit essentiellen Fragen wie Identität, Macht über andere und über die eigene Erinnerung und Rezeption und das Verschwimmen von Realität und Fiktion und die Folgen davon. Es zeigt sich, dass Stamm sehr gut mit Sprache und Vorstellungskraft spielen kann.

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Über Michael Lausberg 545 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.