Kann man im Universum der Konsum-Gulags der expansiven Moderne Sinn kaufen?

Stellen Sie sich selbst einmal im Tempus Futur 2 vor. Futur 2? Da war doch etwas vor langer Zeit, werden Sie sich jetzt grübelnd fragen und versuchen, verschüttetes Schulwissen mühsam an die Oberfläche zu holen. Diese sehr selten benutzte Zeitform der deutschen Grammatik, deren Bildung zudem gar nicht so einfach ist, spielt im Buch von Harald Welzer eine nicht unwesentliche Rolle. Denn die vollendete Zukunft, wie sie auch noch genannt wird, verändert beim Imaginieren Wertigkeiten. „Vieles von dem, was im einfachen Futur als unbequem und lästig erscheint, wird im Futur 2 plötzlich interessant und attraktiv.“, ist sich der Direktor von FUTURZWEI., der Stiftung Zukunftsfähigkeit in Berlin, sicher. „Wer werde ich gewesen sein?“ ist ein typischer Satz in dieser Zeitform. Bereits wenn man diese Frage ausgesprochen hat, fängt man an zu überlegen, wie man gut gewesen sein wird. Vielleicht rekonstruiert man auch den Weg, den man zurückgelegt haben muss, um dorthin gelangt zu sein. Das nennt man neudeutsch dann übrigens „backcasting“ (die Altmodischen unter uns dürfen auch „vorerinnern“ dazu sagen). Nun fragen Sie sich sicher, wozu das Ganze? Doch in dem – und das darf vorab verraten werden – großartigen Buch des Sozialpsychologen spielt gerade dieses „Futur-zwei-Denken“ eine nicht unerhebliche Rolle. „Jeder Entwurf, jeder Plan, jede Projektion, jedes Modell enthält einen Vorgriff auf einen Zustand, der in der Zukunft vergangen sein wird. Und genau aus diesem Vorentwurf eines künftigen Zustands speisen sich Motive und Energien – aus dem Wunsch, einen anderen Zustand zu erreichen als den gegebenen.“ Und genau das möchte Harald Welzer beim Leser seiner „Anleitung zum Widerstand“ erreichen. Denn unsere derzeitige expansive Moderne steuert geradewegs in eine Sackgasse hinein und die „Landkarte der nachhaltigen Moderne lässt sich nicht durch den Satellitenblick von Google-Earth abbilden, sondern muss durch tastende Schritte in eine andere Praxis sukzessive ergangen werden.“ Die derzeitige Politik jedenfalls, mit ihrem Übergang in einen restaurativen Illusionismus, der kein Projekt mehr kennt, das über sich selbst hinausweist, ist verhängnisvoll. „Handlungsfähig wäre sie nur, wenn sie noch etwas zu gestalten vorhätte, aber dafür müsste sie eine Vorstellung von einer wünschbaren Zukunft haben. Eine wünschbare Vergangenheit reicht nicht.“, so der Autor.
Welzers Buch offenbart einen auf hohem Niveau geschriebenen, lohnenswert anstrengenden, hochintelligenten, informativen und zum Nachdenken anregenden Inhalt, der unzweifelhaft ein Verweis auf das kantische Programm des „Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ beinhaltet. Der Text des 1958 Geborenen hat zweifelsohne das Zeug, unseren Tunnelblick zu therapieren und die dicht gewebte mediale Benutzeroberfläche, die unser tägliches Tun und Handeln steuert, so zu durchbrechen, dass wir das zweifelsohne auf breiter Basis abhanden gekommene Unterscheidungsvermögen wiedergewinnen. Sein Werk zeigt auf wie man „in diesem geheimnislosen Universum jederzeitiger Bedürfnisbefriedigung wieder Autonomie und Zukunft entdecken kann. Wie man nicht immer schon angekommen ist, sondern sich auf den Weg macht. Wie nicht schon alles fix und fertig ist, sondern gefunden werden muss. Wie man nicht mehr Produkt ist, sondern Gestalter. Mit einem Wort: wenn man eine Geschichte über sich zu erzählen beginnt, in der man vorkommt.“ Der Autor weist auf Notausgänge, schmale Ritzen, Löcher und Durchblicke hin, die sich letztendlich zu Ausgängen erweitern und ausbauen lassen. Seine Utopie des 21. Jahrhunderts hat dabei keineswegs etwas mit Ökodiktatur zu tun, sondern er plädiert dafür, dass sie den Weg der Expansion verlässt, um den Pfad der Reduktion zu beschreiten: „nicht Effizienz, sondern Achtsamkeit, nicht Schnelligkeit, sondern Genauigkeit, nicht Weitermachen, sondern Innehalten“. Oder kurz und knapp: Zivilisierung durch weniger.

Fazit: „Selbst denken“ entpuppt sich als wertvolle Anregung zur Erlangung eines intellektuellen aufgerüsteten Durchblicks, als Wegweiser zur Emanzipation von der Unterschiedslosigkeit alles Verfügbaren sowie als tiefgreifende und exzellente „Anleitung zum Widerstand“: „Widerstand gegen die physische Zerstörung der künftigen Überlebensgrundlagen, gegen den Extraktivismus, Widerstand aber auch gegen die Okkupation des Sozialen. Widerstand gegen die freiwillige Hingabe der Freiheit. Wiederstand gegen die Dummheit. Widerstand gegen die Verführbarkeit seiner selbst, leichthin zu sagen: 'Ist ja egal, es kommt doch auf mich nicht an.'“ Ein ausgezeichnetes Buch, das man zunächst einmal gelesen haben sollte, um hernach seine eigene Bedürfnisbefriedigung kritisch zu hinterfragen, und letztendlich seine Handlungsmaxime (vielleicht sogar radikal) umzustellen. Sprich: Widerstand gegen sich selbst und „gegen die Scheinattraktivität des weiteren Aufenthalts in der Komfortzone.“ Denn eines ist Fakt: „Das gute Leben gibt es nicht umsonst“ und Werte „verändern nicht die Praxis, es ist eine veränderte Praxis, die Werte verändert.“

Harald Welzer
Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand
S. Fischer Verlag (März 2013)
329 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100894359
ISBN-13: 978-3100894359
Preis: 19,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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